Genau genommen geht sich die Chefredaktion selbst an den Kragen: Die Hälfte der Führungsposten beim „Stern“ sollen „in den kommenden Jahren“ mit Frauen besetzt werden, auch die Chefsessel. Das beschloss die Führungsriege Anfang November zusammen mit der Redaktion in einer Zielvereinbarung, die die Frauen in der Redaktion im Herbst 2011 angestoßen hatten.
Was hat die Branche gegrinst, von wegen die Chefredakteure Thomas Osterkorn und Andreas Petzold schaffen sich selbst ab. „Sofern es ihnen möglich ist“, heißt es – denn die Chefredaktion wird vom Gruner+Jahr-Vorstand benannt.
Es ist ein ambitioniertes Ziel: 50 Prozent – also deutlich mehr als die 30, die von dem Verein „Pro Quote“ gefordert werden. Der Zeitraum: „Fünf Jahre halte ich für ein realistisches Ziel“, sagt Osterkorn. Schon 2006 schrieb er im Editorial: „Von 200 festen und freien Mitarbeitern unserer Redaktion sind ausweislich des Impressums immerhin 80 weiblich“, zuletzt habe man erneut nachgezählt und sei auf über 30 Prozent Frauen in Führungspositionen gekommen – daher die 50-Prozent-Marke: „Ich habe das spontan ausgesprochen, die ‚Stern‘-Frauen haben das dann aufgegriffen“, sagt er. Diese Zählweise wurde gerügt, weil man nicht nur Texter-Posten mitrechnete. Katja Gloger, eine der sieben „Stern“-Frauen, die von den Redakteurinnen zu Sprecherinnen gewählt worden war, sagt: „Auch Bildredaktion und Layout sind bei uns unverzichtbare inhaltliche Bestandteile.“ Man wolle Fairness herstellen, für alle Frauen beim Blatt. Einer der Impulse, etwas zu ändern: Man fand, es werde nicht wahrgenommen, „dass unser Blick, unsere Herangehensweise auch befruchtend sein könnte fürs Heft“, sagt Gloger. „Wir kamen nicht so zu Wort, wie es angemessen wäre.“ Der Tonfall sei rau, „es herrscht eher ein männlicher Umgang“. Auch Osterkorn betont, an der Konferenzkultur müsse sich etwas ändern, überhaupt: Frauen hätten auf Hahnenkämpfe nicht so sehr Lust.
Außerdem Teil der 10-Punkte-Vereinbarung, abgesehen von dem Bewerbungsprozedere, das sowieso nach Regeln des G+J-internen „Female Factor“-Programms abläuft: In wichtigen Ressorts sollen vor allem junge Frauen zum Zuge kommen und die Besetzung von journalistisch herausgehobenen Jobs wie Korrespondentenstellen oder Projektleitungen solle transparenter laufen. „Schluss mit der Kungelei“, fordert Gloger. Man wolle mit dem Argument aufräumen, es gebe keine qualifizierte Frau. „Nicht jedes männliche Redaktionsmitglied ist dem Pro-Quote-Fanclub beigetreten“, sagt Gloger. Doch sei die Einsicht da, dass Chancengleichheit für alle gut sei: „So eine Zielvereinbarung funktioniert nur, wenn sie von der ganzen Redaktion getragen wird.“
Wie stark sich diese neue Sichtweise auf die alltägliche Arbeitspraxis auswirkt, wird man sehen. Erst am 1. November etwa erschien wieder einer jener typischen „Stern“-Titel mit einer nackten Frau auf dem Cover, Thema: „Diät“; wie regelmäßig, etwa bei Titelgeschichten übers Impfen, Röntgen oder die Wechseljahre – auch beim „Focus“ Usus. „Es ärgert uns immer wieder“, sagt Gloger, auch wenn diese Cover weniger geworden seien. Und Osterkorn, der sich zunächst nicht erinnern kann, wann zuletzt eine Nackte oder Halbnackte auf dem Titel war, kontert: Jenes Novemberheft sei „eine der meistverkauften Ausgaben der letzten Zeit. Wo ist das Problem?“
Den jüngsten Vorwurf des Vereins „Pro Quote“, die Henri-Nannen-Preis-Jury sei mit zu wenig Frauen besetzt, wiegelt er ab. Es gebe eben zu wenig Chefredakteurinnen in den relevanten Printmedien. Und was die Tatsache angeht, dass beim Henri-Nannen-Preis wie auch bei anderen renommierten Journalistenpreisen zuletzt entweder nur oder überwiegend Männer ausgezeichnet worden seien, sagt Osterkorn: „Das halte ich für einen Zufall. Das ist keine geheime Männerverschwörung, denn es gab immer Frauen in der Jury und auch Frauen unter den Gewinnern.“
Immerhin, eine Erfolgsnachricht gibt es schon: Der Korrespondentenposten in New York ging an eine Frau. Ab Januar sitzt dort Frauke Hunfeld. Zumindest mal für sechs Monate. Anne Haeming
Erschienen in Ausgabe 12/202012 in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 10 bis 10. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.