Was wäre, wenn es keine redigierenden Journalisten gäbe, fragte neulich die „Zeit“-Textchefin ihre Leserschaft. Dann, so antwortete sie selbst, bekäme das Publikum nur „Rohware“ vorgesetzt. Erst die Redaktion verhelfe den Texten von Autoren und Reportern „zu ihrer druck- oder sendefähigen Perfektion“.
Schön wär’s. Seit über 30 Jahren schreibe ich als freier Korrespondent für diverse Zeitungen, und nach jedem Produktionstag frage ich mich bei der Morgenlektüre: Welche Patzer haben sie diesmal eingebaut? Zum Glück gibt es Redaktionsmitglieder, die ganz sensibel mit der Feile arbeiten. Aber andere greifen zu Hammer und Meißel. Mal kürzen sie sinnentstellend, mal verlängern sie meine Texte und bauen dabei Fehler ein. Meine Sammlung solcher Verschlimmbesserungen ist inzwischen so dick wie zwei Telefonbücher.
Journalismus als Stille Post
Eine typische Panne: Die Redaktion kürzt nur halbherzig. Sie lässt einen „zwar“-Satz stehen, streicht jedoch die folgende „aber“-Passage. Oft stimmen auch die Anschlüsse nicht mehr: „X bestreitet das.“ Was er bestreitet, bleibt im Dunkeln, denn es wurde vorher weggekürzt. Womöglich entsteht sogar der falsche Eindruck, dass X etwas abstreitet, was in dem Absatz vor der gestrichenen Passage steht und gar nichts mit seinem Dementi zu tun hat.
Gern gelöscht werden Relativierungen wie „eventuell“, „womöglich“ oder „fast“. Einmal war in einem Text mit meinem Kürzel zu lesen, Bremen wolle „alle Freibäder schließen“. Zum Glück waren es nur fast alle.
Noch heikler als Kürzungen sind unabgesprochene Ergänzungen. Da hat jemand irgendwo etwas gelesen oder gehört – und schreibt es ungeprüft in meine Vorlage hinein. Etwa, dass die Kanzlerin den neuen Tiefwasserhafen Jade-Weser-Port (JWP) einweihen wolle. Das hatte eine überregionale Zeitung behauptet, bevor ich selber ein Feature über den JWP schrieb. Gerne hätte ich diese Information übernommen, aber vorsichtshalber fragte ich beim Bundespresseamt nach. Dort wusste niemand etwas von einem Merkel-Termin beim JWP. Doch bei einer großen Regionalzeitung wird offenbar auch das überregionale Blatt studiert. Jedenfalls baute die Redaktion den imaginären Merkel-Auftritt ohne Absprache in meinen Text ein.
In dem überregionalen Blatt stand auch, dass Deutschland mit dem besonders tiefen Hafen „Anschluss an die neuen Dimensionen des internationalen Schiffstransports“ erhalte. Die Regionalzeitung übernahm das mit leichten Kürzungen: Deutschland erhalte mit dem JWP „Anschluss an den internationalen Schiffstransport“. Aha, bisher kamen die Container aus China wohl per Lkw. Und dazu die Überschrift: „Deutschlands größte Baustelle“ – wieder knapp daneben. Auf meine Beschwerde hin meinte eine Redakteurin, dieser Superlativ „geistert ja schon seit längerem durch die Medien“. Dann muss es stimmen – Journalismus als Stille Post.
Bei Überschriften patzen auch andere Redaktionen. Einmal konnte ich Günter Grass kurz zum Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz befragen. Rot-Grün ließ den Bremer Türken damals im Lager versauern und stand deshalb unter Beschuss. Grass kritisierte die Kritiker. Am nächsten Tag titelte einer meiner Kunden: „Grass kritisiert Rot-Grün“. Bei einem anderen Thema erdichtete eine Zeitung den Zwischentitel: „Wird die Nachwahl angefechtet?“ Darauf ein Leserbriefschreiber: „Es hat mich umgehaut“.
Dieser Text ist nicht von mir!
Nicht mal Zitate sind heilig: Ein Strahlenexperte sprach einst von Atomanlagen, „die hochversifft sind“. Das war einer Redaktion wohl zu umgangssprachlich. Sie machte daraus „hochverseucht“. Oft wurden auch schon meine eigenen Formulierungen in Anführungsstriche gesetzt, als stammten sie von Gesprächspartnern.
Nicht nur gestresste Tageszeitungsleute gehen teils nachlässig mit Manuskripten um. Ein Kollege der „Zeit“-Textchefin wollte mal aus „Vokalmusik“ platte „Volksmusik“ machen. So veredelt man Rohware.
Achtung übrigens, wenn jemand Kommentare von mir liest: Gut möglich, dass da Einschätzungen stehen, von denen ich bisher nicht wusste, dass ich sie teile. Nette Überraschungen erlebe ich auch, wenn eine gut abgehangene Geschichte ohne Aktualisierung aus dem Stehsatz geholt wird oder ein fast nur aus Agenturmaterial bestehender Text unter meinem Namen läuft.
Ein pensionierter Korrespondent hat mir erzählt, dass er sich zuletzt gar nicht mehr getraut habe, seine eigenen Artikel in der Zeitung zu lesen, weil die so oft verhunzt worden seien.
Was könnten Redaktionen tun? Zum Beispiel uns Autoren bitten, Manuskripte selber auf richtige Länge zu bringen. Und etwas mehr Respekt vor unseren Fachkenntnissen und unserem persönlichen Stil entwickeln. Wir machen schon genug eigene Fehler (die oft unredigiert gedruckt werden, weil nur für Insider zu erkennen). Da wollen wir nicht auch noch für Redigierpannen unsere Namen hergeben.
Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 12 bis 12. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.