Zeitungen 2012 in Zahlen

Herr Schütz, Sie haben im März 2012 alle deutschen Tageszeitungen gezählt und ausgewertet. Nach den jüngsten spektakulären Meldungen über die Einstellung der „Financial Times Deutschland“ oder die Insolvenz der „Frankfurter Rundschau“ – wie aktuell ist Ihre Erhebung?

Walter J. Schütz: Seit Juli, als ich meine statistische Übersicht fertiggestellt habe, hat sich in der deutschen Presselandschaft in der Tat das eine oder andere getan. In der Fußnote sieben sind diese Veränderungen festgehalten, sodass mein Artikel in „Media Perspektiven“ auf dem neusten Stand ist. An meinen Ergebnissen hat sich durch diese Ergänzungen aber so gut wie nichts verändert.

Was sind die Ergebnisse?

Die Zahl der Kernredaktionen oder, wie ich Die auch nenne, der „Publizistischen Einheiten“, die Zeitungsmäntel herstellen, hat sich in den vergangenen vier Jahren weiter vermindert. Auch die Zahl der Verlage ist zurückgegangen; sie hat sich in den vergangenen sechs Jahrzehnten fast halbiert. Die verkaufte Auflage ist zudem deutlich gesunken. Aber, und das ist überraschend, zum ersten Mal seit Jahren ist die Zahl der Lokalausgaben leicht angestiegen.

Die Auflage sinkt, aber es gibt mehr Lokalausgaben – wie ist das möglich?

Der Zuwachs ist auf die Teilung bestehender Ausgaben zurückzuführen. Die Zeitungen müssen ja ihre Leser und die Werbetreibenden dort bedienen, wo deren Interessen sind, und das ist der lokale Raum. Je kleiner das Verbreitungsgebiet einer lokalen Ausgabe ist, desto besser können sie auf diese Bedürfnisse eingehen. Was natürlich nicht dazu führen darf, dass Zeitungen zu klein und unrentabel werden.

Ist die lokale Zersplitterung ein Indiz für mehr Zeitungsvielfalt?

Nein, auf die Zeitungsvielfalt wirkt sich diese Art von Verlagspolitik nicht aus; sie erhöht lediglich die Brutto-Zeitungsdichte, also die Zahl der in kreisfreien Städten und Landkreisen insgesamt angebotenen Ausgaben von Tageszeitungen. Maßgebend für das Angebot an Zeitungen, zwischen denen der Leser eine Auswahl treffen kann, ist die Netto-Zeitungsdichte, also die reale Zahl der miteinander im Wettbewerb stehenden Ausgaben. 2012 betrug sie unverändert 1,5.

Hat Sie überrascht, dass es immer weniger Kernredaktionen gibt?

Ich sehe eine Fortsetzung des langfristigen Trends. Immer mehr Verlage sagen sich: Wir können Geld sparen, indem wir kostengünstig von einer anderen Zeitung oder von einer Redaktionsgemeinschaft den Mantel übernehmen. 1954 hatten wir 225 unterschiedliche Zeitungsmäntel. Heute, in einem größer gewordenen Deutschland, sind es nur noch 130.

Bislang kauften vor allem kleine Zeitungen den allgemeinen politischen Teil zu. Nun greifen auch vermehrt größere Regionalredaktionen zu. Oder sie gründen eine Redaktionsgemeinschaft, wie es „Berliner Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Mitteldeutsche Zeitung“ und „Kölner Stadt-Anzeiger“ getan haben. Stufen Sie diese DuMont-Blätter eigentlich nach wie vor als Publizistische Einheiten ein?

Selbstverständlich. Auch wenn die Redaktionen kooperieren – sie erbringen nach wie vor journalistische Eigenleistungen. Man kann es so vergleichen: Fast alle deutschen Zeitungen bedienen sich der dpa. Und obwohl das Basismaterial von der Agentur stammt, ist trotzdem Vielfalt in Deutschland vorhanden, weil Journalisten dpa-Meldungen in Eigenverantwortung bearbeiten.

Das lässt sich auch auf die DuMont-Blätter übertragen. Sie haben trotz der Kooperation alle noch immer ein sehr individuelles Gesicht.

Aber schaden solche Kooperationen letztlich nicht doch der Pressevielfalt?

