Wie bewerten Sie das vermehrte Aufkommen von Rechercheblogs?
Manfred Redelfs: Ich bewerte Rechercheblogs grundsätzlich positiv, genau wie die damit einhergehende Einrichtung von Rechercheteams bei deutschen Medien. Das zeigt ja, dass es eine Rückbesinnung auf Recherche als Qualitätsmerkmal gibt. Rechercheblogs sind ein guter Weg, ein verbreitertes Informationsangebot zu schaffen und mit Lesern in den Dialog zu treten. Dabei können die Journalisten auch handwerkliche Einblicke in die eigene Arbeit geben. Das halte ich für einen großen Wert.
Wurde dieser Wert, die eigene Arbeit transparent zu machen, erst in den letzten Jahren geschaffen oder gab es das eigentlich schon immer?
Der Fokus darauf hat deutlich zugenommen, auf Grund der technischen Möglichkeiten. Bei einem Leserbrief mussten die Leser sich früher immer durchringen, eine Stellungnahme zu einem Artikel zu schreiben und abzuschicken. Eine unmittelbare Reaktion war quasi nicht möglich. Die heutige Möglichkeit, Kommentare zu Artikeln in einem Redaktionsblog zu verfassen, hat somit schon eine neue Qualität – und viele Leser haben deshalb auch die Erwartung, dass eine Redaktion ihre Arbeit transparenter macht.
Wie ändern Blogs das Selbstverständnis investigativer Journalisten, die bislang eher so eine Art „Arbeit im Verborgenen“ gewohnt waren?
Positiv finde ich, dass mit diesem Mythos des investigativen Journalismus aufgeräumt wird. Das hat dem Beruf nicht gut getan. Die wirklich große investigative Recherche, bei der Informationen von erheblicher öffentlicher Relevanz gegen Widerstände erlangt werden, aufgrund der journalistischen Nachforschungen, gibt es ja gar nicht so häufig. Eher kommen Geschichten zustande, weil Informanten Hinweise liefern oder jemand gute Quellen bei der Staatsanwaltschaft hat. Oft arbeiten Medien auch mit engagierten gesellschaftlichen Gruppen zusammen, die schon einen Teil der Recherche geleistet haben. Die Journalisten überprüfen dann und drehen diese Dinge weiter. Das ist dann auch eine gute Recherche – aber nicht in jedem Fall passt das große Etikett „investigativ“.
Welchen Stellenwert hat denn die investigative Recherche in Deutschland in den letzten Jahren gehabt?
Ich sehe insgesamt eine positive Entwicklung, auch wenn diese Form immer die große Ausnahme bleiben wird. Gleichzeitig ist klar, dass der Journalismus vor einer großen Herausforderung steht. Herkömmliche Geschäftsmodelle kommen an ihre Grenzen. Die reine Nachrichtenübermittlung wird heute von Online-Medien besser erfüllt. Den Printmedien bleibt das Feld von Analyse und Hintergrund, gut geschriebenen Reportagen oder eben auch investigativen, exklusiven Geschichten. Damit kann sich ein Qualitätsmedium noch abheben. Insofern hat es seine Logik, dass sich mehr solcher Rechercheeinheiten herausgebildet haben, teilweise flankiert von Blogs.
Gruppen wie Greenpeace oder auch Lobbycontrol recherchieren auch und können ihre Ergebnisse im Internet sehr einfach präsentieren. Erwächst hier eine Konkurrenz für Journalisten?
An der grundsätzlichen Beziehung zwischen NGOs und Journalisten ändert das meiner Meinung nach nichts. Solche Organisationen brauchen trotzdem die Exklusiv-Vereinbarungen mit Medien, weil sie merken, dass sie damit ein größeres Publikum erreichen, als wenn sie die Information allein auf ihrer Website spielen. Diese Erfahrung hat ja auch Wikileaks gemacht. Die haben begonnen, indem sie exklusives Material auf ihre eigene Website gestellt haben, ohne dass es jemand aufgegriffen hat. Also haben sie die Medienkooperationen mit zum Beispiel dem „Spiegel“ begonnen.
Bei allen Möglichkeiten, die das Netz dem Recherchejournalismus eröffnet: Wo sehen Sie denn noch Probleme, die auch ein Blog nicht lösen kann?
Das grundsätzliche Problem der ganzen Profession ist das fehlende Erlösmodell. Bei der Finanzierung von Recherchen sind Blogs sicher keine Lösung, und Recherchejournalismus ist sehr teuer. Es sind bestimmte Voraussetzungen nötig, das professionell betreiben zu können. Das fängt bei der Ausbildung an und geht weiter damit, dass jenseits aktueller Berichterstattung die Arbeitsmöglichkeiten für vertiefte Nachforschungen geschaffen werden müssen. Die Frage, ob man einen Online-Kanal hat, um mit den Lesern in Kontakt zu kommen und weiteres Material wie interessante Dokumente online zu veröffentlichen, ist ein zusätzlicher Aspekt, der aber nicht bestimmend ist für Recherchejournalismus.
Wo sehen Sie noch weiteres Potenzial, Recherchen online zu begleiten?
Was ich mir wünschen würde, wären noch mehr Einblicke in die Arbeitsweise der Journalisten. Man kann auch mehr auf Recherchemethodiken eingehen: Der „Guardian“ gibt auf seinem Blog zum Beispiel auch Hinweise zum britischen Informationsfreiheitsgesetz und erklärt, wie man als Bürger selbst einen Antrag formuliert. Das sieht man in Deutschland noch eher selten.
Manfred Redelfs leitet die Recherche-Abteilung von Greenpeace und ist nebenberuflich als Recherchetrainer tätig, u. a. für die Henri-Nannen-Schule und den Verlag Gruner+Jahr. Nach dem Studium der Journalistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Washington, Berkeley und Oxford sowie einem NDR-Volontariat hat er mehrere Jahre als Journalist für den NDR gearbeitet; Promotion über Recherchejournalismus in den USA sowie Vertretung von Professuren in Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und in Journalistik an der Universität Leipzig; er ist Mitbegründer und kooptiertes Vorstandsmitglied von Netzwerk Recherche.
Erschienen in Ausgabe 09/202012 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 56 bis 57 Autor/en: Interview: Moritz Meyer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.