Journalismus auf Spendenbasis

Als die Redaktionsassistentin am Morgen nach der Veröffentlichung ihren Rechner hochfährt, wartet die Wut schon in ihrem Postfach. Neben Visits und Page-Impressions hat sich im Onlinejournalismus die Hass-Mail als zuverlässige Maßeinheit für den Erfolg etabliert. Zuverlässig steigt ihre Zahl mit der Treffgenauigkeit einer Veröffentlichung. Im Redaktions-Postfach von „Mother Jones“ in San Francisco landet am 19. September die ganze Verachtung des konservativen Amerikas. Das Telefon klingelt ununterbrochen, Abokündigungen werden ausgesprochen, Beschimpfungen, Drohungen, anonyme Verachtung. „Mother Jones“ war mit einem unscharfen Filmchen der größte Scoop in seiner 36-jährigen Geschichte gelungen. „Das Video“, sagt Monika Bauerlein, eine der beiden MoJo-Chefredakteurinnen, „ist der Wendepunkt im amerikanischen Wahlkampf.“

An einem durchschnittlichen Tag rufen 250.000 Menschen motherjones.com auf. Am 18. September stellten die Redakteure ein Video online, das den republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney bei einer Spendenaktion Mitte Mai in Florida zeigte. Die Kaltschnäuzigkeit seines Auftritts verbreitete sich rasant. Plötzlich hatte die Seite 2,5 Millionen Aufrufe, die Server waren am Rande der Belastbarkeit, über sieben Millionen Mal wurde das Video in der ersten Woche allein auf der Seite des Magazins abgerufen. In den ersten 24 Stunden nach der Veröffentlichung zählten die Redakteure 345.000 Tweets, die die Zahl „47%“ enthielten. Nicht mit eingerechnet sind jene, die die Romney-Rede bei Youtube oder in Ausschnitten im Fernsehen sahen. Der Name „Mother Jones“ tauchte in allen Nachrichtensendungen des Landes und fast überall auf der Welt auf (auch in der deutschen „Tagesschau“). Fernsehteams interviewten Monika Bauerlein und ihre Co-Chefredakteurin Clara Jeffery, in den eher spartanischen Redaktionsräumen im Finanzdistrikt von San Francisco suchten sie nach spannenden Bildern.

Jeder Teilnehmer des luxuriösen und jetzt einem Millionenpublikum bekannten Spendendinners in Boca Raton hatte für die Teilnahme 50.000 Dollar an das republikanische Wahlkampfteam überwiesen. In dem Video sprach Obamas Herausforderer offen über seine Wahlkampfstrategie. Er machte die demokratischen Unterstützer verächtlich und teilte die amerikanische Gesellschaft in Leistungsträger (Republikaner) und Nichtsnutze (Demokraten) ein. Letztere sähen sich als Opfer und meinten, „sie hätten einen Anspruch auf eine Krankenversicherung, auf Essen, auf ein Obdach und was weiß ich noch alles“, sagte er. „47 Prozent der Menschen werden für den Präsidenten stimmen, egal was passiert.“ Palästinensern sprach er ihre Friedensbereitschaft ab und wies im Scherz darauf hin, es als Latino im Wahlkampf leichter zu haben.

Auszüge des Videos hatte James Carter IV. aufgespürt, Enkel des von Romney kritisierten Ex-Präsidenten Jimmy Carter. Es war aber David Corn, Leiter des Washingtoner MoJo-Büros, dem es gelang, den Urheber des Films davon zu überzeugen, seinen gesamten Mitschnitt den Leuten von „Mother Jones“ anzuvertrauen. Die Wirkung des Films war für Romney verheerend.

Am Tag nach der Veröffentlichung feierte die MoJo-Redaktion mit Rotwein und Käse ihren Erfolg. Bestand der aber nicht eigentlich nur darin, auf der eigenen Internetseite ein im Netz aufgespürtes Fundstück veröffentlicht zu haben?

