Die macht des letzten Wortes

Sie sind in der 60-jährigen Geschichte der „Bild“ die erste Frau an der Spitze. Aber wie sollen wir Sie eigentlich nennen: Amtierende, kommissarische oder Co-Chefredakteurin?

Marion Horn: Das ist ganz einfach: Ich bin Stellvertreterin des Chefredakteurs, gemeinsam mit meinem großartigen Kollegen Alfred Draxler – dem Stellvertreter von Kai Diekmann. Und während dessen Aufenthalt in den USA leiten wir die Redaktion.

Und kaum ist der Chefredakteur abwesend, verlassen gleich mehrere leitende Redakteure das Blatt. Manche reden ja sogar von „Exodus“ bei „Bild“. Woran liegt’s?

„Bild“ ist lebendig, gute Journalisten kommen und gute Journalisten gehen, das ist ganz normal. Wir sehen es natürlich mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wenn wir alle mit Chefredakteuren aus unseren Reihen versorgen, wie zuletzt mit Jörg Quoos und Ulrich Becker. Das zeigt, auf welch hohem Niveau wir arbeiten.

Entscheiden Sie jetzt über die Nachfolger?

Alfred Draxler und ich suchen die Kandidaten. Bei unserem wöchentlichen Telefon-Jour-Fixe mit Kai Diekmann besprechen wir solche weitreichenden Personalentscheidungen und strategische Fragen. Wichtige Entscheidungen treffen wir logischerweise nicht ohne den Chefredakteur.

Wie groß ist denn Ihr Freiraum zur Blattgestaltung in seiner Abwesenheit?

Ich arbeite jetzt seit zwölf Jahren unter der Leitung Kai Diekmanns und „Bild“ wurde in dieser Zeit ständig weiterentwickelt. Wir beiden Stellvertreter machen wöchentlich im Wechsel das Blatt und wir haben den gleichen Spielraum, den Kai Diekmann bislang hatte. Ungewöhnlich ist nur, dass nun auch eine Frau zum ersten Mal die Macht des letzten Wortes hat.

Was machen Sie mit dieser Macht?

Der Platz in „Bild“ ist sehr begrenzt und es ist ein ständiger Kampf um die besten Geschichten. Die Macht bedeutet: Als Blattmacherin darf ich entscheiden, welche Geschichten in die Zeitung kommen. Und es fühlt sich gut an, das entscheiden zu können.

Und welche Themen, um die Sie früher kämpfen mussten, wollen Sie jetzt verstärkt ins Blatt bringen?

Mir geht es da weniger um einzelne Inhalte, sondern um etwas Grundsätzliches, nämlich unsere journalistische Haltung: Ich bin beseelt von der Idee, nicht mehr von „dem Leser“ zu sprechen, sondern zu fragen: Interessiert mich die Geschichte? Und wenn sie mich nicht interessiert: Kenne ich jemanden, den sie interessiert? Heute zum Beispiel gab es in der Konferenz eine große Debatte über die jüngste Studie zum Thema, dass Frauen noch immer weniger verdienen als Männer. Da gähne ich nur, so was wissen wir Frauen doch seit 30 Jahren. Das ist für mich keine „Bild“-Schlagzeile. Eine Schlagzeile wäre: „Frauen verdienen endlich das Gleiche.“

Kai Diekmann hat 2003 in einem „medium magazin“-Interview gesagt: „Der Kern von, Bild‘ ist die Provokation, die Tabuverletzung.“ Sehen Sie das auch so? Was verstehen Sie unter Provokation?

Natürlich ist Empörung ein wichtiges Gefühl für eine Boulevardzeitung. Aber es ist nur eines von vielen. In erster Linie soll unser Produkt informieren und amüsieren, Spaß machen und relevant sein. Das geht auch mit anderen Gefühlen: Ich habe auch Spaß daran, „Sahara-Sommer“ zu titeln. Es ist heiß, jeder sitzt im Büro und freut sich auf das Wochenende. Ich gebe gern zu: Das ist nicht wirklich relevant. Die Leser wussten auch vorher, dass es warm ist; aber es macht einfach Spaß, dieses Gefühl aufzugreifen – und Hitze im Sommer ist ein schönes Gefühl. Die Menschen wollen nicht immer nur Wut und Empörung. Wahrscheinlich ist diese Ausgabe auch deshalb sehr gut gelaufen.

Sie haben gerade ein paar Mal von „Spaß“ gesprochen. Liegen da Ihre Prioritäten?

