Motive von zu Hause

Er war nah dran. So dicht am Thema, wie es nur geht. Christopher Capozziello machte seinen Zwillingsbruder Nick zum Protagonisten seiner wichtigsten fotografischen Arbeit. Mit der Reportage „The Distance Between Us“ gewann der 32-jährige amerikanische Fotojournalist den „Lammerhuber Photography Award“ beim diesjährigen LUMIX-Festival für jungen Fotojournalismus in Hannover. In ergreifenden Bildern zeichnete er das von einem Spasmus namens infantile Zerebralparese bestimmte Leben seines Bruders auf – ein Leben zwischen Anfällen und medizinischen Torturen.

„Es ist schon merkwürdig. Wir Fotografen schwärmen aus, um Geschichten anderer Leute zu erzählen. Dabei versuchen wir so nah wie möglich an fremde Menschen heranzukommen. Ich habe mich aber gefragt: Warum erzählst du nicht einmal etwas aus deinem eigenen Leben“, berichtet Christopher Capozziello. Zu der Erkenntnis, dass die zunächst privat aufgenommenen Fotos auch Leser interessieren könnten, brauchte es ganze sieben Jahre. Zunächst verschwieg der Fotograf, dass der Abgebildete sein Bruder ist. Denn er wollte nicht auf der „Mitleidswelle reiten“, wie er sagt. Die als „Work in Progress“ getarnte Geschichte in seiner Fotomappe sei ausstellungswürdig, überzeugten ihn Bildredakteure. Was ihm einige Festivalauftritte und Auszeichnungen bescherte – und den Zuschauern die wahren Hintergründe.

„Es ist nicht nur Nicks Geschichte, es ist auch meine“, sagt Capozziello: „Denn als Zwillingsbruder hätte die Krankheit auch mich treffen können.“ Seine eigenen freien Fotoreportagen, die der Freelancer neben Aufträgen für „New York Times“, „Time Magazine“ und „Newsweek“ erledigt, folgen einem Prinzip. „Ich will keine breit angelegten Themen realisieren, sondern mich genauer auf einzelne Personen fokussieren“, erzählt Capozziello: „Denn ich möchte in ein Thema tief eintauchen können, um wirklich zu verstehen, was passiert.“ So hielt er es auch bei seiner Reportage über den Ku-Klux-Klan, die er an wenigen Protagonisten entlang erzählt. Auch Capozziellos Themenwahl hat System: „Ich finde Geschichten dort, wo ich lebe, Geschichten, die um mich herum passieren.“

So scheinen inzwischen immer mehr Fotografen zu denken. Denn den dramatischen Krisenszenarien und exotischen Geschichten aus fremden Ländern, die früher Preisverleihungen und Festivals allein beherrschten, stehen inzwischen öfter Reportagen zur Seite, die Alltag zeigen. Das war auch beim Lumix-Festival in Hannover zu entdecken, das mit 60 Ausstellungen, 22 Multimediastorys junger (bis 35 Jahre) Fotografen aus aller Welt sowie acht Vorträgen renommierter Fotoreporter zum interessantesten fotojournalistischen Event in Deutschland avanciert ist.

Distanz und Nähe

Einige der stärksten Geschichten spielen im Land der Fotografen. Das trifft auf etwa die Hälfte der 2012 präsentierten Ausstellungen zu. Um nur einige Beispiele (siehe auch Seite 18 f.) zu nennen: Jonas Ludwig Walter (28) besuchte den Bautrupp, der die nie fertiggestellte Bauruine des geplanten Atomkraftwerkes Stendal abreißt. Stefan Koch (34) hielt am letzten Tag die traurigen Reste in den Räumen des in Konkurs gegangenen Versenders „Quelle“ fest. Und Salvatore Esposito fotografierte in Scampia, dem sozialen Brennpunkt seiner Heimatstadt Neapel, Mitglieder der Mafia. Esposito: „Wenn ich nicht Neapolitanisch sprechen würde, hätten die mich nie akzeptiert.“

Ganz unspektakulär arbeitet Joanna Nottebrock. „Ich mag es, das Besondere im nicht so Besonderen zu finden“, sagt die 35-jährige Fotografin aus Hannover, die beim Lumix-Festival mit einer Reportage über den Umzug einer griechisch-deutschen Familie vertreten war. Claire und Panagiotis, ihre Protagonisten, sehen in Griechenland keine Zukunft mehr, vor allem für ihre Kinder. Sie geben ihre Jobs auf, um in Deutschland einen Neuanfang zu wagen, denn „Griechenland ist in einem Tunnel, ohne dass man Licht sieht.“

Nottebrocks Bilder (siehe Seite 18) kommen sehr pur daher, denn sie hat sich stärker als sonst auf Emotionen und Momente konzentriert. Sensibel fotografiert, transportieren sie die Unsicherheit der Familie, sich in einer neuen Welt zurechtzufinden.Joanna Nottebrock holt mit ihren Bildern die menschliche Seite der Euro-Krise nach Deutschland. Obwohl so ein Fall in den klassischen Medien bislang nicht zu sehen war, scheint es für diese nicht interessant genug zu sein. Zwar stieß die Fotografin in Redaktionen auf sehr positive Resonanz, dennoch folgert Nottebrock: „Es ist schwierig, Alltagsthemen unterzubringen, die scheinen bei Entscheidern offenbar geringe Wertschätzung zu genießen.“ Ihre Geschichte ist trotz der Aktualität noch unveröffentlicht.

