Wann ist ein Skandal ein Skandal? Wenn Rainer Brüderle der „Stern“-Journalistin Laura Himmelreich zu tief ins Dekolleté schaut? Klar, das sollte er auch nach ein paar Gläsern Riesling nicht tun. Aber eignet sich ausgerechnet der zuweilen mit sexistischen Titelseiten um Käufer buhlende „Stern“ als moralischer Zeigefinger in der Sexismus-Debatte?
Oder wenn Hessens FDP-Chef Jörg-Uwe Hahn die gesellschaftlichen Erwartungen an seinen „asiatisch aussehenden Vizekanzler“ Philipp Rösler thematisiert? Reflexartig wurde der Rassismus-Vorwurf in die Welt gesetzt, obwohl Hahn das Gegenteil ausdrückte. Wirklich gelesen hatte das Interview offenbar keiner von denen, die Hahn skandalträchtig in die fremdenfeindliche Ecke stellten.
Oder wenn Peer Steinbrück nicht wissen will, wer den – inzwischen stillgelegten – Online-Unterstützerdienst „Peerblog“ finanzierte? Umgehend wurde seine Glaubwürdigkeit angezweifelt und der Vorgang skandalisiert. Oder wenn er mit Vorträgen über eine Million Euro verdiente? Dass er die Einnahmen ordentlich versteuerte, half ihm nichts: Der SPD-Kanzlerkandidat mutierte zum Raffzahn. Schon wieder ein Skandal.
Oder wenn Annette Schavan vor über 30 Jahren bei ihrer Doktorarbeit nicht korrekt zitiert und deshalb ihren Job als Bildungsministerin verloren hat? Dumm gelaufen, vielleicht. Aber ein Skandal? Wer von den belehrenden Schreibern noch nie abgeschrieben hat, der werfe den ersten Stein.
Ist die Unfähigkeit der amerikanischen Parlamentarier, sich nicht auf einen Haushalt einigen zu können, ein Skandal? Oder sind es die geplanten Steuererhöhungen für Reiche, wie es die Obama-Administration verlangt? Nach Lektüre der Kommentare von Deutschlands Alpha-Journalisten offenbar beides. Ja, was nun?
Die Empörungsmaschinen laufen mit hoher Drehzahl. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht auch gewöhnliche Nachrichten mit dem Attribut Skandal belegt werden, um sie in der Neuigkeiten-Flut hervorzuheben. Wo es kaum echte Skandale gibt, wird das Normale skandalisiert.
Es ist die Hybris des Publikums, politischen und gesellschaftlichen Würdenträgern jeden Tag moralisches Handeln abzuverlangen. Und es ist die Hybris der schreibenden Zunft zu glauben, nur durch gefälliges Liefern von angeblichen und tatsächlichen Skandalen dem geifernden Publikum gerecht zu werden. Schlimmer noch: zu glauben, sich damit der wirtschaftlichen Bedrohung ihrer eigenen Existenz entgegenstemmen zu können.
In dieser Gemengelage neigen Journalisten zu einem moralischen Rigorismus, der die Substanz des skandalisierten Vorgangs geflissentlich übersieht. Den einmal getroffenen Standpunkt lassen sich die Hüter der vierten Gewalt nicht so leicht madig machen. Und wenn die Empörung offenkundig auf falschen Annahmen basiert, sind Eingeständnisse oder Korrekturen meistens Fehlanzeige.
Das stört nicht nur die Leser, das stört inzwischen selbst die PR-Strategen. Zu deren Aufgaben zählt ja auch, offenkundig Falsches oder falsch Verstandenes richtig zu stellen. Aber das funktioniert in einer Welt, in der sich Journalisten nicht mehr korrigieren, immer weniger. Selbst die Vorlage nachprüfbarer Belege hilft da nichts. Der Vorstandsvorsitzende des mit der Falschaussage belasteten Unternehmens könne diesen Vorgang ja selbst richtigstellen, wenn er sich endlich zu einem Interview mit dem Blatt aufraffen würde, so der oftmals großzügig angebotene Deal – Geben und Nehmen eben. Man könnte diese journalistische Chuzpe, die längst nicht nur im Boulevard grassiert, auch Erpressung nennen.
Journalisten brauchen Geschichten, aber für die Recherche haben sie vor dem Hintergrund ausgedünnter Redaktionen immer weniger Zeit. Wenn PR-Manager oder Spindoktoren Geschichten liefern, greifen sie gierig zu. Der Wahrheitsgehalt ist dabei oftmals nebensächlich. Und für Korrekturen ist die schreibende Zunft nicht mehr zu haben.
Das ist der eigentliche Skandal. Und er ist zutiefst geschäftsschädigend für die Zunft. Wer eine Zeitung oder Zeitschrift in die Hand nimmt, will nicht nur das haptische Erlebnis, das Knistern der Blätter. Er sucht vor allem nach Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit in der Berichterstattung.
Leser schrecken gut gemachte Zeitungen jedenfalls nicht. Ganz im Gegenteil: Sie kaufen diese Blätter. Woche für Woche, mit steigender Tendenz. Und für Richtigstellungen sind sich diese Blätter auch nicht zu schade.
Anton Hunger (64) ist Journalist und war 17 Jahre Pressechef bei Porsche. Heute betreibt er das Kommunikationsbüro „Publicita“ in Starnberg.
Er ist u. a. auch Mitgesellschafter von „brand eins“.
Erschienen in Ausgabe 04/202013 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 84 bis 84 Autor/en: Anton Hunger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.