Natürlich ist Information die härteste Währung. Die selbst recherchierte, eigene Information. Die andere Währung ist die Art, wie die Nachricht vermittelt wird. Der alte Witz: „,Bild‘ sprach als Erstes mit der Leiche“, hat einen wahren Kern. Ja, wir wollen die Nachricht als Erstes haben.

Aber mindestens genauso wichtig ist, wie die Geschichte erzählt wird. Welche Haltung habe ich? Wie erzähle ich die Geschichte, dass es Lust macht, sie zu lesen? Das ist in Zeiten, in denen das Lesen immer weniger Raum im Alltag hat, zunehmend entscheidend. Und deshalb müssen die Leser schon in den großen Buchstaben in jedem Ressort erfahren, wa-rum die Geschichte interessant für sie sein könnte. Idealerweise ist sie dann auch unterhaltsam. Denn: „Bild“ quält sich – aber nicht die Leser.

Welche Geschichten in jüngerer Zeit haben denn Ihren Anspruch besonders gut erfüllt?

Wir sind zum Beispiel stolz auf unsere Schlagzeile über den „Killer vom Alexanderplatz“: Die Polizei hatte ihn vergeblich gesucht, „Bild“ hat ihn in der Türkei gefunden – und die Staatsanwaltschaft entsprechend informiert. Diese Recherche ist für mich ein gutes Beispiel für das, was „Bild“ auszeichnet: auch da nachzuhaken, wo andere aufhören oder nicht weiterkommen.

Ein ganz anderes Beispiel war die Aufmachergeschichte, dass Simone Kahn einen 13 Jahre jüngeren, attraktiven Mann geheiratet hat. Die Ausgabe hat sich sehr gut verkauft. Mich hat die Nachricht persönlich gefreut, denn ich fand es damals unfassbar, dass Kahn seine schwangere Frau sitzen lässt und sich mit einer anderen öffentlich amüsiert.

Welcher Teil der „Bild“ ist nach dem Aufmacher für Sie der zweitwichtigste?

Mmmh, ich mag die „Seite 2“ besonders gern; sie setzt das politische Thema des Tages und das Angebot der Politik-Kollegen ist sehr vielfältig. Hier können wir oft auch die menschliche Geschichte hinter einem politischen Foto zeigen. So wie aktuell bei dem bewegenden Bild von dem blutüberströmten Baby nach dem Raketenangriff auf Israel. „Bild“ erzählte die Geschichte des Vaters. Anderes Beispiel: griechische Demonstranten in Nazi-Uniform, die wir nach ihren Motiven gefragt haben. Aber jede Seite von „Bild“ hat ihre eigenen Gesetze und ist für sich genommen spannend – Nachrichten genauso wie Unterhaltung. Und jede ist genauso wichtig, damit das Gesamtkunstwerk funktioniert. Die Mischung muss stimmen: von Informieren und Unterhalten, von Auf- und Abregen, sich mal zurücklehnen oder staunen können – von der ersten bis zur letzten Seite.

Apropos letzte Seite: Sie wirkt sehr wuselig, kleinteilig …

Diese Seite soll sich auch schon äußerlich von harten Nachrichten aus dem In- und Ausland unterscheiden. Das ist die tägliche Unterhaltung, das „Konfetti“, wie ich es nenne – ein entspanntes Herausgehen aus der Zeitung. Aber auch das gehört zum Konzept: Sie wird ständig weiterentwickelt und verändert, vor einem Vierteljahr sah sie noch ganz anders aus und wir werden sie auch im nächsten Jahr weiter entwickeln.

… und was wollen Sie da ändern?

Wir fragen uns schon, ob der Schwerpunkt auf der Seite bei den ausländischen Geschichten liegen muss oder ob da nicht auch ein paar gute Geschichten aus dem Inland da sind. Aber egal was sich verändert: Die Klassiker-Kolumnen „Liebe ist …“ und „in & out“ werden garantiert drinbleiben …

Welche Rolle spielen für Sie generell Autorenkolumnen im Blatt?

Gute Autoren sind ein riesiger Schatz – und ich finde, da sind wir auch ziemlich gut aufgestellt. Wir arbeiten jetzt daran, mehr weibliche Autoren für uns zu begeistern.

Gibt es überhaupt in Ihren Augen so etwas wie weiblichen Journalismus?

Damit tue ich mich schwer. Es gibt guten Journalismus und schlechten Journalismus. Insbesondere im Boulevardjournalismus hängt viel davon ab, welche emotionale Haltung Sie zu einem Thema haben.

