Neue Team-Einheit

Im Juli zieht „Zeit Online“ in einen neuen Newsroom, in dem dann Redaktion und Techniker zusammensitzen. Was ist das Ziel dieses Umzugs?

Wolfgang Blau: Unser bisheriger Newsroom in Berlin ist zu klein geworden. Der Umzug in den neuen, sehr viel größeren Newsroom erlaubt uns jetzt, weitere Kollegen von Hamburg nach Berlin zu holen, die Social-Media-Redakteurin und den Community-Redakteur am Newsdesk zu platzieren und die räumliche Trennung von Technik und Redaktion aufzulösen. Viele unserer erfolgreichsten Projekte entstehen ja nicht in Innovations-Jours-Fixes, sondern aus informellen Gesprächen im Newsroom, der Kantine, bei Zigarrettenpausen oder über einer Tasse Kaffee. Im neuen Newsroom werden einige Programmierer deshalb in unmittelbarer Nähe von Entwicklungsredaktion, Grafik, Politik-Ressort und Newsdesk sitzen. Damit ermöglichen wir viel mehr informellen Austausch. Um die unangenehmen Nebeneffekte eines Großraumbüros zu mildern, haben wir im neuen Newsroom auch mehr Ruhezellen, in die man sich bei Bedarf zurückziehen kann.

Wie wird die Arbeit im neuen Newsroom aussehen? Werden Redakteure, Programmierer und Designer Themen-Teams bilden?

Projekt-Teams bilden wir auch jetzt schon. Meine Hoffnung ist aber, dass die Grenzen zwischen den Professionen noch durchlässiger werden; dass beispielsweise ein Techniker eines Tages sagt: „Ich würde gerne mal einen Text über dieses Thema schreiben, es hat diese datenjournalistische Komponente und ich benötige dafür Unterstützung von Kollegin X und Kollege Y.“ Dieser Tag wird kommen.

Ziel der Präsenz von Technikern und Entwicklungsredakteuren mitten im Newsroom ist auch, dass die Techniker die nötige Wertschätzung erhalten. So, wie wir in früheren Jahren dafür gesorgt haben, dass Grafiker oder Videoredakteure nicht mehr nur als Dienstleister der Redaktion gesehen werden – so ist es uns nun wichtig, das Verständnis für unsere Techniker zu vertiefen.

Wer ist da Ihr Vorbild?

An diesem Punkt der „Guardian“. Aber auch die „New York Times“ ist in ihrem Verständnis davon, was Online-Journalismus ausmacht, bereits sehr weit. Die Datenvisualisierungs-Projekte der „New York Times“ haben dort sehr geholfen, die Neugier auf die Skills der jeweils anderen Teams im Haus zu erhöhen.

Sie haben jüngst Entwicklungsredakteure für „Zeit Online“ gesucht. Was genau wird deren Aufgabe sein?

Unsere Entwicklungsredakteure planen technisch orientierte Projekte vom kleinen Twitter-Widget bis zum komplexen Tablet-Relaunch. Sie betreiben technische Konkurrenzbeobachtung, beraten die Chefredaktion und kümmern sich auch um die Erfassung der täglichen Reparaturen. Wenn wir zum Beispiel mit dem Verlag entscheiden, eine neue HTML5-Site für Tablets zu entwickeln, dann recherchiert der Entwicklungsredakteur, welche Umsetzungsmöglichkeiten es gäbe und entwickelt im Dialog mit der Technik das Konzept. Während der späteren Umsetzung steht er in ständigem Kontakt mit der Technik und übernimmt bei manchen Projekten auch das Projektmanagement sowie die redaktionelle Abnahme nach Fertigstellung.

War es schwierig, geeignete Leute zu finden?

Ja. Aber wir machen es uns auch nicht leicht. Weil Entwickler für uns so wichtig sind und wir auch nie genügend Entwicklerstellen zur Verfügung haben, investieren wir sehr viel Zeit in die Suche nach den richtigen Personen. Wir erwarten von ihnen ein eher seltenes Skill-Set: Sie brauchen eine sehr gute technische Allgemeinbildung. Das müssen keine Programmierer sein, aber es ist von Vorteil. Neben exzellenten HTML-Kenntnissen müssen sie in der Lage sein, in diversen Programmiersprachen Codes zu lesen, wenn auch nicht selbst zu schreiben. Gleichermaßen wichtig sind auch ihre kommunikativen Fähigkeiten, denn Entwicklungsredakteure sind Schnittstellen: Sie müssen mit Technik, Dienstleistern und Redakteuren kommunizieren, sie müssen unsere Wünsche verstehen und Schnaps-Ideen aussortieren können, und das noch in einer Weise, die dazu motiviert, ihnen auch die nächste Schnaps-Idee wieder begeistert zu erzählen.

