Süddeutscher Anspruch im Web

Direkt unter dem Hochhaus an der Hultschiner Straße 8 fahren täglich Hunderte Züge vorbei. Man könnte meinen, die Züge würden vom 22. Stock des Süddeutschen Verlages aus dirigiert, so viele Monitore stehen am Platz des Homepage-Chefs von sueddeutsche.de: für die eigene Homepage, fürs Redaktionssystem, für die Konkurrenzbeobachtung, für Google Trends, für die Social-Media-Kanäle und für die Echtzeitmessung der Zugriffe. Dieser Platz mit den sechs Monitoren ist eine Schaltzentrale, nur werden hier keine Züge rangiert, sondern Topthemen. Aktualisiert im Minutentakt, wenn es die Nachrichtenlage erfordert. Sueddeutsche.de reklamiert für sich, neben „Spiegel Online“ die beste Nachrichtenseite in Deutschland zu sein. Genauer gesagt: Chefredakteur Stefan Plöchinger tut das. „Wir müssen vom Anspruch her eine Nachrichtensite sein, die man immer ernst nimmt – einfach, weil man ihre Sicht auf die Welt wissen will.“

Seit der ehemalige „Spiegel Online“-Textchef Plöchinger vor zwei Jahren das Ruder bei sueddeutsche.de übernahm, hat er viele Innovationen auf den Weg gebracht (siehe Kasten), mit am wichtigsten ist der stärkere Live-Charakter. Plöchinger und seine Kollegen haben eine Reihe von Live-Blogs gestartet: Regelmäßige wie den Transfer-Blog für die Fußball-Bundesliga, oder punktuelle zu Großereignissen wie Wahlen oder zu Breaking News wie dem Papst-Rücktritt. Meistens speisen sich die Blogs aus den Beobachtungen und Einschätzungen mehrerer Redakteure und Mitarbeiter – bei der Landtagswahl in Niedersachsen baute sueddeutsche.de erstmals auch externe Tweets in ihre Live-Blogs ein. Plöchinger hat im Haus stark für die Nutzung sozialer Netzwerke geworben. Er hat den Zeitungskollegen gezeigt, wie man im Social Web recherchiert, Themen findet, Dialog führt und seine Texte dort bewirbt. Dass er bei vielen Printkollegen Gehör findet, liegt auch daran, dass Plöchinger als erster Online-Chefredakteur auch im Impressum der Zeitung steht: Seit März 2011 firmiert er dort als „Geschäftsführender Redakteur (Online)“.

Online zog zu Print

Plöchinger hat damals von der SZ-Chefredaktion den Auftrag bekommen, die digitalen Themen der Zeitung zu regeln. Dazu zählt zum einen die bessere Verzahnung von Print und Online. Nach dem Wirtschaftsressort sind auch die Online-Redakteure aus Politik und Sport räumlich zu ihren Print-Pendants im Blatt gezogen. Das erleichtert die Absprache von Themen, gerade wenn das Live-Produkt sueddeutsche.de einen Weiterdreh braucht.Seit Plöchingers Amtsantritt hat die Online-Redaktion hausintern an Ansehen gewonnen. „In den vergangenen beiden Jahren hat sich der Qualitätsanspruch von sueddeutsche.de stark dem der Zeitung angenähert. Das betrifft die Aufmachung und Gewichtung von Themen, die Analyse politischer und wirtschaftlicher Ereignisse sowie die sprachliche und inhaltliche Präzision“, bilanziert der stellvertretende SZ-Chefredakteur Wolfgang Krach.

Auch optisch haben sich sueddeutsche.de und seine mobilen Versionen dem Erscheinungsbild der Zeitung angepasst (siehe Bilderstrecke) – seit dem letzten Relaunch verwenden Print, Online und Mobile sogar die gleiche Schrift. Die Art Direction von sueddeutsche.de entwirft alle digitalen Designs fürs Haus, die inzwischen unter Priorität der mobilen Auftritte konzipiert werden. Auf Mobilgeräten dominiert das einspaltige Layout, auch die Website ist seit dem letzten Relaunch einspaltig. „Decluttering“ nennt Plöchinger das Entrümpeln, immer wieder streut er im Gespräch Anglizismen ein, ebenso auf Twitter. Aber er ist mit 36 noch jung genug, dass man ihm das abnimmt.

