Wie hältst du’s mit der Religion?

Der Selbstmordattentäter spricht in die Kamera, seine Stimme wird durch ein arabisches Gebet übertönt. Schnitt. Er fährt mit dem Geländewagen die Straße entlang, direkt auf das Redaktionsgebäude der Tageszeitung „This Day“ zu. Es knallt, durch die Wucht der Bombe stürzen Teile des Hauses ein. Schnitt. Die Szene wird wiederholt, unterlegt durch arabische Allah-Rufe. Schnitt. In der Nahaufnahme rennen Menschen aus den Trümmern. Ende.

Es ist der 26. April 2012, als in der nigerianischen Hauptstadt Abuja gegen 9 Uhr morgens ein Selbstmörder die Redaktion ansteuert, noch am gleichen Tag bekennt sich die radikalislamistische Organisation Boko Haram zu dem Attentat, bei dem drei Menschen sterben. Schon vorab kündigten die Terroristen diese Tat per Mail an: Die Journalisten sollten ihre Berichterstattung nicht so „einseitig“ halten, sonst „passiere etwas“. Das Video von dem Anschlag, gefilmt mit einem Handy und mutmaßlich von den Tätern auf Youtube eingestellt, soll zeigen: Wir kriegen euch!

„Das tun sie aber nicht“, sagt Olusegun Adeniyi. „Wir lassen uns in unserer Berichterstattung nicht beeinflussen. Auch nicht durch diesen Angriff auf unsere Pressefreiheit“, so der Redaktionsleiter. Die privat geführte Tageszeitung „This Day“ ist ein einflussreiches Printmedium im Norden Nigerias. Wegen seiner kritischen Beiträge zu Boko Haram wird das moderat konservative Blatt mit einer Auflage von 50.000 nahezu ständig von Unbekannten bedroht.

Obwohl Adeniyi diesen täglichen Terror gewohnt ist, weiß er, es wird einen nächsten Anschlag geben – und er befürchtet, dass der Terror aus dem benachbarten Mali die Situation in Nigeria weiter anheizen könnte. Deswegen will er sich mit der Interviewerin nicht in den neuen Büroräumen treffen, es soll keine Unruhe durch die Anwesenheit Fremder entstehen, erklärt Adeniyi. „Wir Journalisten wissen, solch ein Angriff kann jederzeit wieder passieren. Das ist unser Berufsrisiko“, sagt er.

Die Medienlandschaft in Nigeria ist eine der vielfältigsten des Kontinents. Trotz schwieriger Rahmenbedingungen, wie staatlichen Repressalien, Terroranschlägen und finanziellen Problemen, gibt es zahlreiche private und staatliche Medien. Jeder der 36 Bundesstaaten unterhält eigene Zeitungen, Radio- und Fernsehsender. Als wichtigstes Medium gilt das Radio, weil es günstig ist und in einem Land, in dem 40 Prozent der Menschen laut Unesco Analphabeten sind, die einzige zugängliche Informationsquelle ist.

Selbstzensur und Gewalt

Offiziell herrscht Presse- und Meinungsfreiheit, politische Fragen des Landes werden offen und kritisch diskutiert, der Regierung wird Paroli geboten. Da aber ein Großteil der Medien Teile von Konzernen sind, deren geschäftlicher Erfolg von Aufträgen abhängt, fördert dies die Selbstzensur. So werden kritische Beiträge unterdrückt, Journalisten lassen sich dafür bezahlen, wohlwollende Berichte unterzubringen, und mancher Chefredakteur greift schon vor Veröffentlichungen in die Berichterstattung ein, um möglichen Konflikten mit dem Herausgeber vorzubeugen.

Unter anderem deswegen belegt Nigeria nur Platz 115 des Pressefreiheitsindexes, aber auch weil es regelmäßig zu Gewalt gegenüber Journalisten kommt. „Nigeria ist ein paradoxer Fall“, sagt Christoph Dreyer, bei Reporter ohne Grenzen zuständig für Afrika. Es gebe zwar eine meinungsstarke Presselandschaft, die Medien seien aber nicht immer unabhängig und würden von verschiedensten Seiten bedroht. „Politiker, der Geheimdienst und insbesondere Boko Haram schüchtern Journalisten ein“, sagt Dreyer.

Einen halben Kilometer von den Ruinen der einstigen „This Day“-Redaktion entfernt werden gerade die neuen Redaktionsräume der „Daily Trust“ bezogen. Chefredakteur Mannir Dan-Ali sitzt im Garten hinter dem Haus, wo auch die Blattkonferenzen stattfinden. 250 Journalisten arbeiten für die Zeitung, die mit einer täglichen Auflage von 50.000 die meistgelesene im Norden des Landes ist. Trotz pro-muslimischer Berichterstattung erreichen regelmäßig Drohbriefe, Anrufe und Mails von mutmaßlichen Islamisten die Redaktion – denn Boko Haram zielt auch auf liberale Muslime. Weil Nigeria einer der größten Truppensteller in Mali ist, fürchtet auch Dan-Ali Anschläge von Islamisten. Deswegen schaut er immer in den Rückspiegel, wenn er Auto fährt.

