Licht im Kanal

Es war ein deutlicher Weckruf, den die Jury des deutschen CNN-Awards Anfang des Jahres losließ. In diesem Jahre werde es keinen Online-Preisträger geben, verkündete die Jury und begründete es mit einem harschen Urteil: In Deutschland gebe es einfach keinen preiswürdigen Online-Journalismus, hieß es damals. Nun ist der CNN-Award ein Preis für Auslandsjournalismus, also für ein ganz spezielles Thema. Doch die Kritik der Jury lässt sich durchaus auf den deutschsprachigen Online-Journalismus an sich münzen. Stefan Plöchinger, Online-Chef der „Süddeutschen Zeitung“ und Mitglied der Jury des CNN-Awards, benennt ein Grundproblem: „Online wird noch zu stark in Text und Bild gedacht. Dabei bietet das Netz potenziell unendlich viele Möglichkeiten, ein Thema zu bearbeiten.“ Tatsächlich gleicht das Internet einer großen Werkzeugkiste, die buchstäblich jeden Tag neu bestückt wird. Gestern kamen Twitter und Facebook, heute Datenjournalismus, und wer weiß schon, was ein cleverer Programmierer morgen auf den Markt wirft? Doch die Beispiele für gute Web-Handwerkskunst sind hierzulande selten. Neidisch schaut man in den angloamerikanischen Raum, wo der Journalismus anscheinend jeden Tag neu erfunden wird.

Dabei sieht es doch gar nicht so finster aus. Zu einem zuverlässigen Gradmesser für die Qualität deutscher Webangebote hat sich in den letzten Jahren der Grimme Online Award gewandelt. Und immerhin die Hälfte der 26 in diesem Jahr nominierten Angebote stammt von klassischen Medienanbietern wie öffentlich-rechtlichem Rundfunk oder Tageszeitungen. Friedrich Hagedorn, einer der Begründer des renommierten Grimme Online Award, geht deshalb weniger hart mit den deutschen Medien ins Gericht: „Auch wenn nicht alles Qualität ist, was im Netz produziert wird, glaube ich, dass da viel Bewegung reingekommen ist. Vieles von dem, was möglich ist, wird inzwischen professionell umgesetzt.“

Die Wahrheit über die Qualität des deutschen Online-Journalismus liegt also wie immer in der Mitte. So gelingt vielen etablierten Medien der Sprung in die Webwelt sehr gut: zum Beispiel mit der „Tagesschau“-App, der Tablet-Version der „Frankfurter Rundschau“ oder dem Zugmonitor der „Süddeutschen Zeitung“, um nur drei Grimme-nominierte Webprojekte zu nennen. Doch auf manchen Feldern des Journalismus tun sich Berichterstatter schwer, ausgetretene Pfade zu verlassen. Ohne große Redaktion im Rücken, aber mit umso größerer Leidenschaft ausgestattet, führen mutige Enthusiasten dem Journalismus vor, wie man das Netz besser nutzen kann. Die Leidenschaft dieser Pioniere honorierte auch die Grimme-Online-Jury bei der Preisverleihung. Von den acht vergebenen Preisen gingen sieben an originäre, unabhängige Webprojekte.

Der Blick auf die Machart solcher Projekte lohnt sich, weil sie neue Ansätze zeigen – so wie die nachfolgenden drei Beispiele:

1. Das Wiki-Prinzip

www.lobbypedia.de

Das Projekt „Lobbypedia“ gewann einen der begehrten Preise in der Kategorie „Wissen und Bildung“. Die an Wikipedia angelehnte Seite listet in inzwischen mehr als 600 Artikeln auf, in welchen Fällen die Gesetzgebung von Lobbyisten Betroffener beeinflusst wird oder welche Politiker nach der Karriere in gut bezahlte Berater- und Aufsichtsratsposten wechselten. Ein komplexes Thema, bei dem Felix Kamella von Lobbypedia den kritischen Blick vieler Politikjournalisten vermisst. In der atemlos von einer Krisensitzung zum nächsten Eurogipfel eilenden Berichterstattung wird oft vernachlässigt, dass nicht selten die Verursacher der Krise mit am Tisch sitzen, wenn das nächste Rettungsgesetz entworfen wird. Lobbypedia will diese Lücke mit seinen eigenen Methoden schließen. „Wir sind kein journalistisches Angebot“, stellt Kamella klar. Schließlich macht der hinter dem Portal stehende Verein Lobbycontrol selbst Kampagnen und hat schon in seinem Namen ein klar definiertes politisches Ziel. Doch was die Recherche von Informationen angeht, konkurriert der Verein mit so manchem investigativen Aushängeschild des Journalismus. Infos kommen aus frei verfügbaren Dokumenten, die schlicht und einfach akribisch durchforstet werden. Aber auch vertrauliche Berichte, die dem Verein zugespielt werden, helfen, das Dickicht des Lobbydschungels in Berlin zu lichten. Davon kann und sollte jeder Journalist profitieren.

