„Mit Massenware kommen Sie nicht weiter“

„Deseret News“ ist keine typische Lokalzeitung, Deseret Digital Media nicht die typische Internetabteilung eines regionalen Medienhauses. Inwieweit lassen sich Ihre Prinzipien auf andere Verlage übertragen?

Clark Gilbert: Ich weiß, meine Situation ist aufgrund meines Publikums nicht direkt vergleichbar. Aber auch andere Medienmacher können sich ernsthaft fragen: Welche Werte zählen für mein lokales Publikum? Vielleicht Erziehungsthemen? Soziale Gerechtigkeit? Kulturelle Werte? Gibt es irgendetwas innerhalb der Gemeinschaft, das einzigartig ist? Ich kenne die Situation in Deutschland nicht gut. Aber auch in den USA gibt es gewachsene Regionalzeitungen, die im Internet ihr Publikum gefunden haben. Boston.com hat mit den Sportvereinen der Region und den Universitäten Themen gefunden, in denen das Unternehmen Weltklasse sein kann. Zudem gibt es reine Digitalinhalte. Rund 80 Prozent der Zugriffe auf boston.com erfolgen nicht auf die redaktionellen Inhalte des „Boston Globe“. Boston.com hat mittlerweile mehr als 300 Millionen Seitenzugriffe im Monat und ist eine der führenden Zeitungs-Websites in den USA. Wenn ich eine Zeitung in Deutschland hätte, würde ich versuchen herauszufinden, was die Menschen wirklich interessiert und wo ich redaktionelle Spitzenqualität liefern kann. Es gibt immer etwas Einzigartiges: die Gegend, die örtliche Wirtschaft, Tourismus. Sie können nicht alles für alle liefern. Sie müssen auf einigen wenigen Gebieten Weltklasse sein. Mit Massenware kommen Sie nicht weiter. Und Sie brauchen eine „Digital Only“-Strategie. Zeitungs-Websites, die keine haben, werden gegenüber den reinen Online-Wettbewerbern verlieren. Wenn Sie Qualitätsjournalismus erhalten wollen, müssen Sie reichweitenstarke und erfolgreiche Produkte generieren. Das geht nur mit „Digital Only“.

Werte zu finden, mit denen man wachsen kann, fällt regionalen Zeitungen sicherlich schwerer als nationalen Titeln.

Nicht unbedingt. Schauen Sie sich die „Washington Post“ an. Das war zunächst einmal eine lokale Zeitung, die gut in Politik war. Und Politik interessiert eine Menge Leute. Das ist jetzt keine perfekte Analogie zu klassischen Lokalzeitungen. Aber wenn Sie in einem Bereich wirklich gut sind, können Sie wachsen.

Ein wichtiger Bereich Ihres Gesamtkonzepts für „Deseret News“ und Deseret Digital Media sind nutzergenerierte Inhalte. Wie gehen Sie mit Nutzern um, wie kann man Missbrauch verhindern?

Es gibt mehrere Möglichkeiten. Klar darzustellen, dass es sich bei nutzergenerierten Inhalten nicht um Ihre eigenen redaktionellen Beiträge handelt, ist sehr wichtig. Man kann die Inhalte klar trennen, Missbrauch muss schnell beseitigt werden können. Unsere Nutzer müssen sich auch registrieren. Eine gute Möglichkeit ist auch, klar zu formulieren, was man erwartet. Nehmen Sie zum Beispiel unseren Family Media Guide. Wir stellen zwei klare Fragen: Ist ein Film familientauglich und die Zeit wert? Unsere Nutzer lieben ihn, sie sind engagiert, tauschen sich aus und helfen uns, das Produkt mit Leben zu füllen. Sobald Sie wirklich verstanden haben, was Ihre Nutzer interessiert, werden diese motiviert sein, sich zu beteiligen. Meinen Nutzern beispielsweise sind ihre Kinder wichtig. Uns ist das Thema auch wichtig und deshalb wollen unsere Nutzer uns dabei unterstützen, einen guten Job zu machen. Im Fall von Deseret Connect verlangen wir Beispielartikel, einen Lebenslauf, ein Social-Media-Profil, Kontaktinformationen und ein Interview mit dem Bewerber. Dann können sie anfangen zu schreiben, aber wir werden ihre Inhalte nicht featuren, bevor sie sich nicht einen Ruf als zuverlässiger und glaubwürdiger Autor erworben haben. Bewährte Autoren bekommen dann nach und nach interessantere Aufträge und mehr Verantwortung.

