Vor Hektikern wird gewarnt

1.Paywall aus Gummi: üben ohne Risiko

Was die „New York Times“ vorgemacht hat, ist offenbar weiterhin für die wenigsten europäischen Verlagshäuser gangbar: eine Paywall zur Monetarisierung des Internetauftritts.

Das Münchner Marktforschungs- und Beratungsunternehmen Vocatus hat den Verdacht, dass Verlagsmanager zu sehr auf Reichweiten und Erträge fixiert sind und dabei die Kunden übersehen. Diese nähern sich der Preisfrage nicht mit Logik und Verstand, sondern mit Bauchgefühl: Sie wissen zumeist nicht einmal, wie viel sie für ihr Print-Abo zahlen. Vocatus-Vorstandsmitglied und Psychologe Florian Bauer: „Solange Verlage das weder verstehen noch nutzen, verschenken sie unnötig viel Geld.“ Wenn überhaupt, seien Kunden nur mit Kommunikationsstrategien dazu zu bewegen, Geld für etwas herzugeben, was bisher gratis war. Dabei hätten die Verlage sogar Chancen – beim E-Publishing hätten sich noch keine fixen Konsumgewohnheiten entwickelt wie im Printgewerbe. Bloß dürfe man jetzt keinesfalls die Marketingmethoden von Print auf die neue digitale Sparte übertragen, nur an Reichweiten denken und mit dem Preis herunterfahren. „Vergessen Sie Reichweite only – dieser Fokus vernichtet Vertriebs- und Anzeigenerlöse, bevor sie entstehen können. Die Ausgestaltung des Kauf- und Bezahlprozesses ist deutlich erfolgskritischer als die reine Preishöhe.“

„Le Temps“ (Genf) hat Praxiserfahrung. Sie gibt freien Zugang zu zehn Artikeln pro Monat und verlangt zwingende Registrierung der Kunden. Nach zwölf Monaten Laufzeit zeigte die Bilanz, dass die Zahl der Visits um 18 Prozent und die Unique Clients um zehn Prozent gesunken waren, die Anzeigenkunden aber dankbar reagierten: Die Werbeumsätze stiegen von 2010 auf 2011 um 30 Prozent. Der durch Abos erzielte Umsatz schnellte um 300 Prozent hinauf, signifikant hauptsächlich im Web. Auch Virginie Fortune von „Le Temps“ ist überzeugt: „Die Schwierigkeit liegt nicht so sehr in der Entwicklung neuer Ideen, sondern in der Verabschiedung von alten Ideen.“

Vorsichtig bleibt Johannes Vogel, Leiter „Süddeutsche Zeitung“/Digitale Medien. Der Zugang ins Web sei frei, für die App wurde schon ein Pay-Modell installiert: „Wir arbeiten an einer Verschränkung. Wir stehen am Anfang der Entwicklung.“ George Nimeh, neuer Leiter von kurier.at, weist darauf hin, dass seit Jahren nach Zahlsystemen für alle möglichen Angebote gesucht werde – vom Preisrätsel bis zur Paywall. Im Endergebnis werde aber nach wie vor danach gesucht. Es gebe bloß eine Menge Erfahrung, aber noch nicht das optimale Modell.

Der Slowake Tomáš Bella ist Gründer und CEO der Firma Piano Media in Pressburg, die in der Slowakei und in Slowenien ein nationales Bezahlsystem aufgebaut hat – nicht nur für ein einziges Medienhaus, sondern für 50 Verlage, wenn sie beitreten. Der Clou liegt in der Einfachheit der Methode, denn gescheitert war er bald nach 2006 mit alten Paywallmodellen, die vielleicht gescheit waren, bei denen die Kunden aber kein Geld ablieferten. Was ist die einfachste Zahlmethode? Wenn die Kunden ähnlich wie beim Kabelfernsehen einen einmaligen Beitrag für alles zahlen können.

Das tun sie dann auch. In der Schweiz ist man nicht so weit, sagt Peter Wälty, Chefredakteur tagesanzeiger.ch/newsnet, Zürich. „Schauen wir zwölf Monate zu, was mit den Reichweiten und auf dem Pay-Markt passiert. Es ist zu früh, die Weichen zu stellen. Man kann auch gewinnen, wenn man nicht vorprescht.“

2.Alle sprechen von Entschleunigung

Chefredakteurin Lisbeth Knudsen stellte die traditionsreiche, 1749 in Kopenhagen gegründete Zeitung „Berlingske Tidende“ vor, die einen engagierten Reformprozess hinter sich hat. In den eineinhalb Jahren der Umstellung blieb die Auflage von 98.000 unverändert, was ihre Erwartungen übertroffen habe.