2. Die Fußball-Analysten

www.spielverlagerung.de

Genau wie Sportjournalisten sich sehr genau die Seite spielverlagerung.de angucken sollten, die für den Grimme Online Award nominiert war. Tobias Escher ist 24 Jahre alt, Sportstudent und hat ein Faible für Fußballtaktik. Im Juni 2011 startete er mit fünf Gleichgesinnten das Blog, auf dem über Fußball gefachsimpelt wird wie auf einem Trainerseminar. Dabei heben sie die Fußballberichterstattung auf ein Niveau, das man so in keinem deutschen Sportteil findet, von den Fußballübertragungen im Fernsehen ganz zu schweigen. „Es gibt immer mehr Menschen, die sich für Fußball und damit auch für Fußballtaktik interessieren. Denen ist das, was sie in den etablierten Medien dazu finden, zu seicht. Bei uns werden sie fündig“, umreißt Escher das Erfolgsrezept von „Spielverlagerung“. Innerhalb von nur einem Jahr wurde die Seite der Taktik-Nerds eines der bekanntesten Fußballblogs Deutschlands, über das während der Europameisterschaft auch ZDF-Moderatorin Katrin Müller-Hohenstein vor laufenden Kameras staunte. Statt darüber zu spekulieren, wie sich Damenbesuche in Hotels oder die Kritik von TV-Experten auf die Leistung der Spieler auswirken, halten sich Escher und Kollegen an Fakten und Statistiken. „Zahlen sind auch nicht immer objektiv, aber zumindest für jeden nachprüfbar“, sagt der Blogger, der sich gerade in der Nachberichterstattung mehr Analyse als Nacherzählung eines Spiels wünscht, dessen Verlauf und Ergebnis ohnehin jeder schon kennt.

3. Der Casting-Kritiker

www.musiktraining.de

Auch Klaus Kauker hat eine Lücke in der Berichterstattung aufgetan. Der Videoblogger nimmt sich in seinem Youtube-Kanal „MusikTraining“ die Casting-Formate des deutschen Fernsehens vor. Dafür ist er bereits im Frühjahr mit dem Webvideopreis 2012 in der Kategorie FAQ ausgezeichnet worden und jetzt auch mit einem Grimme Online Award. „Mir ist aufgefallen, dass Bohlens musikalische Leistung von vielen Medien sehr unkritisch gesehen wird. Da wird er zum Pop-Titanen ernannt, der einen Ohrwurm nach dem nächsten produziert“, sagt Kauker. Wenn der Student der renommierten Essener Folkwang Universität der Künste mit der Analyse eines Bohlen-Hits fertig ist, schrumpft dessen Komponistenleistung plötzlich zum „dreistesten Plagiat ever“; so lautet der Titel eines seiner Videos. Auch ein vermeintliches TV-Superhirn, das in einer ZDF-Sendung aus einem ganzen Orchester heraushören wollte, welche von sechs Geigen nicht mitspielt, enttarnte Kauker. Der Mann mit dem angeblichen Supergehör ließ einfach an bestimmten Stellen andere Noten spielen als im Original und bekam so den Hinweis, welche Geige stumm blieb. Mit dieser Form der Medienkritik kommt Kauker an: Mehr als 13.000 Abonnenten seines Kanals und über 2,5 Millionen Abrufe für seine Videos zeigen, dass es ein Publikum für die kritische Begleitung der Casting-Shows gibt.

