Virtuelle Fundgrube

Pferdekutschen am Piccadilly Square, Segelschiffe des 18. Jahrhunderts auf der Themse – wer mit seinem iPhone oder Android Handy durch London spaziert, kann die Stadt mit den Augen eines Bürgers früherer Epochen erleben.

Möglich macht das eine Augmented-Reality-App des Museum of London. Dazu scannte das Museum historische Stadtansichten von London ein. Um sie am Originalort zu sehen, blickt man durch den Sucher seines Smartphones, per GPS-Funktion gleicht das Handy die Bilddateien mit den Koordinaten ab und erzeugt die optische Illusion einer erweiterten Realität, also: Augmented Reality, kurz AR.

Erste Spielereien

Die London-App mit dem Titel „Streetmuseum“ ist schon seit zwei Jahren für das iPhone und Android-Geräte frei erhältlich, kürzlich kam noch „Londinium“ für das römische London hinzu. Die neue Variante integriert auch Videos mit virtuellen Spielszenen und wird in Kooperation mit dem TV-Sender The History Channel angeboten.

Für Darmstadt entwickelte das Fraunhofer-Institut in Kooperation mit dem Stadtportal Darmstadt-Marketing im vergangenen Jahr eine App, die Besuchern des Olbrich-Hauses auf der Darmstädter Mathildenhöhe eine interaktive Fotozeitreise ermöglicht. Und auf dem AR-Browser „Layar“ steht die Berliner Mauer wieder auf, wenn man mit dem Smartphone im Blickfeld an ihrem früheren Verlauf entlanggeht.

Eigentlich müsste all das eine Fundgrube für Verlage sein: Sie könnten ihre Bildarchive für mobile AR-Anwendungen ganz neu nutzbar und erlebbar machen. Doch die bisherigen AR-Experimente von Verlagen beschränken sich noch weitgehend darauf, Zeitschriften virtuell zum Leben zu erwecken, indem man sie vor die Kamera eines PCs oder eines Smartphones hält. 2009 engagierte das US-Magazin „Esquire“ den Schauspieler Robert Downey Jr. für eine AR-Spezialausgabe, ein Jahr später experimentierte das Magazin der „Süddeutschen Zeitung“ mit AR-Effekten. Einer davon: Sandra Maischberger nahm die Hände vom Gesicht, wenn man das Coverbild mit ihr durch den Kamerasucher betrachtete (s. a. medium magazin 12/2010, http://bit.ly/L0ORcF).

Über solche Spielereien, die zwar für einen Moment verblüffen, letztlich aber keinen echten Nutzen stiften (und schon gar keine Zahlungsbereitschaft auslösen), sind Anwendungen von Medien seitdem kaum hinausgekommen. Und das nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern auch auf dem internationalen Markt. Auch neuere AR-Apps von „stern“, „Auto Bild“ oder einer neuseeländischen Ausgabe des „Time Out“-Magazins bieten im Wesentlichen zusätzliche Videos und 3D-Animationen, und damit nicht mehr als eine durchschnittliche Magazin-App oder das ganz normale Internet. Ein abschreckendes Beispiel letztlich sinnloser, virtueller Informationsflut lieferte der Nachrichtensender CNN bei den US-Kongresswahlen 2010 mit seinem „Augmented Reality Studio“.

Über ihre Zurückhaltung bei wirklich innovativen Anwendungen möchten Verlagsmanager und Redaktionsleiter ungern offen reden. Allgemein gelten in der Branche die technischen Hürden im Verhältnis zum erhofften Erfolg als noch zu hoch, die Entwicklungsprioritäten liegen momentan eher bei Themen wie Blogs, Tablet-Ausgaben, Nachrichtenformate für Mobile oder Datenjournalismus. Dass die Software für den redaktionellen Einsatz von Augmented-Reality-Anwendungen bisher zu kompliziert war, bestätigt auch Daniel Gelder, Marketingchef des Münchner AR-Dienstleisters Metaio. Bei dessen AR-Plattform Augmented City können Hausfassaden, Straßen und Objekte mit beliebigen Informationen überschrieben werden – mit Restaurantmenüs, Kinoprogrammen, U-Bahnfahrplänen und vielem mehr. Damit umgehen können allerdings nur Programmierer.

