Frankfurter Menetekel

„Rundschau“, FTD & Zeitungskrise: Wohin führt dieses Desaster? Antworten von Uwe Vorkötter, Ex-Chef von FR und „Berliner Zeitung“

Ach ja, die lieben Kollegen. Die wissen genau, wie es gekommen ist. Hausgemachte Probleme, die Modernisierung verweigert. Jahrelanges Missmanagement. Was haben wir, Chefredakteure und Verlagsmanager, da nur angerichtet, das hält natürlich kein Unternehmen aus. Obwohl die „Frankfurter Rundschau“ ja schon so viel ausgehalten hat. „Spiegel“-Redakteure erinnern sich im „Spiegel“, wie es damals war, als sie selbst noch im „Zirkus Spontifex“ das Zentralorgan der APO gestalteten: Langhaarige, die ihre linke Gesinnung auf Stickern am selbstgestrickten Pullover trugen; ein Verleger, der mal richtungweisende Leitartikel schrieb, mal obskure Gedichte; Redakteure, die noch nicht aus Frust soffen, sondern aus Überzeugung. „taz“-Kollegen schicken nun Kaffee, Gummibärchen und Schokolade, aus Solidarität und zum Trost. Zeitungsgeschichte in Anekdoten. Rührend-hilflose Gesten. Und schnell dahingeschriebene Urteile.

Die Ungewissheit

ist bei alldem spürbar: Was heißt das denn nun, dass die „Frankfurter Rundschau“ in der Insolvenz ist? Ist die FR ein Sonderfall? Oder ein Menetekel? Und wie kann es sein, dass das Ende der „Financial Times Deutschland“ kaum zwei Wochen später eingeläutet wird? Zufall? Oder nimmt uns die Zeitungskrise jetzt unbarmherzig in den Griff? In der „Frankfurter Allgemeinen“ ahnt Werner D’Inka, dass gerade mehr auf dem Spiel steht als ein Stück publizistischen Inventars der alten Bundesrepublik. „Wenn die letzte anständige Zeitung verschwunden ist“, schreibt der FAZ-Herausgeber, „bleibt nur noch das Geschwätz.“

So weit ist es noch nicht. Aber die Zeitungskrise ist keine ferne Prognose mehr, sondern harte Realität. Nicht nur bei der FR ist der Lesermarkt geschrumpft, nicht erst seit ein paar Jahren. Quer durch die Republik sinken die Auflagen, schleichend um zwei, drei Prozent jährlich. Und der Anzeigenmarkt erodiert. Immobilien- und Automärkte sind bereits ins Netz diffundiert, der Stellenmarkt geht gerade verloren, auf Aldi, Lidl & Co. als Kunden kann sowieso kein Verlag mehr bauen. Das ist keine Konjunkturkrise, die sich von selbst erledigt. Sondern eine Strukturkrise. Für die FR wurde daraus eine Existenzkrise.

Dass die Krise in Frankfurt ihr erstes Opfer findet, ist kein Zufall. Frankfurt und das Rhein-Main-Gebiet sind besondere Zeitungsmärkte. Fast überall auf der deutschen Landkarte gibt es regionale Zeitungsmonopole. In Niedersachsen beherrschen die Blätter der Madsack-Gruppe den Markt, im Ruhrgebiet ist es die WAZ, im Südwesten die Stuttgarter Zeitungsgruppe, den Osten haben die westdeutschen Medienhäuser unter sich aufgeteilt.

In Frankfurt dagegen ringen traditionell gleich vier lokale Anbieter (FR, FAZ, „Frankfurter Neue Presse“, „Bild“) um Leser und Anzeigenkunden, zu viel für eine Stadt mit 700.000 Einwohnern. Und nebenan, in Offenbach, in Darmstadt, Wiesbaden oder Hanau, trifft die FR seit jeher auf etablierte Lokalzeitungen als Konkurrenten. Bei der Flurbereinigung, die in den sechziger und siebziger Jahren den westdeutschen Zeitungsmarkt neu ordnete, blieb das Rhein-Main-Gebiet ausgespart.

So weit reichen die Wurzeln der heutigen Krise zurück. Wer über das absehbare Ende der FR schreibt, muss also bei Karl Gerold anfangen, dem großen Patron ihrer Frühgeschichte. Gerold war Herausgeber, Geschäftsführer und Chefredakteur, intern auch Dreifaltigkeit genannt. Ein eigenwilliger, knorriger Typ, der aus seinem Blatt eine bedeutende politische Stimme des Landes machte. Er gab dem Titel mit dem markanten grünen Balken überregionale Bedeutung. Er schrieb in zornigen Kommentaren gegen die restaurativen Tendenzen der Adenauer-Ära an, er bereitete der Studentenbewegung eine journalistische Bühne, er gehörte zu den Wegbereitern der Brandt’schen Ostpolitik, als Verleger maß er sich mit Augstein, Springer, Bucerius. Aber die Veränderungen der Märkte um ihn herum ließ er geschehen, ohne erkennbare Ambition, sie mitzugestalten. Ein großer Publizist, kein großer Unternehmer. Gerold starb 1973, die FR ging in die Hände der nach ihm benannten Stiftung über.

