Streng vertraulich im Blog

Die Nacht taucht das Parkhaus in schwarz-blaue Dunkelheit. Ein Mann im Trenchcoat irrt zwischen den Autos hin und her. Plötzlich glimmt in einer noch dunkleren Ecke eine Zigarette auf. „Ich habe die Infos, die sie brauchen. Aber ich muss unerkannt bleiben“, sagt die Stimme hinter dem Zigarettenglühen. Ein paar Monate später ist Richard Nixon als US-Präsident abgesetzt. So stellte Hollywood im Film „Die Unbestechlichen“ die größte Enthüllungsgeschichte aller Zeiten nach. Der Watergate-Skandal prägt bis heute das Bild vom investigativ recherchierenden Reporter, der sich mit Insidern zu später Stunde zur Übergabe brisanter Infos verabredet. Heute würden Bob Woodward und Paul Bernstein wohl darauf verzichten, ihren Informanten „Deep Throat“ in einem zugigen Parkhaus zu treffen. Stattdessen könnte er den Reportern Informationen anonym über ihr Blog zuspielen.

Möglich machen das virtuelle Briefkästen für anonyme Informationen, wie sie vor ein paar Monaten beispielsweise die WAZ („Der Westen“), der „Stern“ und Ende Juli auch „Zeit Online“ eingerichtet haben. Schon länger experimentieren „Stern“, „Welt“, „taz“ oder WAZ mit eigenen Blogs, in denen Reporter berichten, was sie beispielsweise in Sachen Rechtsextremismus, Terrorismus oder Finanzkrise zutage gefördert haben. Sie veröffentlichen ihnen zugespielte Dokumente oder schildern, wie eine verdeckte Recherche abgelaufen ist. Nun rufen sie ihre Leser verstärkt auf, mit den Reportern in Kontakt zu treten. „Sie wollen uns anonym Informationen oder Dateien zukommen lassen? Das geht. Wir geben Informanten Schutz“, heißt es beispielsweise auf der Homepage des WAZ-Rechercheblogs, verbunden mit Links zu anonymen Postfächern. Der Trend ist klar: Im digitalen Zeitalter sollten auch und gerade investigative Journalisten die Möglichkeiten nutzen, die ihnen das Netz bietet. Oliver Schröm kennt noch die Zeiten, zu denen sich Journalisten über Kontaktanzeigen mit einem Informanten zum Treffen verabredeten. Und noch immer kommt es außerdem vor, dass sich ein Hinweisgeber anonym per Brief oder Telefon in der Redaktion des Wochenmagazins meldet. Doch das war auch früher schon die Ausnahme. „Die meisten Geschichten haben wir auf eigene Initiative hin gestartet“, sagt Schröm. Inzwischen ist das anders. Seit die Recherche-Unit des „Stern“ Anfang des Jahres den elektronischen Briefkasten startete, kann sie sich vor Hinweisen kaum retten. „Allein eine Person bei uns ist gut damit beschäftigt, alle eingehenden Hinweise zu sichten und gegenzurecherchieren“, berichtet Schröm.

In einem Fall nutzte das Team das eigene Blog sogar, um mit einer Quelle wieder in Kontakt zu kommen: Als die Reporter bei einem Thema in einer Sackgasse landeten, baten sie mit einem verklausuliert formulierten Blogeintrag den Hinweisgeber, sich noch mal in der Redaktion zu melden. Wenig später gingen die nächsten Tipps im anonymen Postfach ein. „Es ist eben die natürliche Art, wie Menschen heute kommunizieren. Dem wollen wir entsprechend begegnen“, sagt Schröm.

Tatsächlich kommt Medien wie dem „Stern“ oder der WAZ der Zeitgeist zugute. Daran hat vor allem die Whistleblowing-Plattform Wikileaks erheblichen Anteil – auch wenn nun schon seit Monaten weniger die Inhalte als ihr umstrittener Gründer Julian Assange für Schlagzeilen sorgt. Dennoch, seit den spektakulären Aufdeckungen von Wikileaks ist die Hemmschwelle, selbst streng vertrauliche Papiere öffentlich zu machen oder den Medien zuzuspielen, geringer geworden. Auch weil es nie so einfach war, Dokumente gleich aktenordnerweise ins Netz zu stellen. Davon können nun auch klassische Medien profitieren: „Bis zu zehn verwertbare Hinweise pro Woche kommen über den anonymen Briefkasten rein“, sagt David Schraven, Leiter der WAZ-Rechercheredaktion.

