Dann kamen die Therapeuten

Der 22. Juli 2011 begann für Marius Tetlie wie jeder normale Arbeitstag. In der Redaktion der Tageszeitung „Verdens Gang“ in der Osloer Akersgata, eine der auflagenstärksten Zeitungen Norwegens, bereitete der Nachrichtenchef mit den Kollegen gerade die Samstagsausgabe vor. Es war ein verregneter Sommertag, bei der Nachmittagskonferenz gab es nicht viel zu besprechen. Ein Nachklapp zu einer Story über Schlendrian bei der Polizei, ein Stück über politische Querelen rund um Ministerpräsident Stoltenberg –Tetlie freute sich auf einen ruhigen Dienst und das Wochenende. Gegen 15.25 Uhr holte er sich am Wasserspender etwas zu trinken.

In dem Moment zerfetzte ein Knall die Stille des Nachmittags. Die imposante Glasfassade des Zeitungshauses zerbarst, die Druckwelle fegte durch die Redaktionsräume, Alarmglocken schrillten, Qualm überall. „Mir war sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert ist“, erinnert sich Tetlie. „Ich rief: Wir müssen sofort raus hier!“

Das Redaktionsgebäude von „Verdens Gang“ (VG) liegt genau gegenüber der norwegischen Staatskanzlei, die der Terrorist Anders Behring Breivik mit seiner Autobombe attackierte, bevor er auf der Insel Utøya seinen Massenmord fortsetzte. 77 Menschen starben an diesem Tag. Das Verbrechen erschütterte des Land und seine knapp fünf Millionen Einwohner wie kein anderes Ereignis seit dem Überfall durch deutsche Truppen im Zweiten Weltkrieg.

Der Lauf der Welt

Die Medien des Landes beschäftigt das, was an jenem Tag geschah, bis heute. Fast täglich wird über die Hintergründe, die Ermittlungen, den laufenden Strafprozess gegen Breivik berichtet. Eine emotionale Belastung gerade für die Journalisten von VG, die den Bombenanschlag damals aus nächster Nähe erlebten.

„Verdens Gang“ heißt auf Deutsch: „Lauf der Welt“. VG ist ein Boulevardblatt, doch in Skandinavien pflegen sie im Vergleich zu anderen Ländern eine ziemlich seriöse Berichterstattung und haben einen hohen Anspruch, auch wenn es um schwierige Recherchen geht.

Die Redaktion war regelrecht ausgebombt. Und machte dennoch weiter mit ihrer Berichterstatterpflicht. „Zunächst hat es sich wohl einfach ausgezahlt, dass wir immer schon regelmäßig Brandschutzübungen abgehalten haben“, sagt Tina Stiegler. „Die Evakuierung ging sehr schnell und reibungslos.“ Stiegler gehört zur Geschäftsführung von VG und ist dort unter anderem für Personalfragen zuständig. Am Nachmittag des 22. Juli war sie bereits im Wochenende. Von dem Anschlag erfuhr sie im Auto auf dem Weg zum Ferienhaus, als ihre Mutter sie besorgt anrief, um zu fragen, ob sie noch im Büro sei. Stiegler kehrte um, um den Kollegen beizustehen. Denn eines war an diesem Nachmittag allen sofort klar – am 23. Juli musste unbedingt eine Zeitung erscheinen. Schließlich war der Bedarf an gründlicher und umfassender Berichterstattung wohl nie so groß wie an jenem Samstag nach dem Terror.

Als Stiegler in Oslo eintraf, war die Arbeit bereits in vollem Gange. Ein geistesgegenwärtiger Online-Redakteur, der seinen Laptop mitgenommen hatte, aktualisierte bereits Minuten nach der Explosion zum ersten Mal die Online-Ausgabe der Zeitung. Da stand er noch mitten auf der Akersgata, zwischen Trümmern und Verletzten. Nach der Räumung des zerstörten Zeitungshauses zog die Redaktion kurzerhand eine Straße weiter in ein anderes Gebäude des Schibsted-Verlags, zu dem VG gehört. Fast alle Mitarbeiter blieben im Dienst. Nur zwei bis drei Leute hätten darum gebeten, heimgehen zu dürfen, um bei ihren Familien zu sein, sagt Stiegler.

Im neuen Gebäude baute die Redaktion sofort einen provisorischen Newsdesk auf. Tetlie und seine Kollegen schickten erste Reporterteams los. Die Techniker kauften neue Rechner in umliegenden Computerläden – die meiste Ausrüstung war im zerstörten Verlagshaus. Die Verwaltungsmitarbeiter gingen Personallisten durch und telefonierten so lange, bis feststand: Alle VG-Mitarbeiter haben überlebt. Gerade als die Arbeit richtig in die Gänge kam, evakuierte die Polizei dann auch das Schibsted-Haus. Die Beamten fürchteten, in der Nähe könnte eine weitere Bombe versteckt sein. „Da sind wir ins nächste Hotel gegangen, ins Bristol, und haben gefragt, wie viele Zimmer noch frei sind“, sagt Stiegler. Sechs Suiten mietete sie für die Redaktion. „Das war dann unser Hauptquartier. In jedem Doppelbett saßen drei Journalisten und produzierten die Zeitung“, erinnert sie sich. Irgendwie gelang es, gegen ein Uhr nachts fertige Seiten in die Druckerei zu schicken. „Layoutpreise hätten wir damit kaum gewonnen“, sagt Stiegler. Aber immerhin: Es gab eine Samstagsausgabe.

