Warum wir wissen, was wir tun

Zugegeben, die Zeitung hat Probleme. Da sind zum einen die Strukturprobleme des Mediums Regionalzeitung, das aufgrund demografischer und gesellschaftlicher Veränderungen sowie der multimedialen Konkurrenz an Auflage verliert.

Es gibt das Imageproblem, schließlich schreit das Wort Lokaljournalist unwillkürlich „Kaninchenzuchtverein“, was einem Akademiker – und das sind heutzutage fast alle Volontäre – irgendwie unangemessen erscheint. Und dann ist da noch die Leserschaft: schwer zu fassen und noch schwerer im Kollektiv zufriedenzustellen.

Da scheinen frische Ideen der Berufsneulinge auf nicht sehr fruchtbaren Boden zu fallen. Aber:

1. Warum darf man nicht an die Zeitung glauben?

Mit der regionalen Tageszeitung geht es zu Ende, so die weit verbreitete Prognose. Und wer wollte auch ernsthaft bestreiten, dass wir längst eine neue Informationskultur haben. Trotzdem frage ich mich zuweilen, was an die Stelle der gedruckten Zeitung treten soll – gerade im Lokalen. Ich höre oft von Menschen der unterschiedlichsten Altersgruppen, nachdem sie fotografiert wurden, den leicht ehrfürchtigen Satz: „Ich komme in die Zeitung.“ Es ist das Gewahrwerden einer öffentlichen Aufmerksamkeit, die sie noch immer als etwas Besonderes empfinden.

Weder habe ich es je erlebt noch kann ich mir in weite Zukunft gedacht vorstellen, wie eine gerade abgelichtete Person ehrfürchtig die Worte spricht: „Ich komme ins Internet.“ Der Satz wäre auch einigermaßen absurd. Mit Fotos im Internet vertreten zu sein, ist gerade für die Jüngeren nichts Besonderes. Glaubt man unseren Datenschützern, sind sie im Netz sogar viel zu oft abgebildet. Und die öffentliche Aufmerksamkeit, die sie dort bekommen, ist schwer zu definieren, irgendwie schwammig. Kann eine, von wem auch immer betriebene, Internetplattform den identitätsstiftenden und verbindenden Charakter erlangen, wie ihn die lokale Tageszeitung für eine Region haben sollte?

Möglicherweise nicht. Und deshalb ist der Journalismus auch im Lokalen nach wie vor eine wichtige Aufgabe. Zumal kein Zeitungshaus heute noch ausschließlich den Kanal „Print“ bedient. Mag sein, dass die gedruckte Zeitung vielen als Fossil gilt. Andererseits werden mit den Schlagworten „Retro“ oder „Nostalgie“ Badewannen, Möbel und Autos erfolgreich vermarktet. Da kann vielleicht auch die Zeitung langfristig noch ihren gar nicht mal so kleinen Freundeskreis finden. Und selbst wenn es sie irgendwann wirklich nicht mehr geben sollte: Das wäre kein Grund, bis dahin keine möglichst gute Zeitung zu machen und in der Ausbildung von dem Traditionsmedium zu profitieren.

2. Was am Lokaljournalismus ist eigentlich langweilig?

Zeitungen können für Akademiker gemacht werden und für den Stammtisch, für Linke und für Konservative. Und all diese Blätter gibt der überregionale Zeitungsmarkt auch her. Lokaljournalismus darf man insofern selbstbewusst als anspruchsvoller bezeichnen, da man in einem Mikrokosmos Zeitung für alle macht: für Akademiker, für Stammtisch-Besucher, für Linke und für Konservative. Für Leute, die – bleiben wir mal keinesfalls abwertend dabei – ihre prämierten Kaninchen in der Zeitung sehen wollen, und für Leute, die auch im Lokalteil kritische Recherche erwarten.

Das Lokale hält außerdem starke Geschichten bereit: Sogenannte Wutbürger habe ich schon kennengelernt, bevor sich die Auseinandersetzung um Stuttgart 21 verschärfte. Wer einmal die Opferhilfe des Weißen Rings bei der Arbeit begleitet, der spürt sprachlos machende Schicksale quasi vor der Haustür auf. Und an den Menschen, an deren Leben sich beeindruckende Porträts erzählen lassen, ist man im Lokalen ganz nah dran.

Die Behauptung, die Lokalzeitungen könnten wegen ihrer täglichen Erscheinungsweise nicht hintergründiger und magaziniger werden, ist falsch. Der Stoff ist vorhanden. Wir können den erfolgreicheren Wochenzeitungen sehr wohl ein Stück weit nacheifern. Und das macht dann auch die journalistische Arbeit noch einmal attraktiver.

3. Warum sollten bei der Zeitung keine neuen Ideen gefragt sein?

Die Herausforderungen führen dazu, dass die Lokalzeitung einerseits die Pflicht nicht vernachlässigen darf, dass sich möglichst viele Menschen einer Region in ihr wiederfinden. Und andererseits muss sie sich um die journalistische Kür kümmern, wenn sie als unabhängiger Stimmgeber in der lokalen Öffentlichkeit wahrgenommen und gebraucht werden will.

Überhaupt das Thema „Relevanz“: Oft wird behauptet, die Tageszeitungen verstünden es noch nicht richtig, das Dialogmedium Internet in der gebotenen Interaktivität zu nutzen. Dabei läuft das Kommentieren jetzt schon allerorten aus dem Ruder und hat oft so gar nichts von dem Ideal, dass sich im Web, angestoßen durch die Online-News, wichtige öffentliche Debatten vollziehen. Wie wäre es stattdessen mal mit dem Dialogmedium Zeitung? Wer die relevanten Diskurse nicht mehr in der Zeitung stattfinden lässt, braucht sich auch nicht zu wundern, wenn sie noch schneller an Aufmerksamkeit verliert.

Dialogmedium Zeitung heißt nicht: Leserbriefe abdrucken. Es hieße, auch mal auf Leserbriefe zu antworten, sich als Redaktion der Diskussion zu stellen, Kritik anzunehmen, die eigene Arbeit zu erklären und Vorurteilen entgegenzutreten. Wenn die Onlineredaktion mitdiskutiert und die Print-Kollegen die Leserstimmen nur unkommentiert abdrucken, wirken sie seltsam passiv. Dabei könnten sie die Diskussionen auf ein höheres Niveau heben und so aufbereiten, dass der Leser letztlich mehr davon hat.

Das ist nur ein Bereich von vielen, wo die künftige Rolle der Zeitung vor Ort, im multimedialen Zeitalter allgemein und im Verhältnis zu den eigenen Online-Aktivitäten im Speziellen, neu zu definieren ist. Für uns Einsteiger, die wir uns für Lokaljournalismus entschieden haben, ist das auch eine Chance, etwas zur weiteren Entwicklung des Mediums beizutragen. Also nein, wir haben uns nicht verirrt.

Der Autor

Carsten Müller (27) ist seit April Redakteur bei der Zeitungsgruppe Lahn-Dill in Wetzlar, wo er vorher volontiert hat.

Kontakt: c.b.mueller@mittelhessen.de

Erschienen in Ausgabe 06/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 36 bis 37 Autor/en: Carsten Müller. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.