Natürlich ist es bequemer, ein zwei Tage altes Fußballspiel noch mal launig nachzuerzählen, statt eine Tiefenanalyse des Taktikgeschehens zu machen. Die von RTL und „Bild“ kalkuliert hingeworfenen Häppchen über das Privatleben vermeintlicher Superstars wiederzukäuen ist einfacher, als ein Soundcheck von billig produzierten Pop-Hits. Und ein Anruf bei einem Parteienforscher geht schneller, als die Webrecherche nach brisanten Dokumenten aus den Ministerien. Doch das Feedback der Nutzer zeigt, dass die Mühen, die die journalistischen Laien auf sich nehmen, honoriert werden.

Zeit für eine E
hrenrettung:

Natürlich können auch Profi-Journalisten online. Zum Beispiel die Statistikwühler von „OpenDataCity“, die in Kooperation mit der „Süddeutschen Zeitung“ und der „taz“ gleich zwei Mal beim Grimme Online Award nominiert waren. Datenjournalismus bleibt damit einer der wichtigsten Medien-Trends. Wie man aus einem in eine Excel-Tabelle gepressten Zahlenwust eine spannende Geschichte herausholt, dürfte in wenigen Jahren fester Bestandteil jeder guten Volontärsausbildung sein.

Aber auch das Format der Webreportage erlebt einen Aufschwung. Nicht als klassisch geschriebener Text, der, ergänzt um zwei Videos und eine Bildergalerie, zum Multimedia-Erlebnis verklärt wird. Vielmehr etabliert sich die Webreportage als eigene, hochkomplexe Stilform, die gleichermaßen ein Gespür für journalistisches Erzählen wie ein Händchen für die richtigen Web-Werkzeuge braucht. Was sich an der Reportage auch im Netz nicht verändern wird: Sie bleibt die Königsdisziplin des Journalismus, die viel Aufwand bei Recherche und Komposition verlangt. Doch wer diese Mühe nicht scheut, wird mit einem Ergebnis belohnt, das ähnlich überzeugend geraten kann, wie die Webreportage des Schweizer Fernsehens (SF) über die Züricher Langstrasse, einst so eine Art Reeperbahn der Schweiz (http://360langstrasse.sf.tv/). Ihren Wandel zu einem Szenequartier dokumentiert der Sender auf einer eigenen Webseite. Buchstäblich kann der Nutzer im Netz die Straße entlangspazieren, per Mausklick einzelne Geschäfte und Häuser betreten und deren Bewohner kennenlernen. Untermalt mit Originalgeräuschen und eingeblendeten Live-Tweets von der Straße erlebt der Nutzer die Straße fast so, als würde er sie wirklich entlanglaufen. Ein halbes Jahr dauerte die Produktion des echten Multimedia-Erlebnisses, sagt Sibylle Winter vom SF, die die Reportage als Begleitung zu einer TV-Doku konzipiert hat. Die größte Stärke der Webreportage für sie: „Der Nutzer folgt keinem vom Autor oder Regisseur vorgegebenen Erzählstrang, sondern bestimmt selbst, wie lange er bei einem Protagonisten verweilen will.“

Alle hier genannten Beispiele haben eins gemeinsam: Sie haben für ein bestimmtes Thema die richtige Präsentationsform im Netz gefunden. Diese Kunst zu beherrschen, wird für Online-Journalisten die große Herausforderung, sagt Stefan Plöchinger: „Noch gelingt es den Medien zu selten, aus den unendlichen Möglichkeiten des Internets immer die richtige herauszupicken, um auch das entsprechende Publikum zu erreichen.“ Anders formuliert: Jahrelang hatten Journalisten nur einen Hammer als Werkzeug zur Verfügung, mit der Folge, dass jedes Thema zum Nagel wurde. Dabei liegen in der Kiste längst viel interessantere und durchaus filigranere Werkzeuge parat. Für manche braucht man eine seitenlange Anleitung, andere lassen sich intuitiv sofort bedienen. Das Entscheidende aber ist: Man muss sich trauen, den Hammer endlich wegzulegen.

mail@moritz-meyer.net

medium:tipp

Zum Weiterlesen und Selbermachen: Die aktuelle Journalisten-Werkstatt „Format Webvideo“ von Markus Hündgen@videopunk. Die Werkstatt ist im Abopreis von „medium magazin“ imbegriffen, separate Bestellungen (4,99 Euro zzgl. Versand) über: vertrieb@mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 34 bis 35 Autor/en: Moritz Meyer Ist Freier Journalist in Köln.. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.