„Ein Video kann jedem zugespielt werden. Die Erfahrung zeigt, dass das aber nicht passiert“, sagt Monika Bauerlein, die Chefredakteurin. „Die Quelle hat uns das Video zugespielt, weil sie die jahrelange Romney-Berichterstattung unseres Bürochefs für gut befunden hatte. Wir haben das Material auch nicht einfach veröffentlicht, sondern über Wochen seine Echtheit geprüft, nicht umsonst sitzen bei uns zahlreiche Dokumentare.“

Dass es gerade die MoJo-Redakteure waren, die das Video veröffentlichten, überraschte in der amerikanischen Presselandschaft niemanden. Aus ihrer linksliberalen Weltsicht machen die Autoren in ihren Artikeln auf der Website und im alle zwei Monate erscheinenden Magazin kein Geheimnis.

„Parteiisch würde ich uns dennoch nicht nennen“, sagt Bauerlein. „Parteiisch wäre es gewesen, als konservatives Medium das Video gerade nicht zu bringen.“ MoJo, sagt sie, stünde in der europäischen Tradition des Magazinmachens. „Wir unterstützen nicht die Fiktion von Unparteilichkeit, wir tun nicht so, als hätten die Menschen, die hier arbeiten, keine Einstellung. Unser Anspruch ist zu zeigen, dass man auch mit einer Haltung ausgewogen berichten kann.“

Als MoJo 1976 in den Räumen über einer McDonald’s-Filiale gegründet wurde, befand sich Amerika in einer „Zeit des Umbruchs“, wie Magazin-Mitbegründer Adam Hochschild später schrieb. Die Sechziger wirkten immer noch nach und die Wunden, die der Watergate-Skandal gerissen hatte, waren noch lange nicht verheilt. Die Gründer nannten ihr Heft nach Mary Harris Jones, einer prominenten irischstämmigen Gewerkschaftsaktivistin. Entstehen sollte ein Magazin, das alternativ und finanziell unabhängig war, weshalb die Gründer sich für eine gemeinnützige Organisation entschieden.

Dass es gerade die besondere Art des Wirtschaftens war, die dreißig Jahre später das Magazin die Medienkrise relativ unramponiert überstehen ließ, ahnte damals wohl niemand. „Non-Profit bedeutet, dass hinter dem journalistischen Produkt nicht die Renditeerwartungen eines normalen Wirtschaftsunternehmens stehen“, sagt Steve Katz, MoJo-Herausgeber, der auch die „Foundation for National Progress“ leitet, in der das Magazin erscheint. Jeder Dollar des Gewinns würde sofort wieder ins Magazin investiert. „Wir finanzieren uns klassisch durch Anzeigen und Abos, könnten aber ohne Spenden nicht überleben. Außerdem sind unsere Umsätze von der Steuer befreit.“

Wenn es ums Geld geht, schätzt Chefredakteurin Bauerlein das klare Wort. „Die Tatsache, dass das Magazin gemeinnützig ist, ändert nicht unsere Einstellung, ein gutes Magazin machen zu wollen, im Gegenteil“, sagt sie. „Im Gegensatz zu vielen Verlagen tun wir allerdings auch nicht so, als könne man mit einem Magazin wirklich gutes Geld verdienen.“ MoJo sei ein Ort, an dem Journalisten arbeiteten, denen es um die Sache gehe. „Wir sind Überzeugungstäter, die meisten von uns könnten mit ihrer Erfahrung auch sofort bei anderen Magazinen oder Zeitungen arbeiten, und trotzdem gibt es wenig Fluktuation.“

Es komme zwar immer mal wieder vor, dass Spender subtil versuchten, Einfluss auf die Ausrichtung des Magazins zu nehmen, „ich weiß aber, dass ich Kritik ignorieren kann, wenn ich sie für falsch halte“, sagt Bauerlein. „Unseren Großspendern sagen wir immer, dass wir sie feuern, falls sie uns beeinflussen wollen würden.“