Alte Zeiten, große Zeiten. Längst Tempi passati, als ich 2006 Chefredakteur der FR wurde. Der meistgehörte Satz im Freundes- und Bekanntenkreis lautete damals: „Ach, die ‚Frankfurter Rundschau‘, die habe ich früher oft gelesen.“ Früher. Ein Blatt, das in der kollektiven Erinnerung der 68er-Generation lebte, aber eben nur in der Erinnerung. Mir selbst ging es ja nicht anders.

Die FR war meine Zeitung der siebziger und achtziger Jahre, passend zum Studentenleben in Tübingen. Leitartikel von Werner Holzer, Auslandsreportagen von Karl Grobe, Wirtschaftskommentare von Rolf Dieter Schwarz, das waren starke Meinungen, kraftvolle Texte, eigenwillige Analysen. Aber irgendwann hatten wir uns dann aus den Augen verloren, die FR und ich. So ging es vielen. Die „Süddeutsche“ stand nun exemplarisch für linksliberalen Journalismus, die „taz“ etablierte sich im Leserspektrum der „Rundschau“.

Die Zeiten hatten sich geändert, die FR war sich treu geblieben. Ihre Haltung war jetzt, um die Jahrtausendwende herum, ebenso klar wie vorhersehbar: links, traditionell. Sie hatte immer noch gute Autoren, namhafte Kommentatoren. Aber ein von hoher Moral geprägter Ton durchzog das Blatt, noch die kleinste sozialpolitische Sparmaßnahme geriet zur Frage der Menschenwürde.

Mit einem Übermaß an Zuwendung widmete sich die Redaktion jedem und allen, die in irgendeiner Weise zu den Benachteiligten der Gesellschaft gehörten, und sei es, dass nur sie selbst sich dazu zählten – journalistische Sozialarbeiter, die ihre Klienten mit Fürsorge überschütteten, statt ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Die D-Ausgabe, produziert für den politisch anspruchsvollen Leser in Bremen, Saarbrücken oder sonstwo in der Republik, war der Redaktion wichtig. Lokal- und Regionalausgaben, die Auflage und Anzeigen brachten, wurden vernachlässigt. So war das Blatt berechenbar geworden, seine Grundfarbe grau – und es war wirtschaftlich am Ende. Gerolds Nachfolger, Horst Engel, hatte in hohem Alter die Kontrolle über das unternehmerische Geschehen verloren, die inzwischen geriatrisch geprägte Stiftung stand den ökonomischen Problemen fassungs- und hilflos gegenüber.

Kurz bevor die „Frankfurter Rundschau“, ausgerechnet sie, zum ersten Opfer der Finanzinvestoren in der Medienbranche wurde, suchten und fanden Redakteure(!) einen Retter, genauer: eine Retterin für ihr Blatt. Das war Inge Wettig-Danielmeier, Chefin der ddvg. Die SPD-eigene Medienholding, die sonst lieber im Stillen wirkt, kaufte die FR im Jahr 2004, nicht um aus ihr ein Zentralorgan der Sozialdemokratie zu machen, sondern um ihre Stimme im politischen Spektrum zu erhalten. Zwei Jahre später zog Alfred Neven DuMont als Verleger in Frankfurt ein. Der Kölner Patriarch hatte Karl Gerold noch persönlich erlebt, er war stolz darauf, nun diese namhafte nationale Marke in seinem Reich zu wissen. Er gewann die Redaktion für sich, er entdeckte ihr intellektuelles Potenzial. Mit ihm war ein ambitionierter Plan zu machen: Wir zeigen mal, wie heute eine moderne linksliberale Tageszeitung funktioniert.

Sechs Jahre später müssen wir konstatieren: Es hat nicht funktioniert. Oder besser: Es hat alles nicht gereicht. Nicht die Umstellung des Blattes ins Tabloidformat, die das äußere Symbol für die innere Erneuerung der Zeitung darstellte. Nicht die konvergente Arbeitsweise im supermodernen Newsroom, wo Print und Online exemplarisch aus einer Hand produziert wurden. Nicht die preisgekrönte iPad-App, bis heute das beste Produkt seiner Art. Nicht die Gründung der DuMont-Redaktionsgemeinschaft, später der gemeinsamen überregionalen Redaktion mit der „Berliner Zeitung“, die Millionen an Kosten sparte und die, wie Neven DuMont seinen leitenden
Redakteuren noch ein paar Monate vor der Pleite bestätigte, „unsere Blätter reicher gemacht hat“. Er meinte nicht die Finanzen, sondern die Inhalte.