Die Schäden an dem Redaktionsgebäude waren letztlich doch nicht so groß, wie zunächst angenommen. Bereits einen Tag nach der Explosion konnten zumindest einige der Büros wieder bezogen werden. Außer einigen leichteren Blessuren blieben alle Mitarbeiter körperlich unversehrt. Man könnte sagen, dass VG mit dem Schrecken davongekommen ist. Aber der Schrecken kann einen Menschen auch arbeitsunfähig machen. Darüber habe man schon bei den ersten Treffen der Führungskräfte nach dem Anschlag gesprochen, sagt Stiegler. „Bereits am Abend des 22. Juli war dann ein Krisenpsychologe bei uns im Hotel und hat Gespräche mit Mitarbeitern geführt, die das wollten.“

VG schickt öfter Journalisten in Krisengebiete und hatte darum schon vor dem 22. Juli feste Routinen für die Betreuung von Mitarbeitern, die im Job traumatische Erlebnisse hatten. „Aber das betraf ja nie mehr als eine Handvoll Leute, vor allem unsere Auslandsreporter.“ Jetzt mussten diese Routinen plötzlich auf die gesamte Belegschaft ausgedehnt werden, die am 22. Juli Dienst hatte. „Das war schon ein eigenartiges Gefühl“, sagt Stiegler.

Rechercheeinheit 22. Juli

VG bot seinen Mitarbeitern Einzelgespräche mit Psychologen an, in Gruppengesprächen erzählten Mitarbeiter, was sie erlebt hatten, einige blieben mehrere Monate in psychologischer Behandlung. „Mein Eindruck war, dass die Journalisten am besten damit klar gekommen sind“, sagt Stiegler. „Sie haben ja einen Beruf gewählt, der manchmal gefährlich sein kann. Und viele haben offenbar ganz gute Mechanismen entwickelt, um solche Dinge zu bewältigen.“

Nachrichtenchef Markus Tetlie gehört zu denen, die ganz auf ein Psychologengespräch verzichteten. „Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich das nicht brauche“, sagt er, er habe viel mit Kollegen geredet. Außerdem hat er seit dem Anschlag immer viel zu tun gehabt. Tetlie ist heute Leiter der Rechercheeinheit „22. Juli“, die im Haus nur „Terrorgruppe“ genannt wird. Ihm unterstehen mehr als ein Dutzend Redakteure, die sich seit einem Jahr ausschließlich mit Geschichten rund um die Attentate befassen. „Natürlich war das manchmal hart. Wir haben viel Leid zu sehen bekommen und in Gesprächen mit Augenzeugen hört man immer wieder fürchterliche Dinge“, sagt er. Besonders hart sei es für viele seiner Mitarbeiter gewesen, über den Prozess zu berichten, der im April in Oslo begann und der nun am 24. August mit dem Urteil gegen Breivik endete. Tagelang sagten die Opfer der Anschläge im Zeugenstand aus und schilderten in allen Details die grauenhaften Szenen, die sie am 22. Juli 2011 erlebt hatten. „Da kamen dann auch bei uns die Erinnerungen wieder hoch“, sagt Tetlie.

Viele Norweger empfanden das als unangenehm. Die Boulevardzeitung „Dagbladet“, VGs größter Konkurrent, hatte vor Prozessbeginn sogar einen Button auf ihrer Webseite installiert, mit dem die Leser per Mausklick auf eine Breivik-freie Startseite gelangen konnten. Man wollte den Leuten auf diese Weise ermöglichen, die Berichterstattung über den Terror einfach abzuschalten. Bei VG dagegen wurde diese Idee Tetlie zufolge gleich verworfen. „Di
ese Anschläge sind nun mal ein wichtiger Teil unserer Wirklichkeit“, sagt er. Das dürfe man als Journalist den Lesern nicht ersparen.

Tetlie hat früher schon aus Krisengebieten berichtet, etwa vom Tsunami in Südostasien im Jahr 2004. Aber selbst gestandenen Reportern konnte es im vergangenen Jahr schon mal zu viel werden, sagt er. „Unsere wichtigste Regel ist darum: Jeder darf sagen, wenn er nicht mehr kann und mal eine Pause oder ein paar freie Tage braucht“, sagt Tetlie. „Es ist kein Problem zu sagen: Das schaffe ich nicht.“

Dass jemand es ganz ablehnt, sich mit dem 22. Juli zu beschäftigen, habe er allerdings nicht erlebt. „Das ist schließlich die spannendste Geschichte, die es zur Zeit gibt“, sagt er: „Noch nie in meinem Berufsleben habe ich das Gefühl gehabt, dass meine Arbeit so wichtig war.“

Info

„Verdens Gang“, gegründet 1945

Chefredakteur und Herausgeber: Torry Pedersen

Auflage, werktags: 233.295

Ca. 470 Mitarbeiter

Internet- und E-Paperausgaben eingerechnet erreicht die Redaktion nach eigenen Angaben täglich mehr als zwei Millionen Leser, das entspricht mehr als 50 Prozent der norwegischen Bevölkerung über zwölf Jahre.

www.vg.no

www.schibsted.com/en/

Gunnar Herrmann lebt in Stockholm und ist Nordeuropakorrespondent der „Süddeutschen Zeitung“.

gunnar.herrmann@gmx.de

Erschienen in Ausgabe 09/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 44 bis 45 Autor/en: Gunnar Herrmann. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.