Das Lumix-Festival macht einen Widerspruch sehr deutlich: Was dort in den Ausstellungen und den Vorträgen an exzellenter Fotografie geballt zu sehen ist, findet in unseren klassischen Medien selten statt. Es sind zwei Welten entstanden. Die der Fotoszene, die grandiose Reportagen euphorisch feiert, und die der Mainstream-Medien, die Fotografie lieblos abfeiert. Dabei ist Fotografie beliebt wie nie zuvor. An fünf Tagen nahmen 30.000 Besucher auf dem ehemaligen Expo-Gelände die aktuellen fotografischen Trends in Augenschein. Thomas Hoepker, Magnum-Fotograf und Jurymitglied beim Lumix-Festival, meint: „Wer behauptet, die Fotoreportage sei tot, sollte sich hier eines Besseren belehren lassen.“

Joanna Nottebrock, die gerade ihren Master-Abschluss an der FH Hannover gemacht hat, kann verstehen, dass auch Fotografen Alltagsthemen ablehnen. „Für manche wirkt es langweilig, weil die Umgebung zu vertraut ist. Das macht es schwieriger, vor der Haustür interessante Bilder zu finden. In fremden Ländern dagegen entdeckt man jeden Tag etwas Neues.“ Zwar wirkten manche Auslandsthemen oftmals distanziert, „doch der Blick von Außen kann auch sehr spannend sein“, meint sie.

Peter van Agtmael, Sieger des Hauptpreises, des „Freelens Award“, vereint beide Elemente in seiner Arbeit. „Unterschiedliche Perspektiven – die naheliegende, nach innen gerichtete, aber auch der Blick hinaus in die Welt – können sich gegenseitig befruchten“, meint der amerikanische Fotograf (31), der bei der Bildagentur Magnum „Associated Member“ ist.

Sein Fotoessay „Disco Night Sept. 11“ ist eine Aufzeichnung von Augenblicken aus der Zeit, in der der Fotojournalist auf einem schmalen Grat wanderte – zwischen seiner naiven Faszination, die er als Kind für den Krieg empfand, und der Brutalität, die er später als Kriegsfotograf im Irak und Afghanistan erlebte.

Wie ein Puzzle fügt Agtmael verschiedenartige Szenen zu einer Art Tagebuch zusammen. Dramatische Bilder stehen neben ruhigen, bedachtsame neben kuriosen. Reale Kriegsszenen wechseln sich mit Heimatbildern ab. Der Titel der Serie ist auf einem seiner Bilder zu lesen: Eine Leuchtreklame, die zum Abtanzen anlässlich des 11. September einlädt.

Geradezu verwirrend ist das Foto von Sanitätern, das in der Ausstellung neben dem Foto eines blutüberströmten Gesichtes eines amerikanischen GI zu sehen ist (siehe rechts). Das Porträt ist eine reale Kriegsszene, das Sanitäterbild stammt allerdings aus einem Trainingscamp in den USA – einer künstlichen Welt, wo Auszubildenden ein wenig Kriegsrealität vorgegauckelt wird.

Van Agtmael führt den Betrachter immer wieder in die USA zurück. „Diese Bilder sind meist Reaktionen darauf, was ich im Krieg erlebt habe. Denn einiges was in Amerika schief läuft, ist ein Ergebnis unserer Kriegserfahrungen“, berichtet er.

Zuhause stieß er des Öfteren auf Unverständnis gegenüber Kriegsbildern. „Die Kombination mit Fotos, die solchen Menschen näher sind, soll ihnen den Zugang erle
ichtern und wie eine Brücke zum Krieg wirken“, sagt er. So wie ihm selbst die Faszination vom Job des coolen Kriegsfotografen in der Realität abhanden kam, so wendet er sich immer mehr Themen im eigenen Land zu. „Die Ikonografie der Kriegsfotografie ist ziemlich festgefügt und einseitig“, kritisiert Peter van Agtmael. „Es gibt aber global so viele andere Dinge zu entdecken, dass es unsinnig ist, sich allein auf die konfliktbeladenen Krisenherde zu konzentrieren – auf nur einen ganz kleinen Teil der Welt.“

Manfred Scharnberg (61) ist Chefredakteur des „Freelens Magazin“. Als Fotograf und Autor betreut er außerdem einige Kundenmagazine.

scharnberg@freelens.com

Info Lumix-Festival

Das Lumix-Festival für jungen Fotojournalismus findet alle zwei Jahre statt. Teilnahmeberechtigt sind Fotografen aus aller Welt bis zu einem Alter von 35 Jahren. Eine Jury wählt 60 Fotoausstellungen und 22 Multimediastorys aus, die fünf Tage lang auf dem ehemaligen Expo-Gelände in Hannover zu sehen sind. Zusätzlich werden vier Auszeichnungen verliehen: Der Freelens Award (10.000 Euro), der Lumix Multimedia Award (5.000 Euro), der Lammerhuber Photography Award für die beste Alltagsreportage sowie der HAZ-Publikumspreis der „Hannoverschen Allgemeinen Zeitung“. Vorträge und Teilnahmebedingungen siehe: www.fotofestival-hannover.de

Medium:Online

Eine von Manfred Scharnberg getroffene weitere Auswahl an Fotos der diesjährigen Lumix-Teilnehmer finden Sie unter: www.mediummagazin.de

Erschienen in Ausgabe 09/202012 in der Rubrik „Titel“ auf Seite 18 bis 21 Autor/en: Manfred Scharnberg. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.