Muss man … Promis schützen?

Erinnern Sie sich an Michael Schumacher? Michael Schumacher war der erfolgreichste deutsche Rennsportler überhaupt. Er hielt alle Rekorde, die man fürs Im-Kreis-Fahren nur halten kann. Als er mit 37 Jahren seine Karriere für beendet erklärte, war das Unverständnis groß. Schumacher aber wusste: Mehr Ruhm kann es nicht geben, wohl aber mehr Nackenschmerzen – und hörte auf. Für die Männer, die über ihn schrieben, war er ein Rennfahrerriese in Menschengestalt. Sie bezeichneten ihn von nun an als „Titan“ und Schumacher kreiste im Himmel der Unsterblichen.

Aus irgendeinem Grund – Langeweile, Aufmerksamkeitsmangel, Geld futsch, neue Nackenschmerzsalbe – kehrte er nach vier Jahren in den Rennsport zurück. Dort dreht er nun in ewig kaputten Autos auf Plätzen, die kaum mehr in der Wertung auftauchen, seine Runden.

Sie fragen sich, warum ich Ihnen das hier, wo es doch um den Anstand in unserer Branche gehen soll, erzähle. Nun, es soll um die Frage gehen, ob man Menschen, die im Rahmen einer durch die Medien geschaffenen Öffentlichkeit Ruhm, Achtung und Respekt zu verlieren haben, vor sich selbst schützen muss. Bislang tauchte die Frage nach dem Schutz vor sich selbst vor allem im Kontext der Privatsender auf. Im Zusammenhang mit der Inszenierung von Menschen, die nicht wissen, welche Folgen ein Fernsehauftritt haben kann, und mit der Zurschaustellung von Personen, deren Leben so desolat ist, die so wenig intelligent oder eigenartig sind, dass diese Zurschaustellung als „Freakshow“ bezeichnet werden darf. Aktuell aber muss diese Frage auch auf jene ausgeweitet werden, die sehr wohl wissen, was es heißt, im Fernsehen zu sein, beziehungsweise deren Lebensgrundlage das Fernsehen darstellt.

Nicht einmal drei Wochen sind seit der unrühmlichen Absetzung von Thomas Gottschalks „Gottschalk Live“ in der ARD vergangen, da gibt RTL bekannt, der Entertainer würde neben Dieter Bohlen Jurymitglied bei „Das Supertalent“. Der Impuls bei dieser Nachricht sind Fragen wie: Warum tut er das? Kann er nicht erst einmal die Wunden heilen lassen, bevor er sich an die Seite einer Menschen herabsetzenden Rampensau bei einem Sender mit fragwürdigem Ruf begibt? In den gleichen Tagen erschienen auch erste Kritiken zu Lothar Matthäus’ Personality-Doku. Doch was heißt „Kritiken“? Es sind Verrisse. Bekenntnisse des Fremdschämens und der Hilflosigkeit im Angesicht der Frage: Warum macht Matthäus alles, sprich: sein Image, noch schlimmer?

Nun muss man zwei Dinge unterscheiden: Ob es sich um jemanden handelt, der in seinem ureigensten Medium versucht, an alte Erfolge anzuknüpfen, wie Gottschalk oder Linda de Mol, die vor wenigen Wochen gesichtspräpariert mit ihrem Comebackversuch einer Spielshow auf die Nase fiel, oder Margarethe Schreinemakers, die als die Publikumsversteherin ins Fernsehen zurückzukommen trachtete, oder um Menschen wie Lothar Matthäus oder Boris Becker, die an anderer Stelle berühmt geworden sind und nun hoffen, das Fernsehen möge ihren Ruhm fortsetzen. Und dadurch ihren Abstieg beschleunigen.

Generell muss man natürlich sagen: Dies ist ein freies Land. Jeder hat das Recht, mit seinem Leben anzufangen, was er oder sie will. Im Zuge dieser Freiheit steht es weder unter Strafe, das eigene Leben noch die Karriere zu beenden. Man kann also beenden, was man möchte: seinen Telefonvertrag, seine Beziehung, seinen Heldenstatus. Jeder ist seines Glückes Schmied. Und doch – und das ist das Spannende – gibt es unter uns Außenstehenden den Impuls, den Abstieg verhindern zu wollen. Es gibt den Impuls, verhindern zu wollen, dass Thomas Gottschalk jetzt zu RTLs „Supertalent“ geht, sich zum „Assistenten von Bohlen“ macht, wie es im Mediennewsletter von Peter Turi witzelnd hieß. Warum? Nun, weil Gottschalks Erfolg auch unser Erfolg ist, Matthäus’ oder Boris Beckers Ausnahmestatus auch unser Ausnahmestatus ist. Weil wir an Gottschalks Seite waren, als er vom lustigen Radiomoderator zum „Showgiganten“ wurde. Wir haben diese Menschen auf ihrem Weg begleitet, haben Bindungen aufgebaut und begreifen sie als Teil unseres Wir-Verständnisses und unseres Deutschlandbilds. Sie scheitern zu sehen, heißt unsere Mühe vergebens, unser Vertrauen verspielt zu sehen. Es ist nichts, das wir aushalten möchten.

Warum erfolgsverwöhnte Prominente wie Gottschalk einen gewissen Grad an Demontage in Kauf nehmen, scheint auf der Hand zu liegen und kreist um den Begriff „Eitelkeit“. Auch scheint klar, dass man bei diesen Leuten nicht auf Erkenntnis bauen kann. Muss also das Fernsehen, das sich zur Aufgabe macht, die Wünsche und Träume seines Publikums abzubilden, die Titanen genauso vor ihrem Untergang schützen, wie es die medienunerfahrenen und mitunter grenzdebilen Protagonisten schützen muss?

Ich wünschte, ich könnte sagen, ja. Dann richtete man die KUS ein, die „Kommission zur Unfreiwilligen Selbstkontrolle“, und hielte die Größen des Landes davon ab, sich herabzuwirtschaften. Aber so ist es nicht. Diese Leute sind erfahren genug, die Tücken des Dschungels „Fernsehen“ zu kennen. Wer darin umkommen will, soll dies tun. Die Chance aufs Scheitern als Ausdruck der Persönlichkeitsentfaltung gehört dazu. Und auf Seiten des Publikums heißt diese Freiheit: die Möglichkeit, nicht hinzuschauen. Das allerdings hieße, den wohligen Grusel, der der Schaulustigkeit innewohnt, im Zaume halten zu können. Und zu wollen.

Illustration: Luis GraÑena

Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 73 bis 73. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.