Die neue Herrin der französischen „Welt“

Der neue Chefredakteur des französischen Traditionsblattes „Le Monde“ hätte ein alter Redaktions-Hase werden können oder ein junger Reformer. Ein intern klug vernetzter Journalist oder ein externes Schwergewicht. Doch es kam anders, als Natalie Nougayrède spontan ihren Hut in den Ring warf. „Meine Entscheidung kommt spät, aber nicht minder komplett und entschlossen, im Bewusstsein meiner Stärken und Schwächen“, versicherte die 46-Jährige in einer Mail an Eigentümer Pierre Bergé, Matthieu Pigasse und Xavier Niel, die den Redakteuren einen gemeinsamen Kandidaten vorschlagen mussten.

Als sie diese Zeilen Ende Januar schrieb, konnte Nougayrède nicht davon ausgehen, dass die Wahl tatsächlich auf sie fallen würde: Eine wenig bekannte Außenseiterin, die zwar mit renommierten Preisen ausgezeichnet worden war, aber nie eine Führungsposition innehatte; die als Korrespondentin in Osteuropa ein internationales Profil vorweisen kann, aber keine Management-Erfahrung in Zeiten der ökonomischen Zwänge. „Wenn ich, eine Journalistin von der Basis, dieses Abenteuer wage, dann um eine starke Botschaft zu senden“, erklärte sie vor der Gesellschaft der Redakteure, die sie vor der Abstimmung drei Stunden lang in die Mangel nahmen. „Um zu zeigen, dass das Unerwartete möglich ist.“

Das ist ihr gelungen: Mit 79,4 Prozent Ja-Stimmen erhielt sie bei der Versammlung am 1. März nicht nur deutlich mehr als die notwendigen 60 Prozent, sondern auch mehr als 2011 ihr Vorgänger Érik Izraelewicz, dessen überraschender Tod im November die Führungsfrage aufgeworfen hatte.

Seit 1. März ist Natalie Nougayrède Verlags- und Redaktionsdirektorin der „Monde“, als erste Frau seit Gründung des Blattes im Jahr 1944. In der männlich dominierten französischen Presse hatte bislang nur die katholische Tageszeitung „La Croix“ mit Dominique Quinio eine weibliche Spitze. Nougayrède selbst sieht sich nicht als feministische Vorkämpferin. „Ich habe mich nicht nur als Frau beworben, sondern als Journalistin, die stolz ist auf diese Zeitung und absolut entschlossen, sie und ihre Strahlkraft zu verteidigen“, erklärte sie in ihrer eigenen Zeitung. Allerdings verdankt sie ihre Wahl wohl nicht nur ihrem Ruf großer Unabhängigkeit und Professionalität und dem frischen Wind einer Neuentdeckung; vor allem gilt sie als kleinster gemeinsamer Nenner der drei Hauptaktionäre, die sich nicht einigen konnten auf einen der beiden Favoriten: Franck Nouchi, seit langem im Führungszirkel bei „Le Monde“, aber kaum ein Kandidat der Erneuerung, und Arnaud Leparmentier, Politikredakteur und früherer Korrespondent in Brüssel und Berlin, dessen Positionen Kritiker als zu polarisierend und wirtschaftsliberal ablehnen.

Um der Zeitung Führungskrisen zu ersparen, die sie in den vergangenen Jahren schwer erschütterten, plädierten ihre Mitarbeiter für eine schnelle und klare Lösung. „Die Journalisten haben mehr für eine Haus-Kandidatur gestimmt als für Nougayrède selbst“, sagt einer von ihnen. Zumal viele Kollegen die Frau nicht oder kaum kennen, die nun also die Geschicke eines der bedeutendsten Leitmedien Frankreichs mitbestimmen wird. Sie gilt als unbeugsamer „Charakterkopf“, aber auch als „Rätsel“. Wer also ist Natalie Nougayrède?

Geboren in Dijon, wuchs sie durch mehrmalige Versetzungen ihres Vaters, eines Bergbauingenieurs, vor allem in Großbritannien und Kanada auf, wo sie Englisch und Russisch lernte. Getrieben vom Traum, für „Ärzte ohne Grenzen“ zu arbeiten, begann sie nach dem Abitur zunächst ein Medizinstudium, das sie bald wieder aufgab – doch das Ziel, „ohne Grenzen“ zu arbeiten, blieb. Sie habe das Metier der Journalistin gewählt, weil es eine unglaubliche Art sei, auf andere zuzugehen und die eigene Schüchternheit zu überwinden, sagt Nougayrède.So studierte sie an zwei angesehenen Journalistenschulen in Straßburg und Paris, bevor sie als freie Korrespondentin für die linksgerichtete Zeitung „Libération“ und die BBC zunächst 1991 in die damalige Tschechoslowakei bis zu deren Auflösung und anschließend bis 1995 nach Georgien und Aserbaidschan ging. Nach einer kurzen Station in der Zentralredaktion von „Libération“ berichtete sie ab 1996 für „Le Monde“ aus der Ukraine und Russland. Für ihre Berichterstattung über die dramatische Geiselnahme in einer Schule in Beslan und den Tschetschenien-Konflikt erhielt sie 2005 den renommierten Albert-Londres-Preis und den Preis der diplomatischen Presse. Auch dass sie 2008, wieder zurück in Paris und im Ressort internationale Politik bei „Le Monde“, nach kritischen Artikeln über den damaligen Außenminister Bernard Kouchner aus der jährlichen Botschafter-Konferenz geworfen wurde, formte ihren Ruf als unbestechliche Journalistin.

Sie sehe die Medien als „Ausdruck der Demokratie“ und werde stets für qualitative und unabhängige Information und größtmögliche Nähe zum Leser kämpfen, erklärte Nougayrède gegenüber ihren Kollegen, die sie allerdings als unsichere Rednerin erlebten und nicht schonten. Wie sie denn erkannt habe, dass gerade sie einen „Ozeandampfer“ führen könne, die noch nie eine Handvoll Untergebene geleitet habe, fragte einer. Ob sie dem Druck der Aktionäre und dem publizistischen Direktor Louis Dreyfus standhalten werde, ein anderer. „Ich bin nicht naiv, aber auch nicht für kontraproduktives Misstrauen“, verteidigte sich Nougayrède. Auf den Vorwurf, in Sachen Internet bislang als Fortschrittsverweigerin aufgefallen zu sein, erwiderte sie schlagfertig: „Wenn sogar ich meine Meinung geändert habe, werden es alle tun.“ Die Zeitung fit für das Web-Zeitalter zu machen, ihre Position zu stärken und vertiefte und verlässliche Information zu garantieren, bezeichnet sie als ihre Hauptaufgabe. Als meinungsfreudiges und unabhängiges Blatt werde „Le Monde“ sich selbst treu bleiben, versprach sie in ihrem ersten Leitartikel als Chefredakteurin. Den Mut, den sie mit ihrer Überraschungs-Bewerbung gezeigt hat, wird Nougayrède auch künftig brauchen. Doch der wurde immerhin in Krisengebieten gestählt, betonte der Aufsichtsratschef der Gesellschaft der Redakteure, Alain Beuve-Méry in der Redakteursversammlung. „Man merkt, dass sie Tschetschenien mitgemacht hat.“

Birgit Holzer ist Auslandskorrespondentin in Paris.

birgit.holzer@ddrewes.eu

Erschienen in Ausgabe 04/202013 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 64 bis 64 Autor/en: Birgit Holzer. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.