Ein Chefredakteur ohne Redaktion

Ob Malte Hinz im Mai nach Wien reisen wird, um für seine Zeitung die fünf Awards beim „European Newspaper Congress“ entgegenzunehmen? Der Chefredakteur der „Westfälischen Rundschau“ (WR) weiß es nicht. Da sei noch nichts entschieden, sagt er. Es ist der 4. März, sein erster Arbeitstag nach zwei Wochen Urlaub. Doch wirklich entspannt wirkt Malte Hinz nicht. Der erste Mann im Zeitungshaus am Dortmunder Brüderweg ist hörbar niedergeschlagen. Die „Rundschau“ sei immer eine „Herzblutveranstaltung“ für ihn gewesen, sagt der 59-Jährige, der fast sein ganzes Berufsleben bei der WR verbracht hat. „Was jetzt mit ihr geschehen ist, trifft mich deshalb besonders hart. Ist doch klar.“

Anfang Februar löste die Verlagsmutter WAZ Knall auf Fall 15 von insgesamt 17 Lokalredaktionen der WR auf – um die defizitäre Tageszeitung „grundlegend zu sanieren“. 120 Mitarbeitern wurde sofort gekündigt, 20 sind noch an Bord. Malte Hinz einbegriffen.

Die Lokalteile der traditionell links-liberalen „Rundschau“ werden jetzt von der Konkurrenz geliefert – ein Novum im Zeitungsmarkt. Das WR-Lokale in Dortmund, Lünen und Schwerte stammt nun von den „Ruhr Nachrichten“ (Lensing-Wolff), die Seiten für Unna und Kamen bestückt der „Hellweger Anzeiger“ (Verlag Rubens), Dirk Ippens Märkischer Zeitungsverlag (u. a. „Lüdenscheider Nachrichten“) liefert im Märkischen Kreis zu. Und die konzerneigene, allerdings politisch konservative „Westfalenpost“ übernimmt die Berichterstattung in Arnsberg, Hagen, Wetter/Herdecke, Ennepe-Süd und Schwelm. Wo „Westfälische Rundschau“ draufsteht, ist also nicht mehr „Westfälische Rundschau“ drin. Aus der SPD-nahen Traditionszeitung ist eine Mogelpackung geworden.

Eine solche Beurteilung überlässt Malte Hinz lieber anderen. Er sagt nur so viel, dass er diese Situation, jetzt mit der lokalen Zulieferung der ehemaligen Mitbewerber erscheinen zu müssen,„alles andere als charmant“ findet. Es sei „bitter“ – insbesondere für einen Chefredakteur wie ihn, der aus dem Lokalen kommt und dort viele Jahre gearbeitet hat.

1977 fing der gebürtige Beckumer bei der WR als Lokalredakteur an. Er leitete die Redaktion in Lünen, studierte berufsbegleitend, war 23 Jahre lang Betriebsratsvorsitzender im Zeitungsverlag Westfalen, in dem die WR erscheint, zudem vier Jahre Bundesvorsitzender der Journalistengewerkschaft dju, bis er 2008 WR-Chef wurde.

Kaum einer dürfte die WR so intensiv kennen wie Malte Hinz. Eine – das betont er mehrmals in unserem Gespräch – „außergewöhnlich leistungsfähige und kreative“ Mannschaft habe er da gehabt. „Wir sind alles andere als journalistisch gescheitert.“ Wie zum Trotz führt er auf, dass die Konrad-Adenauer-Stiftung erst im vorigen Herbst die WR mit dem zweiten Platz beim Deutschen Lokaljournalistenpreis ausgezeichnet habe. „Die Redaktion hat überhaupt nichts falsch gemacht.“ Wer aber dann?

Die Abwicklung der „Rundschau“ sei eine reine Unternehmensentscheidung vor einem wirtschaftlichen Hintergrund, sagt der Chefredakteur. In Dortmund war die WR immer nur die Nummer zwei hinter den „Ruhr Nachrichten“, Doch trotz Verlusten sei mit der WR im Verbund mit den anderen WAZ-Zeitungen Geld verdient worden, sagt Hinz. Das Anzeigenverkaufsgebiet war gewinnbringend abgedeckt – bis das Werbegeschäft dramatisch einbrach. 20 Millionen Euro minus machte die WR vor vier Jahren. 2011 waren es zwar nur noch 2,7 Millionen Euro, doch 2012 verschlechterte sich das Ergebnis wieder deutlich – im einstelligen Millionenbereich, sagt Hinz.

