Ran an die Leser

Welche publizistische Idee trägt die Zeitungen in die Zukunft? Die Bindung der Menschen an „ihre“ Zeitung lockert sich. Die Leser werden anspruchsvoller und kritischer – und haben zunehmend Alternativen. Erlöse wie Auflagen schrumpfen bedrohlich.Während Verlage fieberhaft nach Finanzierungsquellen und Sparpotenzialen suchen, ringen die Redaktionen um die Zuwendung der Leser.

Unsere jüngste Umfrage unter Chefredakteuren der Tageszeitungen belegt: Die Redaktionsleiter wollen die Print-Ausgaben als Orientierungshilfen im Alltag verankern – ganz nah bei den Leser mit ihren Sorgen und Interessen. Dazu müssen sie am Puls der Betroffenheit agieren. In der Eurokrise ist der Informations- und Erklärungsbedarf riesig – und damit auch die Chance für die Redaktionen, mit einer fundierten Berichterstattung zu punkten. Welche Grundausrichtungen sind aussichtsreich? Im Vergleich zu früheren Umfragen zeigt sich: die Chefredakteure setzen auf den Markenkern Zeitung (vgl. Abb. 1). Knapp drei Viertel der Chefredakteure (71 %) sind davon überzeugt, dass der (werk-)tägliche Erscheinungsrhythmus der Zeitungen auch künftig erhalten bleibt, aber knapp 12 % haben inzwischen große Zweifel. Außerdem glauben die Redaktionsleiter mehrheitlich (55 %), dass die Zeitungen im Konzert von TV, Radio und Online das aktuelle Leitmedium schlechthin bleiben werden. Das bedeutet für die Hälfte aller Befragten (54 %), dass sich die Zeitungen aber zu lesernahen Plattformen und Portalen entwickeln, die vorhandene Angebote prüfen und bündeln.

Allerdings glauben 28 % der Redaktionsleiter, viele Zeitungen werde es in gedruckter Form in zehn bis 20 Jahren nicht mehr geben. 2006 waren es nur halb so viele, nämlich 14 %. Knapp zwei Drittel der Chefredakteure (63 %) bleiben jedoch zuversichtlich und setzen auf die Zukunft der Printprodukte. Tabloid-Formate sind wenig attraktiv. Nur noch 17 % der Chefredakteure glauben an Zeitungen als schlanke Medien „to go“. 2009 waren es noch 23 %.

Unterschiedlich urteilen sie, wenn es um die Schließung der Sonntagslücke geht. 41 % sprechen sich dagegen aus – fast ebenso viele (39 %) dafür. In dieser Frage stehen sich zwei gleich starke und über Jahre stabile Meinungsgruppen gegenüber. Die These, dass das Internet und die mobilen Angebote wichtiger werden als die gedruckten Ausgaben, wird ebenfalls von zwei, allerdings deutlich kleineren Gruppen (29 /28 %) befürwortet und abgelehnt, wobei die meisten Befragten sich noch nicht entschieden haben. Welche inhaltliche Ausrichtung aber führt die Zeitungen in die Zukunft?

Nahezu alle befragten Chefredakteure – von großen wie kleineren Zeitungen – wollen ganz nah am Leser operieren (vgl. Abb. 2). Sie wissen, ihnen muss es gelingen, das Lebensgefühl der Menschen anzusprechen, ihre täglichen Fragen im Alltag zu beantworten und ihnen in einer besorgniserregenden Umwelt Orientierung zu geben. Dafür sprechen Zitate wie: „Die Zukunft der Zeitung liegt in der lokalen Berichterstattung“, oder: „Zeitungen leben vom Menschen, von Schicksalen, vom Vor-Ort-Sein.“

Die Zukunft der Tageszeitung. Zukunftsfähige redaktionelle Konzepte verschieben daher ihre Koordinaten hin zum Leser, dessen „Treue“ ab- und dessen Verunsicherung zunimmt. Daher stimmen vier von fünf Chefredakteure (82 %) der These zu: „Die Zukunft der Tageszeitung liegt darin, die Interessen der Leser zu vertreten. Die Wächterfunktion der Presse wird zunehmend zu einer aktiven Vertretung der Bürgerinteressen gegenüber Politik und Wirtschaft.“ Ein Chefredakteur: „Es wird entscheidend sein, die Perspektive des Lesers, Bürgers und Steuerzahlers einzunehmen.“ Ein anderer: „Zeitungen sind Gesetzsammlungen der kleinen Leute.“ Wenige Befragte lehnen dieses Konzept ab: „Wichtiger als die aktive Vertretung der Leser wird die Funktion als Moderator“ (Chefredakteur einer mittelgroßen Zeitung). Ein anderer Kollege: „Anwalt und Kümmerer: ja; Politik machen: nein“ (Chefredakteur einer großen Zeitung).

Das Konzept, die Zeitungen versuchen ihre Leser vor allem über soziale Netzwerke an sich zu binden, befürworten knapp zwei Drittel der befragten Chefredakteure (63 %). Die Blätter müssen aber journalistische Medien bleiben und „das Lebensumfeld in Stadt/Gemeinde abbilden“ (Chefredakteur einer mittelgroßen Zeitung). Der Reiz dieses Weges liege nicht zuletzt im „zusätzlichen Vertriebskanal“ (Chefredakteur einer großen Zeitung). Andere wiederum sehen in den Social Media „eher PR-Plattformen für die Tageszeitungen“ (Chefredakteur einer mittelgroßen Zeitung) und mahnen: „Facebook lehrt gerade Vorsicht.“

Bemerkenswert: Nur jeder zweite Befragte (50 %) setzt ausdrücklich auf die gesellschaftspolitische Rolle der Zeitung als „Sauerstoff der Demokratie“ und sagt, ohne „Politik“ seien die Blätter nicht überlebensfähig.