Chefredakteurin aus Deutschland

Die beiden Chefredakteurinnen sind seit 2006 im Amt und der Romney-Scoop markiert nur einen von vielen Erfolgen, den die beiden in ihrer Amtszeit verbuchen konnten. Vier der sechs „National Magazine Awards“ verantworten sie, nebenbei gelang es den beiden Mittvierzigerinnen, Job und Familie zu vereinbaren. Allein Monika Bauerlein hat drei Kinder, alle jünger als acht Jahre. Die beiden Frauen machten motherjones.com zu einem erfolgreichen Webauftritt und eröffneten ein Büro in Washington, in dem zehn Reporter arbeiten und täglich Geschichten liefern, die ohne die Zulieferung von Agenturen auskommen. „Mother Jones“ ist in den USA eine Marke, deren Profil Jeffery und Bauerlein in den vergangenen sechs Jahren geschärft und ins digitale Zeitalter überführt haben. Seit dem Romney-Video ergänzt ein Videojournalist das Team in San Francisco.

Wie aber kommt ausgerechnet eine Deutsche an die Spitze einer amerikanischen Zeitschrift
? 1987 ging Monika Bauerlein von München als Fulbright-Stipendiatin in die USA. Damals tilgte sie das Umlaut-A in ihrem Nachnamen und entdeckte den Journalismus für sich. Ihr Vater Heinz Bäuerlein war lange Bonner Korrespondent des Bayerischen Rundfunks (ihre jüngere Schwester Theresa war übrigens u. a. Kolumnistin für „Neon“ und „Zeit Online“), den Beruf kannte sie von Kind auf, doch ausgerechnet in den USA lernte sie ihn zu schätzen. Sie arbeitete zunächst bei einem Wochenmagazin in Minnesota, frei für deutsche und amerikanische Radiostationen und Zeitungen, kurz für die ARD, bis sie schließlich 2000 als „Features Editor“ und investigative Reporterin bei „Mother Jones“ landete. „Als ich 2006 mit Clara um den Posten an der Spitze konkurrierte“, sagt Bauerlein, „beschlossen wir, den Job einfach gemeinsam zu machen.“

Als aufmerksame Leserin deutscher Medien glaubt Bauerlein, dass das Prinzip „Mother Jones“ auch in Deutschland funktionieren könnte. „Wir produzieren alle unsere Inhalte auf der Website selbst, nutzen keine Agenturen. Wer wissen will, was nachrichtlich auf der Welt gerade passiert, ist falsch bei uns“, sagt sie. „Wer Hintergründe, Recherchen und Haltung sucht, wird bei uns fündig. Mit diesem Geschäftsmodell werden sich auch die deutschen Medien noch auseinandersetzen müssen.“

Zur Zeit bereitet Bauerlein das nächste MoJo-Spendendinner in San Francisco vor. Die Reporter aus Washington werden dafür eingeflogen, David Corn, Entdecker des Romney-Videos, wird bei einer Podiumsdiskussion von seinen Recherchen erzählen. Teilnehmen kann an der Veranstaltung nur, wer zugunsten der Foundation for National Progress einen ordentlichen Scheck ausgestellt hat. Der republikanische Romney-Wahlkampf und das linksliberale Magazin aus San Francisco mögen sich ideologisch wie Plus und Minus abstoßen. Um Geld buhlen sie beide.

Jochen Brenner

ist freier Journalist in Hamburg und Mitglied der „medium magazin“-Redaktion. Er hat gerade als Stipendiat der IJP drei Monate in San Francisco bei „Mother Jones“ verbracht.

jochen_brenner@mac.com

Link:Tipp

„Mother Jones“-Homepage: www.motherjones.com

Das „Secret Video“ über Mitt Romney:

http://bit.ly/SVb2WB

Monika Bauerlein bei Twitter: @MonikaBauerlein

Erschienen in Ausgabe 10+11/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 42 bis 44 Autor/en: Jochen Brenner. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.