„Wir sehen eine Menge Chancen“, sagt sie. Die Zeitung wirkte veraltet und die Notwendigkeit, rundum zu modernisieren, lag klar auf der Hand: „Wir entschlossen uns zu einer gründlichen Umstrukturierung. Der Kunde steht an erster Stelle.“

In den Mittelpunkt der Überlegungen rückten sehr bald die Online-Kunden, denn sie sind die jüngeren. Unter diesem Gesichtspunkt wurde die Zeitung rasch zur Medienmarke „Berlingske“. Die Journalisten versuchen, „Intelligent News“ zu präsentieren und nicht bloß Gestriges zu reportieren. „Berlingsk e“ hat den riskanten Weg von der gedruckten Zeitung zu einer „Newsmedia“ bereits gemeistert. Sie wird als Modell einer „entschleunigten Zeitung“ mit längeren, vertiefenden Texten in einem ruhigen, vierspaltigen Layout gepriesen. Gemeinsam mit der vitalen Marke lässt die Entwicklung den Journalismus politisch und gesellschaftspolitisch relevanter erscheinen. Die Auszeichnung folgte auf dem Fuß: „Berlingske“ ist die Tageszeitung des Jahres. Knudsens Aufforderung zur „Entschleunigung“ wurde denn auch zwei Tage auf dem Kongresspodium herumgereicht.

3. Schatztruhe Twitter, Facebook & Co.

Michael Praetorius von NOEO aus München, der die Generation Twitter und Facebook verkörpert, entschleunigt nicht. Das „Zeitalter der Massenmedien“ gehe in das „Zeitalter der Medienmassen“ über, die sich in Twitter, Facebook, Youtube und Flickr sammeln, findet er. Jeder kann senden, Radio und TV verlieren ihr Distributionsmonopol. Das Social Web braucht keinen Ü-Wagen mehr, ein Livestream von Presse-Events entsteht.

Und schon ist das Motto „Social Media first“ auf dem Tisch. Die sozialen Netzwerke bilden eine „Community-Plattform“: Die Corporate Website aggregiert Inhalte aus dem Social Web und ermöglicht Interaktionen in Form von Kommentaren und Verlinkungen. Das Social Web wird zur Broadcast Infrastructure: „Was denkt ihr? Soll man Griechenland unterstützen oder auf sich allein gestellt lassen? Schreibt uns eure Kommentare hier.“ Content wird neu verteilt und entdeckt, jeder ist Teil eines Social Network – Journalisten werden Kuratoren.

4.Der Sonntag als Goldgrube

Bis zum Jahr 2001 hatten die Schweizer Zeitungskonsumenten sonntags nur zwei Alternativen: den „Sonntagsblick“ und die „Sonntagszeitung“. Im Haus der „Neuen Zürcher Zeitung“ wuchs jedoch die Sorge, die Leser könnten über zunehmende Sonntags-Leselust wochentags von der NZZ abwandern. Außerdem wollte sich die NZZ ein Stück vom Anzeigenkuchen abschneiden, der am Sonntag anders strukturiert ist. Und drittens gab es ein redaktionelles Motiv: Agenda-Setting durch eine eigene Sonntagszeitung.

Eine wichtige Entscheidung betraf die Definition der „NZZ am Sonntag“: Sollte sie bloß die Fortsetzung der NZZ am siebten Wochentag oder etwas Neues sein? Die Wahl fiel auf das Neue, sogar ungewohnt Neue. Erstmals erschien eine NZZ mit Farbbild auf der Seite eins. Wochentags sind 39 Prozent der Leser weiblich, die „NZZ am Sonntag“ hat 46 Prozent Leserinnen. Doch Frauen lesen nicht alles, sondern bevorzugen Wissenschaft, Gesellschaft, die in Themen und Gestaltung anspruchsvolle Beilage „Stil“ und lehnen Sport offenbar kategorisch ab. Dort sind die Männer zu Hause, bei Wirtschaft in deutlicher Überzahl. Die Sonntagszeitung war somit in der Lage, die Leserschaft des Unternehmens zu vergrößern und das Potenzial für neue Anzeigengruppen vor allem auf dem Konsumgütersektor auszuschöpfen.

Der Durchbruch gelang. 150.000 Leser lesen wochentags die „Neue Zürcher Zeitung“. 348.000 greifen hingegen zur „NZZ am Sonntag“, die es erst seit zwölf Jahren gibt. Hinzu kommen Überschneidungen bei weiteren 142.000 Lesern. Mit diesen Zahlen hatte es Felix E. Müller, Chefredakteur seit 2001, leicht, auf dem European Newspaper Congress das Publikum vo
m Erfolg des Experiments zu überzeugen. Der Inseratentopf ist am Sonntag reich gefüllt. „Print ist am Leben, besonders am Sonntag“, verkündete Müller: Das Geheimnis des Erfolgs ist die Verjüngung einer alten Marke.