Nicht nur für Experten

Zudem habe es bisher auch in den Redaktionen an Verständnis gefehlt, wie man eine nutzwertige Applikation baut. „Nun aber ist AR auf dem Weg, sich als Technologie und Mittel mit echtem Mehrwert im Printbereich durchzusetzen, daher ist es zwingend notwendig, dass die Redaktionen selbst in die Lage versetzt werden, die AR-Inhalte zu pflegen“, sagt Gelder. Im Mai 2012 brachte seine Agentur das Redaktionstool Metaio Creator auf den Markt. Damit sollen Redakteure auch ohne Expertenwissen Inhalte für AR selbstständig erstellen und aktualisieren und somit AR-Anwendungen in den Magazin-Workflow integrieren können. Darüber hinaus entwickelt Metaio derzeit Tools, mit denen Journalisten im Außeneinsatz einen Ort oder ein Objekt „taggen“, also mit einem Newsfeed versehen können. Diese Werkzeuge sollen im Laufe des Jahres zur Verfügung stehen. Relativ simpel lässt sich auch der AR-Browser „Argon“ befüllen, der am Georgia Institute of Technology in Atlanta entwickelt wurde.

Damit kann sich die erweiterte Realität auch im journalistischen Einsatz endlich mit der realen Welt draußen zur „Mixed Reality“ mischen. Einen ersten Eindruck, welcher Nutzwert dann entstehen kann, ließ das „SZ-Magazin“ schon 2010 im Rahmen seiner AR-Sonderausgabe entstehen: Der AR-Browser von Metaio zeigte im Einsatz auf Münchens Straßen die (damaligen) Lieblingsorte der „SZ-Magazin“-Redakteure an. Letztlich sind AR-Apps auf einem Handy, das man sich vor das Gesicht hält, eine technologische Übergangserscheinung. Allerdings eine stets verfügbare – denn Smartphones sind fast schon mobiler Standard.

Google ist schon einen Schritt weiter und lässt das Gerät völlig in den Hintergrund treten. Der Technologiekonzern entwickelt derzeit eine AR-Brille (Codename: „Project Glass“), welche wie von Zauberhand den Alltag ihres Benutzers organisiert, virtuelle Informationen mischen sich ständig mit der realen Welt. Die Brille sieht nicht aus wie in Science-Fiction-Filmen, sondern besitzt einen unauffälligen kleinen Bildschirm am Bügel.

Die Brille weiß alles

In einem Demo-Video von Google lässt die Brille erahnen, dass ihr Besitzer bestimmt keinen Laptop aufklappt oder gar in eine Zeitung schaut, um seinen Alltag zu organisieren: Die Brille weiß, dass die U-Bahn gerade nicht fährt und zeigt stattdessen den kürzesten Fußweg an. Die Brille macht Fotos und verschickt sie über soziale Netzwerke. Sie reagiert auf Spracheingaben, weiß, ob der verabredete Freund pünktlich sein wird, und lässt am Ende des Clips sogar die Freundin zu Ukulele-Klängen am Sonnenuntergang über den Dächern von Manhattan teilhaben.

Doch egal ob Smartphone oder Brille: Die für Inhalteproduzenten und Nutzer immer leichter zu handhabende Technik eröffnet Verlagen und anderen Medienunternehmen Chancen. Für einen mobilen Stadtführer durch das römische oder mittelalterliche Köln. Für eine Hamburg-App, die auf realen Straßen U-Bahnstrecken und Abfahrtszeiten anzeigt. Für eine München-App mit virtuellen Filmszenen an realen Schauplätzen. Oder eine Berlin-App mit virtuellen Speisekarten vor realen Restaurants.

Link:Tipps

Googles „Project Glass“ (Demo-Video): http://bit.ly/HeRhlx

Metaio Creator: http://bit.ly/M4ZJrl

Augmented-Reality-Browser „Argon“: http://argon.gatech.edu/

CNN, AR-Kongresswahlen: http://youtu.be/giTxpM-bjEU

Streetmuseum: http://bit.ly/GTojsZ

Ulrike Langer ist freie Fachjournalistin für digitale Medienthemen und Redaktionsmitglied von „medium magazin“.

mail@medialdigital.de

Erschienen in Ausgabe 06/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 42 bis 42 Autor/en: Ulrike Langer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.