Wachstum mit Werten

Clark Gilbert war Harvardprofessor – und leitet nun ein Medienhaus in Salt Lake City. Und zwar mit riesigem Erfolg. Denn er weiß, was er tut: Während seiner Zeit an der Harvard Business School erforschte er, wie sich Verlage dem digitalen Wandel anpassen – und welche Strategien nicht funktionieren.

Auch deshalb hat journalistische Massenware für Clark Gilbert ausgedient: „Sie müssen Weltklasse-Inhalte liefern – sonst sind Ihre Nutzer nur einen Klick entfernt von etwas Besserem“, erklärt der Geschäftsführer der Sonntagszeitung „Deseret News“ und Deseret Digital Media. Weltklasse-Inhalte – die kann seiner Auffassung nach auch eine Lokalzeitung mit einer gedruckten Auflage von nur 50.000 Exemplaren erstellen (s. Interview S. 44 f.). Mit einer ausgefeilten Strategie fürs Printprodukt und ein Netzwerk digitaler Angebote hat Gilbert seine Zeitungsgruppe auf Wachstumskurs gesetzt: Die national verbreitete Sonntagszeitung hat ihre Auflage im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, die digitalen Werbeumsätze steigen seit 2010 Jahr für Jahr um 30 Prozent und die Reichweite der digitalen Produkte soll sich 2012 mehr als verdreifachen.

Die Erkenntnisse, auf die Gilbert zurückgreift, gewann er unter anderem, als er wissenschaftlich erforschte, wie sich neue Technologien auf etablierte Industrieunternehmen auswirken. In „The Innovators Dilemma“ schrieb er mit Kollegen 1997 erstmals über ein verblüffendes Phänomen: Treten Technologiesprünge auf, setzen sich in der Regel Newcomer gegen die alten Marktführer durch. Quer durch alle Industriezweige zeigte sich das gleiche Bild: Selbst wenn die traditionellen Firmen die Relevanz neuer Technologien erkannten, machten andere das Geschäft. Gerade die an den Universitäten gelehrten und lang erprobten Managementstrategien, die die Zukunftsfähigkeit eines etablierten Geschäfts sichern, scheinen das Nutzen von neuen Marktchancen zu verhindern und die Innovationskraft zu lähmen. Nur neun Prozent der untersuchten Unternehmen konnten sich im Wettbewerb behaupten. Alle ließen neue Produkte und Geschäftsmodelle außerhalb ihres Stammgeschäfts in unabhängigen Unternehmensteilen entwickeln und testen.

Das Rad nicht neu erfinden

Und auch als Gilbert in Harvard das Phänomen in Bezug auf Tageszeitungen und ihren Erfolg im Internet untersuchte, zeigte sich: Zeitungen, die digital nichts weiter als ihre Printinhalte anboten, erreichten nur einen Bruchteil des Publikums, den Verlage mit umfassenderen Services erreichen konnten.

Mit „Deseret News“ und Deseret Digital Media in Utah will der Ex-Harvardprofessor nun auch in der Praxis zeigen, wie der Umbau eines Verlags gelingen kann. So konzentriert sich das Zeitungsteam auf redaktionelle Qualität und die Verbesserung des eigenen Produkts, das Online-Team verantwortet die Digitalstrategie. Es gehe nicht darum, das Rad neu zu erfinden: „Die guten Ideen sind längst da. Sie werden bislang nur von anderen umgesetzt“, erklärt Gilbert seinen Ansatz.

Hinter allen Aktionen steht die konsequente Ausrichtung an den Bedürfnissen und Interessen der Leser beziehungsweise Nutzer. Sorgfältig wurde analysiert, welches Publikum die „Deseret News“ hat – und potenziell erreichen kann. Es kam heraus, dass die Zeitung ein Grundwertesystem vertritt, das weit über die Grenzen des eigenen Verbreitungsgebiets auf Interesse stoßen könnte: „Wir bei der ‚Deseret News‘ mussten uns überlegen, in welchen Bereichen wir nicht nur gut sind, sondern die Weltbesten sein können“, so Gilbert.

Das Unternehmen definierte also einen Wertekanon, der nun permanent mit Leben gefüllt werden muss. Alle Inhalte, ob digital oder gedruckt, sollen die Grundhaltung und die Werte des Unternehmens spiegeln. Für die Redaktion bedeutet das, dass sie sich nun auf sechs Bereiche konzentriert, über die sie konsequent, intensiv und investigativ berichtet: Stärkung der Familie, Glauben in der Gemeinschaft, finanzielle Verantwortung, herausragende Bildung und Erziehung, Werthaltigkeit in Medien sowie soziales Engagement für Unterprivilegierte.

