Luft nach oben

Auch im zwanzigsten Jahr ist die Lead Academy für Überraschungen gut. Die Opernzeitschrift „Max Joseph“ – selbst für etliche Medienprofis noch völlig unbekannt – gewann bei den diesjährigen Lead Awards die Goldmedaille in der Königsdisziplin Lead-Magazin des Jahres. Die Jury war beeindruckt, „wie ein eher elitäres und als verstaubt angesehenes Thema unglaublich frisch, zeitgemäß und für jedermann zugänglich umgesetzt wird“. Der Herausgeber, die Bayerischen Staatsoper, holte sich die Unterstützung von Hoffmann und Campe und die des Artdirektors Mirko Borsche, der bereits mit einigen Lead Awards dekoriert ist. Im Grunde aber setzen Magazinneulinge aus der Theater-Dramaturgie ihre Ideen um, übertragen eine Oper in Comicform oder inszenieren Opernsänger als Popstars.

2011 sind viele Newcomer-Magazine neu auf den Markt gekommen, stellt Markus Peichl, Vorsitzender der Lead Academy, fest: „Dabei zeigt sich, dass neue Impulse bei der Zeitschriftenproduktion zunehmend aus Nischenbereichen kommen – abseits der Kernkompetenz der großen Verlage. Es ist ein unfassbarer Umbruch im Gange.“

Dazu zählt Peichl auch das Gratismagazin „Vice“. Nach Meinung der Jury werde damit „bewiesen, dass Print auch für Konsumenten unter 30 funktionieren kann“. Die Zeitschrift mit ihrer Mischung aus aktuellen politischen Themen, Mode und Lebenswirklichkeit, ist nur ein Bestandteil einer weltweiten Community, die auf einer Website und bei Events den Nerv einer jungen Leserschaft trifft. „Vice“ gewann gleich mehrere Preis und erielt zudem die Bronzemedaille in der Kategorie Lead-Magazin. Silber ging an das „SZ-Magazin“. Grund für die erste Auszeichnung seit fünf Jahren ist laut Jury „der erhebliche qualitative und blattmacherische Aufwärts-trend nach dem Chefredakteurswechsel Mitte letzten Jahres“.

Auch in der Kategorie Newcomer-Magazin des Jahres haben Independent-Produkte die Nase vorn. Sieger wurde „Weekender“, ein Magazin, das laut Peichl „eine Ode an das kunstvolle Genießen“ ist. Silber erhielt „Muh“, ein zeitgemäßes Abbild der bayrischen Lebensart. Das Blatt mit dem Schreibfehler im Titel, die „Kindertseitung“, erhielt Bronze. Ingo Tauborn, Kurator der Hamburger Deichtorhallen, wo die etwa 200 nominierten und ausgezeichneten Arbeiten derzeit ausgestellt sind, nennt die Lead Awards eine „Standortbestimmung der Kreativszene“, denn in den fünf Fachjurys urteilen 125 Zeitschriftengestalter, Redakteure, Fotografen und Webdesigner. „Wir wollen Mut für Experimente fördern, zeigen, dass Innovation sich lohnt – unabhängig von marktökonomischer Logik“, sagt Markus Peichl. Dazu gehört eine gewisse konzeptionelle Beweglichkeit. „Online übernimmt die Funktion von Zeitungen, Zeitungen übernehmen immer öfter die Funktion von Zeitschriften“, sagt Markus Peichl. „Was früher der Seite drei vorbehalten war, zieht sich immer mehr über ganze Ausgaben. Dieser Entwicklung tragen wir jetzt Rechnung.“

Erstmals zeichnet daher die Lead Academy Zeitungen aus. Zur „Zeitung des Jahres“ kürte sie die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“, denn das Blatt sei „ein Vorreiter der Veränderungen … die seit ihrem Start vor elf Jahren wesentliche Impulse setzt“, so die Jury (einen Preis gab es auch für das FAZ-Fotokonzept auf der Seite eins). Silber ging an „Die Zeit“, Bronze an die „taz“.

Neue und vor allem ungewöhnliche Wege beschritten die „B.Z.“ und „Die Welt“, die jeweils mit einer Goldmedaille für die „Einzelleistung des Jahres“ belohnt wurden.

Die „B.Z.“ erschien an einem Tag mit einer Ost- und einer Westausgabe. Weiße Stellen im Layout sollten verdeutlichen, was jeweils im anderen Teil Deutschlands nicht zu lesen wäre, gäbe es die Mauer noch. „Die Welt“ publizierte eine Ausgabe, die durchgängig von dem Minimal-Art-Künstler Ellsworth Kelly gestaltet wurde. Zeitung wird zur Kunst.

Zwischen Kunst und Dokumentation bewegen sich die Nominierungen in den Fotodisziplinen. Dies sogar innerhalb einer einzigen Arbeit. Grenzgänger Paolo Pellegrin legte mit seiner Kolumne „Expeditionen“ im „Zeit Magazin“ eine fotografische Jahresbilanz hin, die ihm die Goldmedaille als „Reportagefotografie des Jahres“ einbrachte.

Von der Ästhetik der Turmspringer (s. S. 32) bis hin zu blutigen Kriegsszenen spielt der italienische Magnum-Fotograf auf seiner eigenen stilistischen Klaviatur, setzt in der Serie Alltägliches neben Weltereignisse. Im Text liefert er zu jedem Bild Hintergrundinformationen. Paolo Pellegrin: „Es war eine großartige Möglichkeit, ein Jahr lang mit einer großen Leserschaft in einen Dialog zu treten. Die Highlights meiner bisherigen Arbeiten sollen zeigen, was das Herz dokumentarischer Fotografie sein kann.“

Eine sehr kühle, leicht distanzierte, aber entlarvende Bildsprache dagegen pflegt der junge deutsche Fotograf Julian Röder, der zur Zeit des Arabischen Frühlings eine Waffenmesse in Dubai beobachtete. Seine Fotoserie, die das waffenstarrende Verkaufstheater ad absurdum führt, gewann Silber. Der Gewinner einer Bronzemedaille in der Reportagefotografie hatte es zur Preisverleihung nicht weit. Henrik Malström arbeitet zurzeit in den Ausstellungshallen am Deichtor als Aushilfe. Der finnische Fotograf veröffentlichte in „Dummy“ eine Geschichte über das langsame Sterben seiner Schwester.

Im Angesicht des Todes, nämlich während der Liquidierung Osama bin Ladens, entstand das „Foto des Jahres“ der Lead Awards. Pete Souza, Leibfotograf von Barack Obama, lichtete den Krisenstab des Weißen Hauses beim Public Viewing der Geheimaktion ab – ein Bild, das die USA-Regierung zwar freigab, aber inzwischen ungern veröffentlicht sieht.

Silber erhielt Yuri Kozyrev mit einer Aufnahme aus dem Bürgerkrieg in Libyen. Das Bild wurde bereits beim diesjährigen World Press Photo Award ausgezeichnet. „Es ist das einzige der vier wichtigsten World-Press-Siegerfotos, das in Deutschland erschien – zumal noch in dem relativ unbekannten Nischentitel „Kraut“. Die anderen drei Fotos wurden von den Bildredaktionen schlichtweg übersehen“, berichtet Markus Peichl: „Hier besteht also durchaus Luft nach oben, um durch eine bessere Fotoauswahl die Qualität deutscher Magazine zu verbessern.“

Manfred Scharnberg

ist Fotograf, Autor und Chefredakteur des „Freelens Magazin“.

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Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 30 bis 31 Autor/en: Manfred Scharnberg. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.