Vier fest angestellte Redakteure arbeiten derzeit dort, an den Start gegangen war das Team mal mit sechs Leuten. Das sorgte kürzlich für Wirbel, doch Schraven stellt dazu klar: „Ich bin mit der Reduzierung einverstanden. Das ist abgesprochen und in Ordnung.“ Die Redakteure würden Lokalredaktionen verstärken, was Teil einer großen Umbesetzung der WAZ-Redaktion sei. „Das Ressort Recherche agiert wie die ganze Redaktion nicht in einem luftleeren Raum, sondern muss in einem harten Wettbewerb bestehen.“

Doch der Zeitgeist spricht für die Entwicklung: Der Ruf nach mehr Transparenz wird in allen Bereichen der Gesellschaft lauter. Bürger wollen politische Entscheidungsprozesse von Anfang bis Ende nachvollziehen können, wollen wissen, woher ihr Essen kommt, wie sich Großprojekte wirklich finanzieren. Wenn die Mächtigen das nicht von allein öffentlich machen oder trickreich verschleiern, muss eben nachgeholfen werden. So missfielen einem Menschen die Bilanztricks, mit dem sich die Macher des „Klavierfestival Ruhr“ Fördergelder des Landes NRW sicherten. Der Informant spielte den WAZ-Rechercheuren über das Blog entsprechende Dokumente zu. Dort kann jetzt jeder die ganze Geschichte lesen und selbst einen Blick in die zum Teil internen Papiere werfen.

Das Problem mit den Trollen

Doch die anonymen Briefkästen ziehen auch jene an, denen jedes Forum im Netz recht ist, um auf Behörden zu schimpfen oder krude Verschwörungstheorien in die Welt zu setzen. Die sogenannten Trolle: Auch sie gehören zur Netzkultur dazu. Bewusst hat sich darum Jörg Eigendorf, Chef der Investigativ-Redaktion der „Welt“, bislang gegen ein anonymes Upload-Portal entschieden: „Wer uns ernsthaft Informationen zuspielen will, hat genug Möglichkeiten dazu. Auch anonym.“ Dennoch sieht Eigendorf das Potenzial des kurzen Drahts in die Redaktion, den ein Blog ermöglicht. „Man erfindet den Journalismus damit nicht neu. Aber es ergänzt die bestehenden Recherche-Möglichkeiten.“

Die zusätzliche Plattform verhindert auch, dass Quellen austrocknen: Die Hinweisgeber freut es, wenn sie sehen, dass aus ihren Tipps etwas gemacht wird, sagt Oliver Schröm vom „Stern“. Und auch Journalisten können sich mit der regelmäßigen Veröffentlichung kleiner und großer Recherche-Erfolge motivieren. Jörg Eigendorf sagt: „Im Blog lassen sich Hintergründe und Geschichten veröffentlichen, die keinen Platz im Blatt oder auf dem Nachrichtenportal hätten. Auf diese Weise können wir über die gewöhnliche Berichterstattung hinaus Akzente setzen.“ Nicht zuletzt sendet ein mit guten Inhalten gefülltes Rechercheblog ein wichtiges Signal nach draußen: Dieses Medium leistet sich noch aufwendige Recherchen, bleibt auch an brisanten Themen dran, notfalls gegen Widerstände. In Zeiten, in denen es schon fast zum Allgemeinplatz geworden ist, dass Recherche, Analyse und Hintergrund die wahren Stärken insbesondere von Printmedien sind, auf die man im Wettstreit mit Online-Medien setzen müsse, ist das ein wichtiger Faktor.