5. Digital first

Juan Antonio Giner, Präsident des Medienberatungsunternehmens Innovation Media Consulting (London), setzt auf digitale Auftritte, das Tablet und vor allem auf Qualität. Mehrwert komme nur durch wertvolle Inhalte und höhere Qualität zustande. „Nur für Champagner, nicht für Wasser erhalten wir Geld.“ Großes Augenmerk sei ihm zufolge den Multimedia-Integrationsmodellen zu schenken, denn die Arbeitsabläufe müssten völlig neu konzipiert, Ressourcen müssten intelligenter eingesetzt werden.

6.Lesern helfen – nicht Angst machen

Belasten die Nachrichten über immer neue Krisen die Menschen? Ja, wenn die Medien in Verkennung ihrer Aufgaben Krisenberichterstattung betreiben. Dann benötigen sie nicht einmal ein außerordentliches Krisenjahr wie 2011, um ihr Publikum zumindest kurzfristig in Panik zu versetzen. Bei der Podiumsdiskussion von Chefredakteuren und Fachleuten aus dem Universitätsbereich über „Die Angst und die Medien – wie viele schlechte Nachrichten vertragen die Menschen?“ sahen die Teilnehmer durchaus selbstkritisch eine Art Verlockung zur Angstmacherei. Mit schweizerischer Offenheit bestätigte der Chefredakteur der „NZZ am Sonntag“ Felix E. Müller: „Die Wahrheit ist, dass wir Journalisten von den Ängsten leben und dabei auch Emotionen auslösen.“ Denn das Informationsbedürfnis der Menschen wächst, je bedrohlicher eine Nachricht, zumindest am Anfang. Bei der Fukushima-Katastrophe erzielte die „Zeit im Bild“ des ORF an den ersten drei Tagen Rekordeinschaltungen von 1,3 bis 1,6 Millionen Zusehern, berichtete ORF-Chefredakteurin Waltraud Langer und meinte: „Wir können nicht warten, bis alles geklärt ist. Wir müssen alles transparent machen. Wir sagen alles, was wir zum jeweiligen Zeitpunkt wissen. Auf jeden Fall ist es die große Stunde der Hintergrundberichterstattung, weil sich Leute für etwas interessieren, wofür sie sich normalerweise nicht interessieren.“

Jürgen Grimm von der Universität Wien und der Vize-Präsident des Berufsverbandes Österreichischer Psychologen, Cornel Binder-Krieglstein, teilen diese Einschätzung. Journalisten reagierten professionell auf die Ängste des Publikums, sagt Grimm. „Das ist kein Bedürfnis nach Angst, sondern stillt einen Angstbewältigungsbedarf. Medien bieten dafür mehr Hilfe, als sie Angst produzieren.“ Binder-Krieglstein ist nicht einmal sicher, ob wirklich alle Leute ängstlicher werden, wie behauptet wird. Er hält dem entgegen: „Heute sind Rettungsautos fahrende Intensivstationen, aber soll ich deshalb Angst vor einem Herzinfarkt haben?“

Der Begriff „Entschleunigung“ kommt abermals ins Spiel. Berichten, ja, aber man müsse ja nicht gleich am ersten, unübersichtlichen Tag einer Katastrophe kommentieren, empfiehlt Chefredakteur Carsten Erdmann von der „Berliner Morgenpost“. In einer Regionalzeitung müsse das Thema sowieso anders aufbereitet werden, runtergebrochen auf die Leser vor Ort. Zum Beispiel: Was bedeute die Euro-Krise für die Gemeinde? „Da gibt es berechtigte Ängste. Wir raten den Redakteuren: Schreibt den Artikel so, als würde es um euer Geld gehen.“ Binder-Krieglstein betont: Das Hauptinteresse am Anfang laute immer: Bin ich betroffen? Da müsse eine Antwort kommen. Auswirkungen auf die ganze Welt gehören zur sekundären Angst.

Die Journalisten von der „NZZ am Sonntag“ sind laut Müller sowieso positive Menschen: „Wenn wie im Arabischen Frühling die Guten gewinnen und die Bösen stürzen, dann ist das eine tolle Geschichte. Es gibt vielleicht doch Gerechtigkeit und Fortschritt.“ Ausschließlich Krisenberichterstattung wollen seine Leser sowieso nicht, sondern ein „Gesamtangebot“.

LINK:TIPP

Mehr Infos und Bilder vom European Newspaper Congress 2012:

www.newspaper-congress.eu

Engelbert Washietl ist freier Journalist in Wien.

engelbert.washietl@gmail.com

Erschienen in Ausgabe 06/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 38 bis 41 Autor/en: Engelbert Washietl. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.