Trotz aller personeller und optischer Verflechtungen: Am Markt erreichen Print und Online noch sehr unterschiedliche Zielgruppen. Die SZ hat 1,07 Millionen tägliche Leser, sz.de 2,41 Millionen wöchentliche Nutzer, bei 190.000 Überschneidungslesern. Von allen sz.de-Lesern lesen acht Prozent auch die Zeitung, von allen Zeitungslesern nutzen 18 Prozent die Website. Intern heißt es, „dass wir ein großes ungenutztes Leserpotenzial in beiden Welten haben“. Und Leserpotenzial bedeutet Käuferpotenzial. Vor allem online: „Wir müssen auch die Leser unserer Nachrichtenseite davon überzeugen, dass es sich lohnt, die Qualität des SZ-Journalismus durch eigene finanzielle Beiträge zu erhalten“, sagt Plöchinger. SZ-Vize Krach wird noch konkreter: „Unser Ziel muss es sein, möglichst bald Bezahlangebote auf sueddeutsche.de zu schaffen. Die können anders aussehen als bestehende, etwa bei der, Welt‘ oder der, New York Times‘. Wir wollen kein Modell von der Stange, sondern eines, das exakt zur, Süddeutschen Zeitung‘ passt.“ Noch 2013 sollen die Online-Leser teilweise zur Kasse gebeten werden. Die digitale Ausgabe der SZ ist schon immer kostenpflichtig. Anfangs ein reines E-Paper, gibt es inzwischen das SZ-Digital-Paket, bei dem man die Zeitung sowohl auf der Website als auch via App lesen kann. Los ging es mit der iPad-Ausgabe, seit kurzem gibt es eine Windows-8-Version, ein Android-Ableger ist noch für 2013 geplant. Diese Digitalabos gehen gut, vom 4. Quartal 2011 bis zum 4. Quartal 2012 ist der Verkauf um 70 Prozent auf 15.219 Abos gestiegen. Darunter sind allerdings auch die Leser, die die Zeitung abbestellen und dafür auf ein günstigeres Digitalabo umsteigen. Unter dem Strich können die Digitalabos den Rückgang der Zeitungsauflage nicht kompensieren. Rechnet man Print- und Digitalabos zusammen, ist die SZ-Auflage im gleichen Zeitraum von 427.722 auf 411.798 Exemplare gesunken. Online hat sich die Zahl der Visits (Seitenbesuche) in der Ära Plöchinger im Jahresschnitt von 31 Millionen (2011) auf 37 Millionen (2012) erhöht.

Während sueddeutsche.de vor allem abends einige Zeitungsstücke auf die Seite hebt, ist die iPad-Ausgabe weitgehend in sich abgeschlossen und enthält nur sporadisch Links zur Homepage. Auch das soll sich ändern: „Wir müssen die beiden Produkte künftig so klug verzahnen, dass der Leser zwischen dem Live-Produkt sueddeutsche.de und dem tagesaktuellen Produkt SZ hin und her springen kann. Denn für beide Nutzungsarten haben wir das publizistisch beste Produkt am Markt“, sagt Plöchinger.

40 Prozent Visits via Google

Klar ist, dass die „Süddeutsche“ auf eigene Geschäftsmodelle setzt. Für das auch vom Eigentümerverlag Südwestdeutsche Medienholding geforderte Leistungsschutzrecht kann sich kaum ein Redakteur erwärmen. Wolfgang Krach äußert sich verhalten: Zwar gebe es für ein Leistungsschutzrecht viele gute Gründe, aber auch gewichtige dagegen. „In jedem Fall bin ich skeptisch, ob das Leistungsschutzrecht alleine dazu geeignet ist, hochwertige journalistische Angebote wie das der SZ auf Dauer zu finanzieren.“ Stefan Plöchinger hat dazu auf seinem privaten Blog geschrieben, dass er durch das Leistungsschutzrecht unter dem Strich eher ein Minus für sueddeutsche.de befürchtet. Bis zu 40 Prozent der Visits finden auf unterschiedlichen Google-Wegen zu sueddeutsche.de – fielen die weg, würde das sehr wehtun. Gerade jetzt, da Plöchinger am Online-Newsdesk die Stelle eines „Editorial SEO“ geschaffen hat: Ein Redakteur soll ausschließlich kontrollieren, ob die Homepage die Themen hat, die bei Google gerade am meisten gesucht werden, und ob die Keywords in den Texten an den richtigen Stellen eingebaut sind. Oder in den Worten Plöchingers: „Du legst den Text in den Kiosk und schreibst etwas drauf, was der Leser versteht.“ Da die Redaktion aber nicht die Regeln bestimmen kann, nach denen die Leser an diesem Kiosk künftig zahlen sollen, sinniert sie lieber über ein maßgeschneidertes Bezahl-modell für sueddeutsche.de. Das würde dann auch für die Besucher gelten, die über Google den Weg auf die Seite gefunden haben.

Bernd Oswald ist Autor und Trainer für digitalen Journalismus in München.

post@berndoswald.de

Link:Tipps

www.sueddeutsche.de/thema/szblog Der SZ-Blog, in dem Plöchinger Neuerungen auf sz.de vorstellt.

www.zugmonitor.sueddeutsche.de Datenjournalistisches Projekt, das die Verspätungen im Fernverkehr der Bahn visualisiert.

www.gefaelltmir.sueddeutsche.de/ Microblog, in dem die SZ die Phänomene dokumentiert, über die das Web lacht.

Erschienen in Ausgabe 03/202013 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 44 bis 44 Autor/en: Bernd Oswald. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.