Viele Journalisten haben Technik gegenüber eine gewisse Abneigung. Was müssen ein Online- und ein Entwicklungsredakteur können?

Redakteure, die sich bei uns bewerben, müssen erst einmal gutes, klassisches Handwerkszeug mitbringen. Darüber hinaus müssen sie im Umgang mit den gängigen Social-Media-Tools versiert sein. Dass Redakteure auch einfache Video- und Audioclips aufnehmen, ist ohnehin eine Selbstverständlichkeit. Technische Basis dafür ist bei uns inzwischen das iPhone, mit dem die Kollegen ja auch privat filmen. Ab hier beginnt dann die Individualisierung. Natürlich bevorzugen wir Kandidaten, die zumindest die Grundlagen von HTML kennen, weil es ihnen im Alltag hilft. Wir verlangen aber nicht, dass sie coden können. Neugier auf Technik und das Verständnis, dass Technik ein Verbündeter des Journalismus sein kann, sind uns bei Redakteuren wichtiger als Coding-Skills.

Was verstehen Sie denn unter „coden“?

Coden – oder Programmieren – ist schon für die Mehrheit der Bevölkerung eine alltägliche Kulturtechnik. Mein Technik-Kollege Ron Drongowski sagte kürzlich: „Du codest die ganze Zeit, ohne es zu merken. Wenn du beispielsweise einen Youtube-Clip twittern willst, der erst bei Minute 3:30 starten soll, dann codest du bereits. Zwar durchaus primitiv, trotzdem ist die von Youtube um einen Time-Marker erweiterte URL, die du dann twitterst, ein funktionierendes Stückchen Code.“ Wirklich programmieren zu können ist trotzdem etwas, das je nach Programmiersprache viele Jahre benötigt. Wichtig ist uns die grundsätzliche Bereitschaft eines Redakteurs, das Coden als Bestandteil seines journalistischen Baukastens, als Recherchemittel zu sehen und nicht nur als Vertriebswerkzeug wie einst die Druckerei.

Wenn Sie die Wahl hätten zwischen zwei 30-jährigen Bewerbern. Der eine hat einen „Wächterpreis“ für eine Wirtschaftsrecherche gewonnen. Und der andere hat nach seinem Journalismusstudium erst mal als Freelancer Websites und Apps in einer Agentur programmiert – bisher aber eher wenig journalistische Erfahrung. Wen nehmen Sie?

Wenn ich bei der „Wächterpreis“-Kandidatin erkenne, dass sie gegenüber Code eine offene Einstellung hat und dass sie über Social Media nicht die Nase rümpft, dann würde ich sie vielleicht noch fragen, ob und wie sie ein Smartphone nutzt und es dann mit der „Wächterpreis“-Trägerin versuchen. Wenn ich aber die geringsten Anzeichen sehe, dass das eine Person ist, die sich mit Technik oder gar Social Media nicht beschäftigen will, dann nehmen wir den anderen, wenn er Hunger und Talent hat, oder wir schreiben eben neu aus. Für Dünkel ist bei uns kein Platz.

Von Entwicklungsredakteuren erwarten Sie noch viel profundere Technikkenntnisse. Gab es denn Bewerber, die neben den Programmierkenntnissen auch journalistische Erfahrungen hatten?

Die Mehrheit der Bewerber hat zumindest am Anfang ihrer Laufbahn in eher traditioneller Art journalistisch gearbeitet und sich erst später als Entwicklungsredakteur spezialisiert. Das ist auch sinnvoll. Wir wünschen uns auf diesen Stellen Kollegen, die ein solides Verständnis für redaktionelle Abläufe und typische journalistische Denkarten haben.

Und wie kommen diese Kollegen zu ihren Informatikkenntnissen?

Unsere Entwicklungsredakteure müssen nicht Informatik studiert haben. Sie sollten sich natürlich mit HTML5, JavaScript und CSS sehr gut auskennen. In der Regel haben sie sich auch schon aus natürlicher Neugier mit einigen APIs großer sozialer Plattformen und GoogleMaps beschäftigt. Ab da beginnt aber die Spezialisierung, der eine Entwicklungsredakteur hat ein größeres Interesse an mobilen Sites, der andere zum Beispiel an Datenjournalismus.

Was sind denn die üblichen Missverständnisse zwischen Technikern und Redaktion?