Diese Haltung ist natürlich stark gepr
ägt von der Persönlichkeit des Journalisten. Als Mutter von zwei Töchtern, die Vollzeit arbeitet, erlebe ich die Welt wahrscheinlich ein Stück weit anders als die allermeisten männlichen Kollegen. Das hat vermutlich Einfluss darauf, wie ich Themen bewerte. Aber das ist deshalb kein „weiblicher“ Journalismus.

Angela Merkel würde das vermutlich ähnlich sehen: Wie wünschen Sie sich eigentlich politische Debatten in „Bild“ – das Wahlkampfjahr 2013 vor Augen?

Ich wäre glücklich, wenn es grundsätzlich eine größere Debattenkultur in Deutschland gäbe. Ich erlebe die Politik Beifall heischend, kaum ein Thema durchhaltend. Die Politiker werden immer glatter: Sobald Kritik an einer Äußerung aufkommt, versuchen sie es so zu drehen, dass alles an ihnen abperlt. Das gilt leider für Politiker aller Parteien. Uns fehlen Menschen mit Ecken und Kanten. Ich hoffe, dass es zum Frühjahr hin ein bisschen spitzer wird.

Hat „Bild“ einen Anteil an dieser Entwicklung, weil Themen so punktuell gesetzt werden und sich oft im Detail verlieren?

Wenn eine Bundesregierung zunächst den Atomausstieg rückgängig macht, um dann nach Fukushima plötzlich eine 180-Grad-Drehung hinzulegen, ist das kein Detail. Ich glaube, das Einzige, was man allen Medien von Seiten der Politiker vorwerfen kann, ist die Schnelligkeit, mit der wir Einschätzungen und Kommentare von ihnen verlangen. Wie häufig müssen sich Politiker im Fernsehen äußern, zu Debatten im Netz, und welchem Risiko müssen sie sich aussetzen, in Facebook oder Twitter in einen Shitstorm zu geraten! Ich beneide Politiker nicht um ihren Beruf. Aber die Umstände entbinden sie nicht von der Verpflichtung, ihre Positionen den Menschen, den Wählern zu erklären und nachvollziehbar zu machen. Das ist nun mal ihr Job. Diesen Schwarzen Peter können sie nicht den Medien zuschieben.

Sie haben Fukushima genannt. Da ist „Bild“ doch mitgeritten auf der Welle: „Raus aus der Atomkraft!“ Zitat Franz Josef Wagner: „Lieber ungetoastetes Brot als Fukushima“.

So eindeutig war das nie! Wir haben auch immer gefragt: Welcher Weg führt denn in eine Zeit ohne Atomkraft? Wir haben auch erklärt, warum Deutschland nicht sofort aus der Kernenergie aussteigen kann – und dafür sind wir heftig kritisiert wurden. Aber natürlich haben wir ebenso die Angst, das Gefühl „sofort raus aus der Atomkraft“ abgebildet, das jeder nach den Bildern aus Japan hatte. Ich glaube nicht, dass „Bild“ die Aufgabe hat, den Deutschen zu sagen, was sie denken sollen. Unsere Aufgabe ist es, das Tagesgeschehen einzuordnen und dem alten Slogan „Bild Dir Deine Meinung“ Rechnung zu tragen. Dass wir dabei unsere Meinung auch einmal ändern, wenn wir Fehler erkennen, finde ich legitim.

Wie halten Sie es mit eigenen Parteivorlieben? Sie gelten ja als SPD-nahe …

Das ist ein Gerücht! Das wabert durch die Welt, seit ich einmal als Chefin der „Hamburger Morgenpost“ gesagt habe, dass die CDU eine für Frauen schwer wählbare Partei ist. Das war vor 15 Jahren! In der Zwischenzeit hat sich in der CDU viel getan in Sachen Emanzipation. Ich bin bewusst bei keiner Partei Mitglied und werde nicht öffentlich sagen, was ich wähle. Aber ich beziehe selbstverständlich Position zu politischen Fragen.

… so hieß es in einem Ihrer Kommentare: „Jetzt haben wir endlich mal wieder einen Politiker, der effektiv und charmant einen verdammt guten Job macht. Zudem sind er und seine Frau auch noch ebenso hochattraktiv wie unfassbar sympathisch – und dennoch: allüberall missgünstige Kommentare, unschöne Unterstellungen, neidische Seitenhiebe.“ Die Rede war von Guttenberg, für den „Bild“ lange gekämpft hat. Würden Sie das heute noch so schreiben?