Sie plädieren für die Einführung strikt getrennter Unternehmensteile. Welche Ressourcen braucht man minimal für ein digitales Team?

In den USA gibt es eine Faustregel: Zehn Prozent der Unternehmenserlöse von Zeitungen sollen aus digitalen Medien kommen, um die Zukunftsfähigkeit zu erhalten. Wir halten diesen Wert für viel zu niedrig. Bei uns kommen schon jetzt mehr als ein Viertel der Umsätze aus dem Digitalbereich, 2015 sollen es die Hälfte sein. Wenn also in Kürze die Hälfte des Gesamtumsatzes aus dem Digitalgeschäft stammen soll, investieren Sie (deutsche Verlage, Anm. d. Red.) dann heute schon genug?

Wenn man sich als lokales Medium neu erfinden möchte, wo sollte man anfangen?

Sie brauchen eine separate digitale Organisation mit eigenständigem Personal, die unabhängig vom Mutterhaus agieren kann. Suchen Sie sich eine digitale Gallionsfigur, die lokale Talente anzieht. Zahlen Sie gut. Dann kann der digitale Unternehmensteil die eigentliche Transformation vorantreiben und die Zeitung sich gemäß ihren Möglichkeiten weiterentwickeln. Wenn Sie alle Geschäftsbereiche gleichzeitig von innen heraus zu verändern versuchen, werden Sie nie die volle Transformation schaffen. Ich habe mein Team in ein digitales Team und ein Zeitungsteam aufgeteilt. Das Zeitungsteam kümmert sich um die Zeitung: effizientere Produktion, konsequent an unseren Werten ausgerichtete Inhalte, klare Markenführung. Das ist schon schwierig genug. Aber dieses Team muss nicht auch noch den ganzen digitalen Wandel stemmen. Sie müssen sich natürlich mit „Digital First“-Überlegungen auseinandersetzen. Aber alle unsere „Digital Only“-Inhalte verantwortet das digitale Team.

Sie haben Ihre Sonntagsausgabe zu einem gedruckten nationalen Titel gemacht, der rasant wächst. Was für ein Konzept steht dahinter?

Es ist ein nationaler Titel mit durchschnittlich 16 Seiten, der sich ausschließlich auf unsere sechs redaktionellen Schwerpunktthemen konzentriert. Alles Lokale wird lokal abgehandelt. Ich bemühe mich darum, das schneller und effizienter hinzubekommen. Aber ich investiere in diese sechs Bereiche. Diese Geschichten werden für die Sonntagsausgabe aus der laufenden Berichterstattung der Woche extrahiert und national verbreitet. Wir vertreiben die Ausgabe einerseits direkt an Abonnenten. Zum anderen haben wir Partnerschaften mit Universitäten und anderen Zeitungsverlagen, die diese Ausgabe zusammen mit ihren eigenen Produkten zustellen. Seit dem Start vor acht Monaten konnten wir unsere Auflage verdoppeln.

Zur Person

Clark G. Gilbert ist seit 2010 Präsident und CEO von Deseret Digital Media und der „Deseret News“. Zuvor hat er an der Harvard Business School untersucht, wie sich technische Innovationen auf Zeitungsverlage auswirken.

In Salt Lake City trennte er das Zeitungsgeschäft von den digitalen Unternehmungen der Gruppe und setzte beide Bereiche auf einen außergewöhnlichen Wachstumskurs (siehe Seite 42 f.).

Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 44 bis 45 Autor/en: Interview: Katja Riefler. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.