Als die Bombe bei den Kollegen explodiert war, erhielten auch sie wieder eine Drohung von Boko Haram – angeblich. Denn ob wirklich die Islamisten hinter den Anschlägen auf Kirchen, Journalisten, Politiker und Polizeistationen stecken, ist längst nicht immer überprüfbar. Zwar melden sich immer wieder angebliche Boko-Haram-Anhänger bei der Redaktion und fordern eine wohlwollende Berichterstattung – wer aber sprengt und mordet, das kommt selten ans Licht.

Schreiben unter Lebensgefahr

Boko Haram sei mittlerweile auch eine Art „Franchiseunternehmen“, sagt Mannir Dan-Ali. „Wenn ein Geschäft ausgeraubt wird, dann heißt es, Boko Haram sei das gewesen“, sagt er und lacht. Dann schiebt er hinterher: „Wir schreiben unter Lebensgefahr. Manche Kollegen kehren von ihren Recherchen nicht zurück.“ So wie die beiden christlichen Reporter, die 2010 ums Leben kamen: Sie wollten über die Zusammenstöße zwischen Christen und Muslimen in der Stadt Jos berichten, wurden überfallen und getötet. Dass im Ausland über solche Vorfälle berichtet wird, nützt den nigerianischen Journalisten nicht viel: „Wir registrieren hier lediglich die Nachrichten aus unserem Land“, sagt Dan-Ali.

Vor dem Gebäude von AIT (African Independent Television), dem größten privaten Fernsehsender des Landes, stehen riesige Stromaggregate, denn ein funktionierendes Stromnetz gibt es im ganzen Land kaum. Zweimal in der Woche fährt George Ehusani hinauf auf den Hügel außerhalb von Abuja zu den AIT-Studios. Hier wird der „Interfaith Dialogue“ aufgezeichnet – eine 30-minütige Sendung, die Vorurteile zwischen Christen und Muslimen erst gar nicht aufkommen lassen soll. Der Priester Ehusani und der Imam Muhammed Nuruddeen Lemu sitzen sich auf Bürostühlen gegenüber, als Hintergrund dient ein schwarzes Tuch. Thema heute: „Die Frage des Leids und des Bösen“. Es ist keine Diskussion, wie wir sie kennen. Niemand wird bei dieser Fernsehdebatte laut oder kontrovers, es ist ein Austausch von Ansichten. Der Priester und der Imam antworten mit sehr theologischen Textstellen aus Bibel und Koran, der Moderator fragt ruhig nach und tupft sich hin und wieder den Schweiß von seiner Glatze.

In Deutschland würde solch ein Format vielleicht nur drei Zuschauer erreichen, in Nigeria schauen nach Angaben des Senders bis zu 50 Millionen Menschen zu. Ehusani ist auch Mitherausgeber der Tageszeitung „The Guardian“ – vergleichbar mit der FAZ. „Unsere Gesellschaft ist sehr sensibel bei religiösen Themen“, sagt Ehusani. „Deswegen müssen wir sie sachlich angehen, sonst gibt es rasch Ärger.“

Was das bedeutet, weiß auch Isiama Daniel, einst Moderedakteurin bei „This Day“. Als 2002 wochenlang Muslime gegen die in Abuja geplante Miss-World-Wahl demonstrierten, schrieb die Journalistin – eine Christin –, der Prophet Mohammed hätte sicherlich keine Probleme mit der Wahl gehabt: „Er hätte sich vermutlich die schönste Frau ausgesucht.“ Der als Gotteslästerung empfundene Satz löste in der nordnigerianischen Stadt Kaduna Kämpfe zwischen Christen und Muslimen aus, bei denen mehr als zweihundert Menschen ums Leben kamen. Ein wütender Mob brannte das Redaktionsgebäude nieder. Nachdem die Lokalregierung des Bundesstaates Zamfara die Journalistin mit einer Fatwa, einem Todesurteil, belegte, floh diese in die USA. Bis heute fürchtet sich Daniel vor einer Rückkehr in ihre Heimat, sie lebt
mittlerweile in Schweden.

Infos Nigeria

Nigeria ist mit mehr als 160 Millionen Einwohnern der bevölkerungsreichste Staat Afrikas. Es fördert täglich zwei Millionen Barrel Öl, doch der Ölreichtum kommt bisher nur einer kleinen Elite im Süden des Landes zugute. Mehr als die Hälfte der Nigerianer lebt nach Angaben des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Armut.

Diese sozialen Spannungen tragen dazu bei, dass Nigeria immer wieder von gewaltsamen Konflikten erschüttert wird. So kommt es in den Ölfördergebieten des Niger-Deltas seit Jahren zu Kämpfen zwischen bewaffneten Gruppen, kriminellen Banden und Sicherheitskräften. Zudem will die radikalislamistische Sekte Boko Haram den Vielvölkerstaat gewaltsam islamischem Recht, der Scharia, unterwerfen.

Cigdem Akyol

ist Redakteurin im Gesellschafts- und Medienressort der „taz“ in Berlin.

akyol@taz.de

Link:Tipps

www.thisdayonline.com

www.dailytrust.com.ng

www.ngrguardiannews.com

Erschienen in Ausgabe 03/202013 in der Rubrik „Medien & Beruf“ auf Seite 66 bis 68 Autor/en: Cigdem Akyol. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.