Natürlich ist es ein Verlust publizistischer Vielfalt und vor allem ein Verlust journalistischer Arbeitsplätze. Weniger Journalisten bearbeiten weniger Mäntel. Das muss man ganz deutlich sehen.

Wenn die Zahl der Kernredaktionen, die ja abgenommen hat, als Indikator für publizistische Konzentration zu verstehen ist – was sagen Ihre aktuellen Zahlen über die Entwicklung in der deutschen Zeitungslandschaft aus?

Es spielen sich erhebliche Konzentrationsvorgänge ab, Wettbewerb wird reduziert. Als ich 1954 meine Untersuchungen begann, hatten wir in Deutschland eine Zeitungsdichte von 2,5 Zeitungen. An jedem Ort, in jedem Kreis konnte der Leser zwischen zweieinhalb Zeitungen auswählen. Heute sind es, wie gesagt, nur noch anderthalb Zeitungen.

Trotzdem bilanzieren Sie, der Zeitungsmarkt sei „gefestigt“?

All diese Phänomene – Zeitungsstilllegungen, Mantelübernahmen – konnte ich schon bei meiner allerersten Stichtagssammlung feststellen. Es ist nicht so, dass erst heute eine dramatische Entwicklung eingetreten wäre. Ganz im Gegenteil. Die höchste Zahl von Zeitungseinstellungen gab es 1950, die zweite große Stilllegungsphase war die zwischen 1964 und 1967, als sich auch die Zahl der Zeitungsverlage drastisch verminderte. Betroffen waren damals die Viert-, Dritt- oder sogar Zweitzeitungen von Verlagen, die in abgeschlagener Marktposition erfolglos zu überleben versuchten. Nur ist das damals gar nicht in das medienpolitische Bewusstsein der Öffentlichkeit getreten. Seither hat sich der Zeitungsmarkt, keine Frage, für die verbliebenen Unternehmen gefestigt.

Aber die mediensensible Öffentlichkeit heute registriert: Zeitungen sterben. Selbst die Bundeskanzlerin bedauerte den Tod der FTD und rief zum Zeitunglesen auf.

Durch diesen prominenten Fall ist die Frage des Zeitungssterbens natürlich wieder sehr aktuell geworden. Aber man muss klar sehen: Im Zeitraum 2008 bis 2012 sind neben der FTD nur wenige Zeitungen verschwunden. Das ist alles nicht so dramatisch im Vergleich zu dem, was sich vor 50, 60 Jahren auf dem Pressemarkt tat.

Warum sind die Auflagenverluste im Osten und in Ballungsgebieten am höchsten?

Was Sachsen und Co. betrifft, ist das ganz offensichtlich eine Folge der Abwanderung als auch des geringeren wirtschaftlichen Wachstums. Im alten Bundesgebiet hat es vor allem die Zeitungen in den Großstädten und Ballungsgebieten getroffen, weil es dort mehr konkurrierende Informationsmöglichkeiten gibt. Großstädter informieren sich anders als Leser auf dem flachen Land, wo die Zeitung zur Organisation des Alltags noch immer unverzichtbar ist. In Lokalzeitungen ländlicher Regionen finden Sie zum Beispiel noch immer jede Menge Todesanzeigen. Man stirbt dort noch in der Zeitung.

Die Verlage probieren viel, um die Folgen der Zeitungskrise in den Griff zu bekommen. Sie schaffen Synergien, lagern Mitarbeiter aus oder stellen auf Tabloid-Format um. Haben Sie ein besseres Rezept?

Wenn ich es hätte, würde ich den Verlagen gerne meine Kenntnisse vermitteln. Klar ist: Verlage werden weiter sparen müssen. Die Tendenz, redaktionelle Inhalte einzukaufen, wird sich weiter fortsetzen. Ich bedauere das. Andererseits ist es nicht so, dass redaktionelle Kooperation zwangsläufig Vielfalt mindert. Regionalredaktionen können auch mit zentral erarbeitetem journalistischem Material das Profil ihrer Zeitung schärfen. Und mit stärker ortsbezogenen Ausgaben können sie noch intensiver ihre Leser ansprechen.

Müsste sich die „Frankfurter Rundschau“ demnach mehr auf das Lokale konzentrieren?