Die Vorstellung, politische Berichterstattung als publizistischer Schwerpunkt, polarisiert immer noch. Die Befürworter dieser Redaktionspolitik werden über die Jahre betrachtet deutlich weniger. Noch vor drei Jahren sahen 67 %, also zwei von drei Chefredakteuren in der „Politik“ eine Profilierungschance. Sie betonen – heute wie damals – die „lokale und regionale Politik“, die „lesernahe Aufbereitung und den Service“ und sagen: „Politik wird mehr in Richtung Hintergrund und Analyse gehen“ (Chefredakteur einer mittelgroßen Zeitung). Ein Kollege bringt das Konzept auf die einfache Formel: „Politik = Gesellschaft = Wir, die Bürger.“ Die Kritiker sagen: „In der Politik ist es schwer, Unverwechselbarkeit zu erreichen“ (Chefredakteur einer großen Zeitung), und: „Politik verliert zunehmend an Bedeutung für die Leser“ (Chefredakteur einer großen Zeitung).

Hingegen: Für viele verunsicherte Leser ist die Wirtschaftsberichterstattung inzwischen wichtiger geworden und überholt die „Politik“. Mehrheitlich befürworten die befragten Chefredakteure (58 %) die These: „Die Zukunft der Tageszeitung liegt in der Wirtschaftsberichterstattung. Denn: Das Interesse der Bevölkerung an Wirtschaftsthemen ist so groß wie nie zuvor.“ Ein Chefredakteur einer mittelgroßen Zeitung: „Wirtschaft ist wichtig – aber die Perspektive muss sich in Richtung Lesersicht verschieben.“ Ein Kollege: „Aus ‚Wirtschaft‘ wird ‚Arbeit und Soziales‘ und ‚Verbraucher‘“ und die Notwendigkeit, „die Vorgänge dem Laien zu übersetzen“. Vor allem kleine Blätter setzen auf „lokale und regionale Wirtschaft“ und übersetzen Wirtschaftsthemen in die Alltagswelt der Leser in der Region. Ablehnende Stimmen zum Konzept einer Profilierung über die Wirtschaftsberichterstattung bekennen sich zu Service- und Verbraucherthemen: „Geld: ja, Wirtschaft pur: nein!“

Selbstkritik in Sachen Eurokrise. In der Euro-Berichterstattung haben die Leser hohe Erwartungen an die publizistischen Leistungen „ihrer“ Zeitungen, zumal sie den Akteuren in Politik und Wirtschaft immer weniger vertrauen. Die Chefredakteure spüren: Wenn sie in diesem Feld punkten, sprechen sie die Emotionen ihrer Leser an und können Vertrauen zurückgewinnen. Selbstkritisch erkennen die befragten Redaktionschefs aber Defizite in der Berichterstattung. Nach den vernachlässigten Themen in der Krisenberichterstattung gefragt, nennen 41 % der Chefredakteure an erster Stelle die Auswirkungen auf Bürger und Verbraucher. „Was bedeutet die Krise konkret für die Leser und für die Menschen vor Ort?“ „Wo bleibt die Perspektive der Euro-Sparer in Deutschland?“ Denn – so ein Chefredakteur: „Der Leser versteht zu wenig, was mit ihm, seiner Arbeit und seinem Geld p
assiert.“ Ein anderer vermisst „die ‚objektive‘ Darstellung aus Sicht von Betroffenen“, ein weiterer „die Begründung der Politik, warum sie agiert, wie sie agiert“. Außerdem fehlt die „Gegenüberstellung verschiedener Lösungsansätze“ (Chefredakteur einer mittelgroßen Zeitung), die „orientierende Darstellung zu den Handlungsoptionen“ (Chefredakteur einer kleinen Zeitung) und „verständliche Erklärstücke“ (Chefredakteur einer kleinen Zeitung).

Anschauliche Erklärungen vermissen 21 % der Chefredakteure in ihren Blättern: „Wer kontrolliert wen und hat er/sie/es denn die Kompetenz?“, „Der unzureichende Ordnungsrahmen für Banken und Kapitalmärkte?“, „Wie sieht das Nach-Euro-Szenario bei einer eventuellen Abschaffung aus?“ Ein Chefredakteur einer großen Zeitung: Zu kurz komme „die Verantwortung der Finanzmärkte bzw. die Erklärung, welche Kreise stecken dahinter. Es gibt zu wenige Erklärungen, wie diese Milliardenzockereien funktionieren und wie sie ethisch zu werten sind.“ Und: Jeweils 18 % der Chefredakteure vermissen schließlich eine überzeugende Berichterstattung zu den Hintergründen, den Verantwortlichen und Gewinnern der Krise.

Die Berichterstattung über die Eurokrise wird für die Zeitungen zur Nagelprobe auf ihrem Weg zum anwaltschaftlichen Analysemedium, das ganz nah am Leser operiert und ihm die Welt erklärt. Verunsicherte Menschen wissen zu schätzen, wenn Redaktionen mutig und selbstbewusst Themen aufgreifen und die Akteure in Politik und Wirtschaft mit Fragen konfrontieren – die dem Lebensgefühl und den Interessen der Leser entsprechen.

Link:TIPP

Mehr Infos zur jüngsten Umfrage der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler (an der sich 76 Vollredaktionen = 60 % der Zeitungen beteiligten), siehe: https://media.uni-hohenheim.de/chefredakteursumfrage2012

Claudia Mast

ist Professorin für Kommunikationswissenschaft und Journalistik der Universität Hohenheim.

https://media.uni-hohenheim.de

Erschienen in Ausgabe 12/202012 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 42 bis 43 Autor/en: Claudia Mast. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.