Klischees bitte etwas saftiger!

Es muss an der Jahreszeit liegen. Nun, da der Frühling sich offenbar entschlossen hat, doch noch einzuziehen, und sei es im Frühsommer, nun also bricht sie wieder aus wie eine Krankheit: die Journalistenpoesie. Wie fasst der Agenturjournalist die Tatsache in Sprache, dass ein Produzent von Solarmodulen nach schweren Zeiten wieder Hoffnung schöpft? Nun ja, er könnte sagen: „Licht am Ende des Solartunnels“. Nur um uns eine Freude zu machen. Aber das war dem Kollegen von Reuters zu billig. „Solon sieht Tal der Tränen fast durchschritten“, dichtete er. Immerhin: nicht durchschwommen. Das hat schon was. Und dann der vornehme Gestus: „sieht durchschritten“ – und zwar nicht gänzlich, sondern „fast“. Das hat Format.

Grassierendes Sterben

Schon erscheint der alte Solon vor unserem geistigen Auge, der nicht nur athenischer Staatsmann, großer Reformer und einer der sieben Weisen Griechenlands war, sondern eben auch Lyriker. „Siegle deine Worte mit Schweigen, dein Schweigen mit dem rechten Augenblick“ ist einer von Solons berühmten Sprüchen. Kein Spruch für Journalisten, wie wir leicht erkennen können.

Denn würde diesem Ratschlag Folge geleistet, könnten die schönsten Exemplare deutscher Journalistenpoesie nie, na, was jetzt? Jawoll: das Licht der Welt erblicken. Was sagt man, wenn ein alter Papst abtritt und sich der Trauergemeinde auf dem Petersplatz oder vor dem Castel Gandolfo zuwendet? Oder wenn ein neuer Papst inthronisiert wird und allerlei Worte und Gesten an die Schlachtenbummler richtet? „Der Hirte nahm sich Zeit für seine Herde.“ Das sagt man. Ja, sicher, das ist abgedroschen. Aber wer sagt denn, dass Journalistenpoesie eine andere Qualität haben muss als der Kalenderspruch fürs Altenheim?

Um richtig originell zu sein, muss man schon ordentlich hinlangen, wie „Die Welt“. Die Schlagzeile „Die Love-Parade des Tango-Papstes“ ist so zupackend und unmittelbar überzeugend, dass keiner auf die Idee kommen wird, ihren Sinn zu hinterfragen. Was sich freilich lohnen könnte. Wir wollen jetzt nicht daran herummäkeln, dass ein Gottesmann „Tango-Papst“ genannt wird, nur weil er aus Argentinien kommt. Viel fruchtbringender ist doch die Überlegung, wie eine Love-Parade aussehen müsste, bei der nicht ekstatischer und offen sexueller Rave, sondern artifizieller und krypto-sexueller Tango den Takt angibt. Großartig, diese Vorstellung.

Dagegen fällt viel anderes deutlich ab. „Scharping steigt vom Rad“ als FAZ-Signal dafür, dass der frühere Politiker sich vom Präsidentenamt des Bundes Deutscher Radfahrer zurückzieht – ein bisschen müde. Wenn schon Sprachklischee, liebe Freunde, dann bitte etwas saftiger. Dummerweise haben die Kolleg(inn)en von der FAZ versäumt, die Radmetapher wieder aufzunehmen, als Scharping dann doch als BDR-Präsident bestätigt wurde. „Scharping wieder fest im Sattel“ wäre aber das Mindeste gewesen, was sie ihrem Stil schuldig sind.

Anlass zu verhaltener Freude gab aber dann wieder die Wirtschaftsredaktion nämlicher Zeitung, die mit der Zeile „Fabriksterben grassiert in der Autoindustrie“ genau das Maß an Irritation auslöste, das der Leser so gerade noch ertragen kann. Das Sterben grassiert? Wirklich eine hübsche Vorstellung, dass das Sterben um sich greift. Sofern überhaupt eine Vorstellung damit verbunden sein sollte. Freilich kann es auch sein, dass der gemeine Zeitungsleser genauso über Schlagzeilen wegliest, wie Zeitungsschreiber und Überschriftenmacher ihre Zeitungen und Überschriften wegproduzieren.

Rehagel, das Fettauge

Wohingegen die EPD-Kollegen sich richtig etwas gedacht haben müssen bei der Zeile: „An Babyklappen wird nicht gerüttelt“. Denn was macht man mit Klappen? Man klappt sie auf und zu oder rüttelt an ihnen. Schließlich soll der Journalist, auch wenn er lyrisch wird, nicht zu grob in die Phantasie seiner Leser, Hörer, Zuschauer greifen. Die könnten sich daran gewöhnen.

Zum Beispiel an die Meisterleistung der „Süddeutschen Zeitung“, die versuchte, den Besuch des früheren Fußballtrainers Otto Rehagel in Griechenland als Botschafter des guten Willens im Dienste ihrer Majestät, der Kanzlerin, in Worte zu fassen: „Wie ein Fettauge auf antideutscher Suppe schwimmt die Delegation durch die Stadt.“

Das wird so schnell nicht zu schlagen sein.

Peter Zudeick ist freier Journalist und Korrespondent für mehrere ARD-Hörfunkprogramme.

p.zudeick@t-online.de

Erschienen in Ausgabe 04/202013 in der Rubrik „Praxis“ auf Seite 75 bis 75. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.