Antwort an die Kritiker

Nicht alle teilen diese Sicht, eine geballte Ladung Kritik hat die Tabloid-FR von Anfang an begleitet. Wir hätten die alten Inhalte doch nur neu verpackt, hielt man uns entgegen. Das Blatt habe seine Tradition vergessen und seine Identität verloren, hieß es auf der anderen Seite. Als die Nachricht von der Insolvenz bekannt wurde, schrieb Wolfgang Lieb auf den alt-linken „Nachdenkseiten“, das liege am personellen Kahlschlag und an der Kooperation mit der „Berliner Zeitung“. Und auf dem Boulevard-Strich hat sich die FR natürlich auch prostituiert, das Lokale hat sie vernachlässigt, zum Lokalblättchen ist sie verkommen … Ein Blick ins Blatt könnte manches klären. Auch wenn mein persönlicher Blick verklärt sein mag: Die „Frankfurter Rundschau“ ist noch in ihrer Endphase eine Zeitung, die sich sehen und lesen lassen kann. Sie hat eine hoch professionelle Redaktion, Autoren von Format, ihre Grundhaltung ist erkennbar, ihre Stimme vernehmbar, sie ist offener als früher, aber nicht beliebig. Es ist offenkundig, dass die redaktionelle Fusion mit der „Berliner Zeitung“ intensivere Recherche und mehr guten Journalismus möglich gemacht hat. Und an ihren besten Tagen zeigt die FR, was es mit dem Tabloidformat auf sich hat, wie Inhalt und Optik zusammenwirken, dass Kreativität und Leidenschaft über die Routine der Tagesproduktion triumphieren können.

Nein, diese Zeitung ist nicht an ihrer Erneuerung gescheitert. Das sehen jetzt viele so, immerhin: FR-Abonnenten, die wissen, was sie vermissen werden; Frankfurter Prominente, vom Oberbürgermeister Olaf Feldmann bis zum Eintracht-Trainer Armin Veh, die sich für eine Institution ihrer Stadt stark machen; Kollegen aus anderen Medien. Zum Beispiel Karl-Heinz Ruch, der unkonventionell-kluge Geschäftsführer der „taz“. Er hat nach eigenem Bekunden die Nachricht von der Insolvenz zum Anlass genommen, erstmals seit langem wieder die FR zu lesen. Sein Urteil: „Man fühlt sich sofort zu Hause. Offensichtlich eine gute Zeitung.“ Danke für die Blumen. Auch wenn sie erst zur Beerdigung kommen.

Dass es trotz allem nicht fürs dauerhafte Überleben gereicht hat, liegt übrigens auch nicht an unfähigen Verlagsmanagern, die ihr Geschäft nicht verstehen. Es liegt an den dramatisch wegbrechenden Erlösen, von denen die gesamte Branche betroffen ist. Auf dem Wettbewerbsmarkt Rhein-Main erreichte diese Krise eine Vehemenz, vor der die Eigentümer der FR kapitulierten.

Die Parallelen zum Fall der FTD sind offenkundig. Die ist zwar keine Traditionszeitung aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern eine Neugründung, ein Kind der New Economy und des Börsenbooms Ende der 90er. Eine exzellent gemachte, moderne Wirtschaftszeitung, die das alte „Handelsblatt“ aus dem Tiefschlaf weckte und den Wettbewerb auf dem Markt der Wirtschaftsmedien anheizte, sowohl den journalistischen als auch den wirtschaftlichen. Jetzt ist sie selbst zum Opfer dieser Konkurrenz geworden. Auch für die FTD gilt, dass das klassische Geschäftsmodell der Zeitung, die Finanzierung aus Abo und Kioskverkauf auf der einen und Anzeigenerlösen auf der anderen Seite, ausgedient hat. Und dass es ein neues, vorwiegend digitales Geschäftsmodell bis heute nicht gibt.

Eine existenzielle Frage,

nicht nur für FR und FTD. Und deshalb gilt: Ja, die Insolvenz des einen und das Aus für das andere Blatt sind Menetekel. Die Krise, die seit Jahren beschworen wird, hat ihre ersten beiden prominenten Opfer gefordert. Es werden nicht die letzten sein. Andere, vor allem die großen Regionalverlage, können noch selbstbewusst behaupten: Bei uns ist vieles anders, unsere Marktposition ist gefestigt, wir verdienen Geld. Das stimmt alles. Sie haben mehr Zeit, um den Wandel zu bewältigen. Aber nutzen sie die Zeit? Sichern sie die Gegenwart von Print, entwickeln ihre Blätter und verändern ihre Organisation? Und planen zugleich die digitale Zukunft, sorgen dafür, dass wir unsere Leistungen im Internet nicht länger verschenken? Dann gibt es Grund zur Zuversicht. Oder bleibt im Prinzip alles, wie es ist, und man spart einfach auf der Kostenseite den sinkenden Erlösen hinterher? Dann werden bald auch die Starken schwach.

Erschienen in Ausgabe 12/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 22 bis 23 Autor/en: Uwe Vorkötter. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.