Denkt an die Belohnung!

„Wir müssen darüber nachdenken, womit Leser belohnt werden könnten, damit wir sie nicht an die lustigen Katzenvideos verlieren.“ Ja, sie sprach tatsächlich von „belohnen“: Beim Reporterforum Mitte Juni in Hamburg schilderte die New-York-Times-Reporterin Amy O’Leary, wie sich im Zeitalter von iPad, Facebook & Co der Journalismus ändern müsse (siehe auch Seite 38 ff.) . Sie zitierte dort aus einem Buch ihres Kollegen Charles Duhigg, der sich ausführlich mit dem Verhalten von Menschen auseinandersetzt: Es wird bestimmt durch einen Auslöser, eine Reaktion und eine Belohnung. Die Belohnung sei besonders wichtig, weil sie im Gehirn die Strukturen dafür ausbildet, ein Verhalten zu wiederholen und zur Gewohnheit werden zu lassen.

Was das mit Journalismus zu tun hat? Sehr viel: Amy O’Leary hat völlig recht mit ihrem Appell, dass wir uns viel intensiver mit der Frage auseinandersetzen müssen, was die Menschen dazu bringt, Geschichten zu lesen oder sie anzuklicken. Und ebenso mit der Überlegung, was sie davon haben, was sie als „Belohnung“ erhalten.

Amerika ist weit weg, aber die Lese-Entwicklung dort ist durchaus vergleichbar mit unseren Bedingungen. „Vor 100 Jahren herrschte in Amerika die gängige Einstellung vor, dass Zeitunglesen Bürgerpflicht ist. Man war also ein guter Staatsbürger, wenn man über die Ereignisse in der Welt Bescheid wusste – das war die Belohnung. Heutzutage wollen die Leute eher unterhalten und überrascht werde“, so Amy O’Leary.

Wenn wir unsere Leser oder Nutzer also nicht an „lustige Katzenvideos“ verlieren wollen, müssen sie sich belohnt fühlen, wenn sie unsere Geschichten lesen. Beispiele bleibt Amy O’Leary nicht schuldig: Ein Auslöser könne eine gute Überschrift sein ebenso wie eine Facebook-Empfehlung. Die beste Belohnung aber seien Geschichten, „die durch die Qualität und Tiefe des Storytellings überraschen, die Geschichten, die Nutzer regelmäßig auf eine Website ziehen, dadurch werden Medienportale zu Marken“.

Zugegeben, hierzulande hat sich in den vergangenen Jahren viel getan. Leserforschung hat Konjunktur, Methoden wie Readerscan werden in vielen Redaktionen eingesetzt, um herauszufinden, was Leser interessiert und was eben nicht. Die Auswertung solcher Statistiken ist bereits zu einer Wissenschaft geworden. Doch die Quantität der Zugriffe beantwortet eben noch lange nicht die Frage nach dem Warum.

Wir haben uns in dieser Ausgabe deswegen schwerpunktmäßig mit der Frage beschäftigt, wie journalistische Geschichten heute auf den verschiedensten Kanälen erzählt werden sollten. Zum Beispiel: Wie baut man einen Spannungsbogen für gute Texte? Hilmar Poganatz etwa schildert die Methode von Cordt Schnibben, dem Meister der „Spiegel“-Reportage, der sagt: „Alles, was Sie in alten Journalistenbüchern gelesen haben: Vergessen Sie es!“ (siehe Seite 53 ff.) Denn, so Schnibben: „Alte Dramaturgie tut noch immer so, als müssten wir schreiben wie Kisch – als wären wir die Einzigen, die sich auskennen, während der Leser noch nichts gesehen hat.“ Neue Dramaturgie hingegen lebe von Überraschungen, von Regelverletzungen. Und er zeigt ganz praktisch, wie so etwas funktioniert.

Markus Hündgen, Journalist, Geschäftsführer der „European Web Video Academy“ und unter Twitterern auch als @videopunk bekannt, zeigt wiederum in unserer Journalisten-Werkstatt „Tipps & Tricks Webvideo“*, mit welcher Art von Geschichten mit bewegten Bildern die Zuschauer in den Bann gezogen werden können.

Moritz Meyer hat sich angesehen, was die diesjährigen Grimme Online-Ergebnisse für den Journalismus bedeuten (siehe Seite 34 ff.).

Und Manfred Scharnberg schildert anhand der diesjährigen „Lead Awards“, wie Magazine mit kreativen Konzepten und starker Visualisierung Leser ködern (siehe Seite 30 ff.).

Vielleicht lohnt sich für Sie aber auch der Beitrag von Katja Riefler über „Deseret News“ – eine amerikanische Zeitung, die mit einer konsequenten inhaltlichen Neuausrichtung sensationelle Auflagenzuwächse erzielt (siehe Seite 42 ff.). Die Aussage von Clark Gilbert, Geschäftsführer von „Deseret News“, gilt nicht weniger hierzulande: „Sie müssen Weltklasse-Inhalte liefern – sonst sind Ihre Nutzer nur einen Klick entfernt von etwas Besserem.“ Und auch das: „Die guten Ideen sind längst da. Sie werden bislang nur von anderen umgesetzt.“

* Journalisten-Werkstatt „Tipps & Tricks Webvideo“

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Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Editorial“ auf Seite 3 bis 5 Autor/en: Annette Milz Ist Chefredakteurin von „Medium Magazin“.. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.