Ich glaube, das größte Missverständnis dreht sich um die zeitlichen Aufwände. Redakteure und auch viele Verlagsmitarbeiter verstehen oft nicht, warum die Umsetzung eines Projektes Wochen oder Monate dauert. Ich habe aber auch schon erlebt, dass wir bei einem Projekt eine Bearbeitungszeit von mehreren Wochen erwartet hatten und es dann nur wenige Tage benötigt hatte. Ein anderes Ziel, das wir mit der jetzigen Teilintegration der Technik in den Newsroom verfolgen, ist die Orientierung hin zum User. Für viele Techniker ist die Redaktion oder der Verlag der User oder Endkunde, weil dieser das jeweilige Produkt bestellt hat. Die wirklichen User sind aber die 4,7 Millionen Menschen, die bei uns pro Monat über die Site wandern. Wenn die Online-Techniker in einem Silo sitzen oder sogar Teil einer großen Verlags-IT mit primär nach innen gerichteten Aufgabenfeldern sind, dann ist die Gefahr groß, dass wertvolle Kritik oder motivierendes Lob der User bei den Technikern nicht ankommen.

Sie haben in der Vergangenheit viel mit Lorenz Matzat und seiner Agentur Open Data City zusammengearbeitet. Wäre es nicht einfacher gewesen, die Kooperation mit ihm zu intensivieren, anstatt den ganzen Bereich Datenjournalismus im eigenen Haus aufzubauen?

Datenjournalismus ist ein zu wichtiges Zukunftsthema, um es nur mit Dienstleistern zu bearbeiten. Wie auch bei allen anderen redaktionellen Spezialgebieten funktioniert es hier am besten, eigene Kompetenzen in der Redaktion aufzubauen und gleichzeitig in Kontakt mit zahlreichen Experten aus Deutschland und dem Ausland zu stehen, die man dann bei einzelnen Fragestellungen zurate zieht.

Sie holen mehr Technikkompetenz in Ihr Team. Dürfen wir deshalb neue Formate und Tools erwarten?

Themen, die uns umtreiben, sind die noch bessere Erfassung und Auffindbarkeit aller unserer Inhalte, die Weiterentwicklung unserer Debatten-Plattform und natürlich die kostengünstige Entwicklung und Pflege mobiler Auftritte von „Zeit Online“, die den wichtigsten Geräte-Typen gerecht werden. Ich denke zwar, dass im Netz auch auf lange Sicht der Text die zentrale journalistische Vermittlungsform sein wird, glaube und hoffe aber sehr, dass wir in den nächsten zwei, drei Jahren eine Vielzahl neuer onlinejournalistischer Ausdrucksformen sehen werden, die über den reinen Text hinausgehen.

Zeit Online ist profitabel und konnte seinen Umsatz 2011 um 50% erhöhen. Würden Sie sagen, dass innovativer Onlinejournalismus, also beispielsweise Datenjournalismus dazu beiträgt?

Nein, wir sind noch nicht profitabel. Unsere Umsätze wachsen aber tatsächlich so schnell, dass wir in dieser Frage recht entspannt sind. ZEIT ONLINE hat eine gute Zukunft vor sich. Ob Datenjournalismus sich rechnet? Nun, wenn wir – wie kürzlich – in einer Datenvisualisierung die Kredite der Deutschen Bank an Hersteller von Streubomben zeigen, dann ist das vermutlich kein werbefreundliches Umfeld. Trotzdem lohnen sich datenjournalistische Projekte nicht nur redaktionell, sondern über Bande auch unternehmerisch, weil sie in die Innovations-Story ihrer Marke einzahlen. Werbekunden möchten sich mit innovativen Redaktionen assoziieren. Außerdem helfen solche Projekte beim Recruiting guter, neuer Kollegen in Redaktion und Technik.

Die New York Times bietet ihren Werbekunden an, selbst einzustellen, auf welchen Artikeln sie werben. Arbeiten Sie auch an technischen Möglichkeiten, Ihr Angebot für Werbekunden zu verbessern?

Unser Produktmanagement kann auch jetzt schon so genannte Belegeinheiten definieren, die über die Ressortgrenzen hinweggehen. Von den Verlagskollegen weiß ich auch, dass sie die neue intelligentere Verschlagwortung aller unserer Inhalte mindestens so spannend finden wie wir, weil sie damit ihre Werbekampagnen nicht nur nach Ressorts, sondern auch nach Schlagwortkombinationen aufliefern können. Das wird allerdings noch eine Weile dauern.

Also im Prinzip Google-AdWords für die eigene Seite.