Auch Nutzer liefern Inhalte zu

„Eine gedruckte Zeitung, die ihre Leser über den ganzen Tag hinweg als einzige Informationsquelle mit allem Wissenswerten versorgt, kann es sich leisten, in Teilen nur Durchschnittsware zu liefern. Im Internet gilt diese Regel nicht mehr“, erklärt Gilbert. „Wir haben als Zeitungsverlage hohe Kosten für die Redaktion. Das ist in Ordnung. Aber wir haben noch zu hohe Kosten für redaktionelle Allerweltsprodukte. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten.“

Investiert wird in Utah in Qualitätsjournalismus, gespart bei weniger hochwertigem Pflichtstoff: der wird möglichst kostengünstig eingekauft oder outgesourct. Auch Deseret Digital Media ist enorm erfolgreich, im Vergleich zu anderen Zeitungsverlagen in den USA. Gilberts Mantra heißt dabei nicht „Digital First“, sondern „Digital Only“: Ein Großteil der Inhalte, die Nutzer digitaler Endgeräte fasziniere, findet er, lasse sich in einem Printprodukt gar nicht abbilden. Die Masse an Inhalten, die für ein zeitgemäßes und erfolgreiches redaktionelles Internetangebot erforderlich ist, kann seiner Auffassung nach zudem eine Redaktion alleine nicht erstellen. Bislang produzierten Zeitungsverlage digitale Inhalte mit dem zehnfachen Aufwand im Vergleich zu rein digitalen Inhalteanbietern – aber in der Regel nicht zehnmal besser. Nur wer sich auf seine Stärken konzentriere, könne diesem Dilemma entkommen. Gilbert baut auf eine Dreiteilung, wie sie Betsy Morgan propagiert, die ehemalige Geschäftsführerin der „Huffington Post“: Ein Drittel der Inhalte liefert die Redaktion zu, ein Drittel ein Expertennetzwerk, den Rest die Nutzer.

Gilberts Expertennetzwerk heißt „Deseret Connect“. Es startete im Juni 2010 und zählt mehr als 2.500 Mitglieder aus 45 US-Bundesstaaten und 15 Ländern. Die Inhalte, die sie liefern – teils explizit von der Redaktion angefragt –, werden tagtäglich auf Websites der Zeitungsgruppe veröffentlicht. Die einen schreiben über Lokalsport, andere über Kulturthemen oder schlicht über Herzensanliegen. Ein Honorar gibt es für die meisten nicht. Nutzer, die Autoren werden wollen, müssen sich bewerben, sie bekommen Hilfe beim Schreiben, die Redaktion fungiert als Qualitätskontrolle. „Deseret Connect hat sich zu einer großartigen Ergänzung für unsere Redaktion entwickelt. Es ersetzt sie nicht“, sagt Gilbert.

Die nutzergenerierten Inhalte beschränken sich auf klar definierte Bereiche. Wer mitmachen will, muss sich registrieren. Etwa beim „Family Media Guide“ auf deseretnews.com, wo beispielsweise Kinofilme danach beurteilt werden, wie familiengerecht sie sind. „Unsere Nutzer schätzen diese Beurteilungen stärker als die offiziellen Kritiken. Das Produkt ist so erfolgreich, weil wir einen Teil der Kontrolle abgegeben haben“, sagt Gilbert, die Zugriffszahlen seien enorm. Anderen Verlagen verkauft er Inhalt und Idee neuerdings in Lizenz.

Die „Digital Only“-Strategie zahlt sich wirtschaftlich aus: „Digital orientierte Kunden brauchen digital orientierte Verkäufer“, erläutert Gilbert. Sobald ein Kunde Personal und Geld in Onlinewerbung investiert, wird er von Deseret Digital Media betreut, und nicht mehr von der Anzeigenabteilung der Zeitung. Mit dieser Strategie löst sich Deseret Media langsam aus der Abhängigkeit vom Printbereich. Zwar habe auch die Printmannschaft seit 2009 die Erlöse aus dem Verkauf digitaler Produkte mehr als verdoppelt, so Gilbert, viel stärker gestiegen seien jedoch die reinen Onlineverkäufe: 55 Prozent der digitalen Anzeigenumsätze würden unabhängig von der Printmannschaft erzielt, 2009 waren es nur zehn. Möglich macht diesen Ertragssprung eine Strategie, die Online-Selbstbuchung und Telesales kombiniert
. Deseret Media setzt dabei stark auf den „Long Tail“, also kleine Kunden mit spezifischen Angeboten, für die traditionelle Medienanzeigen unerschwinglich geworden sind.

KATJA RIEFLER

ist freie Publizistin und Verlagsberaterin in München.

kr@risolutions.de

Erschienen in Ausgabe 07+08/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 42 bis 42. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.