Der Sozialneid in Deutschland, den ich damit damals beschrieben habe, treibt mich noch immer um. Es ist nicht nur ein Neid auf Erfolg, sondern auch auf Attraktivität. Das nervt mich ohne Ende. Man kann und muss Guttenberg für sein Fehlverhalten verurteilen, aber man kann einem Menschen doch nicht vorwerfen, dass er attraktiv, sympathisch und erfolgreich ist, und ihn deswegen unter Generalverdacht stellen. Diese Geisteshaltung geht mir komplett ab: Jeder Unternehmer ist tendenziell grauenvoll, jede Bank gierig. Das ist eine stereotype Sofa-Sozialistensicht aufs Leben.

„Bild“ ist nun nicht gerade bekannt dafür, gegen Stereotypen anzukämpfen.

Im Fall Guttenberg hat sich eine breite Öffentlichkeit darauf eingeschossen, ihn doof zu finden, weil er sich auf eine spezielle Art inszeniert und aussieht, wie er aussieht. Wir haben damals nicht mit den Wölfen geheult, sondern diesen Mann verteidigt. Sein Fehlverhalten hat ihn disqualifiziert, länger Minister zu bleiben. Insbesondere, weil er versucht hat, seinen Fehler zu vertuschen. Aber trotzdem finde ich es schade, dass Politiker seiner Art diffamiert werden. Der Gegenentwurf ist unfassbare Langeweile. Außer Steinbrück gibt es doch momentan niemanden in Berlin, an dem man sich reiben kann. Wir könnten wirklich mehr spannende Persönlichkeiten hierzulande gebrauchen.

Welche Rolle spielt für Sie beim Blattmachen eigentlich der digitale „Bild“-Kanal?

Wir denken „Bild“ gedruckt und online als ein Produkt, eine Marke. Und wir waren damit noch nie so erfolgreich wie jetzt. Interessant ist dabei, dass wir mit bild.de eine ganz andere Zielgruppe erreichen als mit der gedruckten Zeitung. Die Überschneidung liegt deutlich unter zehn Prozent. Uns treibt natürlich auch die Frage um: Wenn die gedruckte Ausgabe Millionen von Lesern 70 Cent wert ist, was können wir dann von den Online-Usern verlangen, ohne dass sie auf andere Seiten abwandern? Aber das zu entscheiden ist zuerst Aufgabe des Verlages. Der Job der Redaktion ist es, gute Inhalte zu produzieren – egal für welchen Kanal.

Denken Sie die Themen auch gleich multimedial?

Unsere Printredakteure sitzen mit den Onlineredakteuren gemeinsam am Balken. Natürlich wird da laufend darüber geredet, was der Aufmacher für die gedruckte Ausgabe sein könnte und was im Internet als A-Teaser laufen soll. Die Kollegen arbeiten bei der Themenfindung Hand in Hand: Kurz nach 5 Uhr morgens wird die Nachrichtenlage von den Onlinekollegen erstellt. Aus diesem Material legt bild.de um 8.30 Uhr die Themen des Tages fest – und daran orientieren sich auch die Printkollegen in der Morgenkonferenz. Diese Zusammenarbeit ist für das Blattmachen heute ein riesiger Vorteil: Wir müssen nicht mehr auf irgendwelche Marktforschungen warten, bis wir wissen, was die Menschen interessiert und was nicht. Das sehen wir heute an den Klickzahlen. Und zusätzlich beobachten unsere Social-Media-Redakteure den ganzen Tag die Themenkarrieren im Netz. So können wir immer auch aktuell ein Thema drehen, wenn wir sehen, wie und wohin die Debatte gerade läuft.

Zum Beispiel?

Nehmen wir mal „Wetten, dass …?“. Normalerweise wäre das Thema in der Woche drauf kein Aufmacher mehr. Aber wenn die Sendung am Montag danach im Netz immer noch intensiv diskutiert wird, fahren wir das natürlich nicht irgendwo hinten im Blatt – wie wir es vielleicht ohne diese Rückkoppelung getan hätten, weil wir das Aufregerpotenzial anders beurteilt hätten.

Gibt es auch Themen, die erst durch die Klickzahlen bei bild.de zustande kamen?

Job-Themen sind bei uns im Blatt zum Beispiel eher vernachlässigt worden, liefen online aber immer sehr gut. Das fiel mir auf und führte letztlich zu der Schlagzeile im Blatt: „Ist Ihr Chef auch ein Idiot oder nur ein bisschen anders?“ Das kam übrigens sehr gut an.

Nervt es Sie eigentlich, wenn Sie nach Frauenthemen gefragt werden?

Mich nervt, wenn Männer durch die Fragestellung outen, was sie für Frauenthemen halten – das ist fast immer komplett daneben. Damit sind dann Dinge gemeint wie Ratgeber zum Thema Seife oder eine Geschichte