Dass die „Westfälische Rundschau“ jahrelang Sparauflagen angeblich missachtet haben soll, macht Malte Hinz zornig. „Wer das behauptet, der lügt.“ Die Redaktionsleitung habe selbst „verschiedene Handlungsvarianten entwickelt und gerechnet“, um Kosten zu minimieren. Sie reichten von Ausgabenzusammenlegungen über die Entwicklung eines völlig neuen lokalen Printprodukts bis zum Stellenabbau. Die der WR nachgesagte gewerkschaftliche Bindung wäre kein Handicap gewesen, um „da selbst hart ranzugehen“, beteuert Hinz. Aber seine Sparvorschläge hätten der Redaktion „auf Sicht eine echte Perspektive geboten“. Der Verlag entschied anders.

In diesen Tagen dürfen gerade mal noch 15 in den WR-Redaktionen in Schwelm und Wetter/Herdecke Lokalseiten bauen. Zum 1. April – kein Aprilscherz – sollen sie von der „Westfalenpost“ übernommen werden. Die Schwesterzeitung will mit den Ex-WRlern in dem Verbreitungsgebiet eine eigene Lokalredaktion aufbauen. Wie das bei zwei so verschiedenen politische Kulturen funkionieren kann, weiß keiner.

Der Mantel der „Westfälischen Rundschau“ bleibt vorerst von den Umstrukturierungen unberührt. In Essen, am zentralen Content-Desk der WAZ, arbeiten weiter zwei Blattmacher am WR-Mantel, in Dortmund sind es aktuell drei, Malte Hinz eingeschlossen. Macht also fünf statt bisher 140 WR-Köpfe.

„Der hat gerade eine ganz schwierige Rolle“, sagt ein ehemaliger Redakteur über seinen früher stets beliebten Chefredakteur. Viele der Ex-Kollegen hätten es Malte Hinz verübelt, dass er nach dem Desaster nicht freiwillig, demonstrativ seinen Hut genommen habe: Was will er dort noch, der König ohne Land? Das Bild gefällt Malte Hinz überhaupt nicht. „Ich war noch nie ein König. Ich habe immer hart gearbeitet. Ein König, glaube ich, tut das eher nicht. Dass der Verlag ihn nicht ersetzt oder gar entlässt, mag vor allem presserechtliche Gründe haben – Auch eine Zeitung mit zugelieferten Inhalten braucht jemanden fürs „V.i.S.d.P.“ und für die Auflage. 115.000 Zeitungen wurden vor der Umstellung im Lokalen verkauft. Inzwischen kursiert die Zahl von 5.000 Abo-Abbestellungen seit der Umstellung, mit gesicherten Zahlen ist aber erst in ein paar Wochen zu rechnen. „Wenn es nur 5.000 sind, dann wäre das ein zufriedenstellendes Ergebnis“, meint Hinz. Außerdem sei die Verlustquote aller Tageszeitungen im Ruhrgebiet deutlich höher als im Bundesschnitt. Da könne man nicht differenzieren, was genau die Abbestellungen motiviert. Eine ebenfalls noch offene Frage lautet, ob die Leser überhaupt wissen, dass „ihre“ WR nun von anderen Lieferanten gefüllt wird, denn vom Aus für die bisherige Belegschaft durften die Leser allenfalls über Umwege erfahren. Ob sie nun einen Unterschied merken, der WR treu bleiben oder ihr den Rücken kehren, könnte zur Nagelprobe auch für andere werden.

Mit seiner Rumpfmannschaft will Malte Hinz nun dafür sorgen, „dass es auch künftig einen ansehnlichen und der, Rundschau‘-DNA entsprechenden Mantel gibt“. Doch man merkt dem Herzblutjournalisten an, dass es ihm gehörig gegen den Strich geht, nicht mehr den lokalen Inhalt bestimmen zu können. Das Wort „Qualitätsverlust“ nimmt er nicht in den Mund, aber wenn er sagt, dass die WR jetzt im Lokalen „natürlich etwas anderes“ habe, als zuvor, spricht das auch für sich. „Es wäre ja auch seltsam, wenn richtig gute, sehr motiviert arbeitende Redaktionen eins zu eins zu ersetzen wären.“

Im Dezember macht Malte Hinz die 60 rund. Ob er dann noch Chefredakteur der WR sein wird? Er zögert. „Ach, das sind Spekulationen, die mir gar nicht liegen.“ Die „Westfälische Rundschau“ werde es zu dem Zeitpunkt sicher noch geben. „Wie sie dann personell aufgestellt ist, wird sich zeigen.“

Senta Krasser ist freie Journalistin in Köln.

senta@krasserjournalismus.de

Erschienen in Ausgabe 03/202013 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 28 bis 29 Autor/en: Senta Krasser. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.