Ja, sehr viel mehr als das, weil es ja Displaywerbung in allen denkbaren Formaten sein wird und wir dabei auch noch redaktionelle Ausschluss-Filter definieren können, die uns die typischen Unannehmlichkeiten einer Google-AdWords-Kampagne ersparen könnten.

Aber erst mal setzen Sie noch auf Reichweite, nicht auf Paid?

Das eine schließt das andere doch nicht aus. Dank unserer starken Reichweite sind wir beispielsweise sehr erfolgreich im Verkauf der verschiedenen digitalen Ausgaben der ZEIT und haben jetzt auch eine eigene ZEIT-ONLINE-eBook-Reihe gestartet. Schauen Sie, In der alten Verlagswelt gab es nur vier wesentliche Einnahmequellen: Abo, Einzelverkauf, Werbung und Nebengeschäfte. Diese Übersichtlichkeit war im Rückblick sehr schön, ist aber trotzdem vorbei. Im Netz muss nun jedes Haus aus einer riesigen Zahl möglicher, tendenziell kleinerer Einnahmequellen seinen individuellen, passgenauen Mix zusammenstellen. Auch die Paywall-Diskussion wird derzeit noch so geführt, als ob Paywalls eine Rückkehr in diese alte Schwarz-Weiß-Welt vergleichsweise überschaubarer Geschäftsmodelle ermöglichen könnten. Das werden sie nicht. Ich selbst bin dabei Paywalls gegenüber durchaus offen. Sie müssen nur ein paar Bedingungen erfüllen: Sie dürfen unser rasant wachsendes Werbegeschäft und Reichweitenwachstum nicht behindern, sie dürfen uns beim Austausch mit unseren loyalsten Usern nicht in die Quere kommen und sie müssen social-media-tauglich sein. Außerdem darf die Programmierung und Pflege einer Paywall oder Paid-Membership nicht die gesamte Aufmerksamkeit von Management und Technik binden, denn es gibt strategisch noch wichtigere Themen.

Zum Beispiel die Zukunft der Online-Werbung?

Unter anderem. Ich glaube tatsächlich, dass Onlinewerbung noch in den Kinderschuhen steckt und gehe davon aus, dass wir in ein paar Jahren staunen werden, wie sehr wir die Wirksamkeit von Displaywerbung in hochwertigen redaktionellen Umfeldern unterschätzt haben. Es wird ja immer noch behauptet, dass man im Netz nur Produkte verkaufen könne, die die Nutzer schon kennen, dass sich das Netz aber nicht für lukrativere Branding-Kampagnen eigne, etwa um neue Luxus-Marken aufzubauen. Wir beobachten nun aber schon seit mehreren Quartalen, dass einige der edelsten Mode- und Automarken der Welt großflächige Kampagnen bei uns buchen und später wiederkehren. Der weltgrößte Werbekunde, Procter&Gamble, sagt auch, dass das Netz das eigentliche Vertiefungsmedium sei, also das Medium, in dem User in Ruhe nachschauen, was es mit dem Produkt auf sich hat, dessen Werbung sie schon im Fernsehen kurz gesehen haben. Traditionelle Medien-Vertreter behaupteten viele Jahre lang, es liege geradezu in der Natur des Netzes, einen flüchtigen, oberflächlichen Journalismus hervorzubringen. Mangels anderer Fürsprecher ist es nun kurioserweise der größte Werbekunde der Welt, der gerade das Internet als bestes Vertiefungsmedium anerkennt und dort entsprechend investiert. Wundersame Zeiten, in denen wir da arbeiten.

Wolfgang Blau (44) ist seit März 2008 Chefredakteur von „Zeit Online“. Davor war er von 1997 bis 2007 in den USA – unter anderem als Korrespondent des BLR-Radiodienstes und als freier Autor für „Welt“ und „ZDF Online“.

Unter Blaus Leitung hat „Zeit Online“ seine Reichweite von 7 Millionen Visits (März 2008) auf über 26 Millionen Visits (März 2012) gesteigert. In den letzten zwölf Monaten gewann „Zeit Online“ zwei Lead Awards in Gold, einen Grimme Online Award und den Online Journalism Award der amerikanischen Online Journalism Association (ONA).

Das „medium magazin“ kürte Wolfgang Blau zum Chefredakteur des Jahres 2012.

Medium:online

Mehr Aussagen von Wolfgang Blau über finanzielle Situation und Geschäftsmodell von „Zeit Online“ siehe: www.mediummagazin.de, magazin+

Erschienen in Ausgabe 06/202012 in der Rubrik „Special Technik“ auf Seite 50 bis 52 Autor/en: Interview: Thomas Stroth
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