Ich kann die Situation in Frankfurt nicht so gut beurteilen. Aber ich habe es schon damals für falsch gehalten, dass sie die Präsenz in Hessen deutlich abgebaut hat. Bei der letzten Stichtagssammlung habe ich erfreut festgestellt, dass die FR wieder mit klar profilierten Ausgaben versucht, Leser nicht nur in Frankfurt selbst, sondern auch im Umland an sich zu binden. Dass der Zeitung trotzdem das Wasser so bis zum Hals steht, konnte ich nicht wissen.

Sowohl FAZ als auch SZ sollen an einer Übernahme der FR interessiert sein. Was halten Sie davon?

Wenn ein gut gehendes und gut geführtes Medienhaus eine gut gemachte Zeitung übernimmt, dann ist mir das lieber, als wenn irgendein Finanzinvestor d
aherkommt, um größtmögliche Rendite herauszuholen.

Einer wie David Montgomery, dem eine Zeit lang die „Berliner Zeitung“ gehörte?

Ich fand es eine Katastrophe, dass damals Montgomery eingestiegen ist. Ich hätte mir ein Zusammengehen von „Berliner Zeitung“ und „Tagesspiegel“ gewünscht. Das Kartellamt sagte Nein. Für mich ist das ein Beispiel: Das Kartellamt hat keine subtilen Kenntnisse des Pressemarktes. Es blockiert sinnvolle Übernahmen und bringt dadurch Zeitungen in wirtschaftliche Bedrängnis. Es vertritt eine Vorstellung von Pressewettbewerb, der in der Realität nicht besteht. Das ist ein uralter Zwist, den ich mit den Kartellis habe.

Der Pressefusionskontrolle steht eine Reform bevor. Glauben Sie, dass Ihre Zahlen die Bundesregierung beeinflussen könnten?

In Grenzen ja. Ich bekam neulich eine Einladung ins Bundeswirtschaftsministerium zu einem langen Fachgespräch. Ich bin allerdings nicht dafür, die Kontrolle zu lockern. Man muss die Einzelfälle kritisch begutachten und wirtschaftlich sinnvolle Kooperationen dort zulassen, wo zum Beispiel aufgrund der Entwicklung seit Ende des Lizenzzwangs gar kein Wettbewerb entstehen konnte, als zu groß geschnittene Verbreitungsgebiete aufgeteilt wurden. Angesichts der Entwicklung auf dem Pressemarkt ist auch nicht damit zu rechnen, dass neue Wettbewerbssituationen ausgelöst werden. Die Zahl der Zeitungsmonopole ist deutlich gestiegen. Zeitungen verkleinern eher ihr Verbreitungsgebiet, um dort eine sichere Allein- und Erstanbieterstellung zu haben. Die Erwartung, dass Zeitungen expansiv handeln, sie in das Verbreitungsgebiet eines Wettbewerbers vordringen und damit dort neuen Wettbewerb entfachen – das ist pure Illusion. Das Kartellamt kann keinen Wettbewerb vorschreiben.

Inwieweit ist es überhaupt noch möglich, in dieser verschärften Monopolsituation eine neue Zeitung zu gründen?

Immer weniger Verlage – das sagt zugleich auch, dass es immer weniger Markteintrittschancen gibt. Erfolgreiche Zeitungsneugründungen im alten Bundesgebiet seit 1954, die heute noch existieren, kann man an einer Hand abzählen: der „Maintal Tagesanzeiger“, die „tz“ in München, die „Gelnhäuser Neue Zeitung“ und „die tageszeitung“ in Berlin. Alle anderen sind gescheitert. Zuletzt die FTD.

Herr Schütz, geben Sie nicht mit Ihren Zahlen der digitalen Avantgarde Futter, die den Tod der gedruckten Zeitung nahe sieht?

Ich habe noch nie das Sterbeglöckchen für die gedruckten Zeitungen geläutet, sondern immer nur gesagt: Ich sehe diese oder jene Entwicklung. Abgesehen davon: An jedem Ort im Bundesgebiet finden Sie nach wie vor eine Zeitung, die örtlich zuständig ist. Und ich glaube, daran wird sich auch in den nächsten 20 Jahren nichts ändern. Zeitungen bleiben für die lokale und regionale Versorgung der Bürger in meinen Augen auch in Zukunft unverzichtbar.

Erschienen in Ausgabe 01-02/202013 in der Rubrik „Medien“ auf Seite 38 bis 38 Autor/en: Interview: Senta Krasser. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.