Ob sich das Medium Blog auch dazu eignet, besonders feste Schweigemauern einzureißen, will WAZ-Reporter Daniel Drepper jetzt herausfinden. Als Ableger des WAZ-Rechercheblogs hat er die Seite fussballdoping.de gestartet. Tatsächlich gibt es nur wenige Berichte dazu, wie verbreitet die verbotene Leistungssteigerung im Profifußball wirklich ist. „Das bringt im Fußball nichts“, verbreiten Leute wie Erfolgstrainer Jürgen Klopp immer wieder – obwohl Experten das Gegenteil für richtig halten. Die „Initiative Nachrichtenaufklärung“ setzte Doping im Fußball im Jahr 2011 deshalb auf ihre Liste der von Journalisten stark vernachlässigten Themen. Daniel Drepper will das nun ändern: „Ich will einfach eine Plattform für alle schaffen, die sich äußern wollen“, sagt er und schließt damit ausdrücklich Insider mit ein, die sich über kurz oder lang bei ihm melden sollen. Mit dem Blog will e
r das dafür nötige Vertrauen aufbauen. „Es geht darum zu zeigen, dass da jetzt einer ist, der an dem Thema dranbleibt“, sagt Drepper. Begonnen hat er erst mal mit einer Bestandsaufnahme der bekannten Dopingfälle, Aussagen von Wissenschaftlern, Erklärung von Grauzonen. Jetzt heißt es Geduld haben und die Erwartungen nicht zu hoch schrauben: „Es kann natürlich zwei oder auch vier Jahre dauern, bis dabei wirklich was rauskommt.“ Mit seinem Blog will Drepper zumindest sicherstellen, dass das Thema während dieser Zeit nicht einschläft, denn es soll künftig auch als Chronik und Archiv seiner eigenen Recherche dienen. Damit erfüllt er ganz nebenbei die Forderung nach mehr Transparenz, die eben nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern längst auch die Medien erreicht hat. Gerade investigative Journalisten sind darauf angewiesen, ihre Quellen zu schützen. Das stehe jedoch nicht im Widerspruch dazu, möglichst viel von der eigenen Arbeitsweise auf dem Blog zu veröffentlichen, meint David Schraven: „Die Quellen- und Informantenarbeit hat sich ja nicht geändert.“ Das heißt: Wer ungenannt bleiben möchte, bleibt das auch. Und dass Dokumente in der Zeitung wenn überhaupt nur auszugsweise gezeigt werden konnten, lag schlicht am Platzproblem. Das fällt im Netz weg.

Sebastian Heiser vom „taz“-Blog etwa präsentierte die Papiere, die seiner Geschichte über die Beteiligung an fragwürdigen Finanzgeschäften des neuen Deutsche-Bank-Chefs Anshu Jain zugrunde lagen, in voller Länge auf seinem Blog, mit ergänzenden Erläuterungen: „Ich sehe das aus Sicht unserer Leser: Für die ist es doch gut, wenn wir ihnen bestimmte Sachverhalte noch einmal ausführlich erklären können.“

„Im Interesse der Öffentlichkeit“

Wohin die Entwicklungen gehen könnten, macht einmal mehr ein Blick in die USA deutlich. Dort ist mit „Pro Publica“ ( www.propublica.org) ein Projekt entstanden, das Leserdialog und Recherche auf einmalige Art verbindet. Zum großen Teil über Spenden finanziert, arbeiten in Manhattan 34 fest angestellte Redakteure völlig unabhängig ausschließlich „im Interesse der Öffentlichkeit“, wie es in der Selbstbeschreibung heißt. Die Redaktion ruft Leser dazu auf, sich an Recherchen zu beteiligen, zum Beispiel indem sie Screenshots von Online-Anzeigen der Präsidentschaftskandidaten einschicken. Damit will die Redaktion herausfinden, wie persönliche Nutzerdaten für politische Kampagnen genutzt (und möglicherweise missbraucht) werden. Alle auf der Seite veröffentlichten Geschichten stehen unter Creative-Commons-Lizenz, dürfen also umsonst nachgedruckt werden. leichzeitig kooperiert Pro Publica mit den größten US-amerikanischen Medien, um seine Recherchen auch auf klassischen Kanälen zu veröffentlichen. Inzwischen haben Redakteure des Portals unter anderem zwei Pulitzer-Preise eingeheimst.

Mit der Öffentlichkeit für die Öffentlichkeit: Es ist eine schöne Vision, die in Deutschland noch am Anfang steht. Der große Rücklauf in die bestehenden elektronischen Postfächer der Rechercheblogger zeigt aber, dass es bei den Menschen nach wie vor ein Bedürfnis nach journalistischen Nachforschungen gibt, vielleicht sogar mehr als je zuvor. Rechercheblogs sind ein Weg für Journalisten, mit ihrer Kernkompetenz Glaubwürdigkeit im Netz und darüber hinaus zu erlangen. Es wäre leichtfertig, diese Chance nicht zu nutzen.

Moritz Meyer ist freier Journalist in Köln.

mail@moritz-meyer.net

Erschienen in Ausgabe 09/202012 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 53 bis 55. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.