„Nachrichten ins Netz, Gefühle ins Blatt!“

Vor ziemlich genau einem Jahr spielte Steffen Klusmann öffentlich mit dem Gedanken, die „Financial Times Deutschland“ in eine Wochenzeitung zu verwandeln, um das notorisch defizitäre Unternehmen vielleicht auf diese Weise noch zu retten. Sein Plan: eine digitale FTD unter der Woche und eine üppige Printausgabe fürs Wochenende.

Ob der Plan realistisch war, bleibt ein Rätsel. Der besondere Wert von Klusmanns Plan war der Impuls, den er gab. Immerhin war er der Chefredakteur einer Wirtschaftszeitung. In dieser Funktion appellierte er auch an das Rechenvermögen in anderen Verlagen: Können die Erlöse nicht mehr rauf, müssen die Kosten radikal runter.

Trend: Runter mit den Frequenzen

Allgemein lässt sich der Trend verzeichnen, dass die Erscheinungsfrequenzen von gedruckten Periodika reduziert werden. Das gilt besonders für Fachmagazine. Sie leben zunehmend von ihren digitalen Inhalten. Ein illustres Beispiel ist „Variety daily“ der Filmbranche, das demnächst nicht mehr täglich erscheinen soll.

Auch fällt auf, dass immer mehr Zeitungsverlage in den USA, in Großbritannien sowie in Nordeuropa den Abbau von täglichen Printausgaben zum Bestandteil ihrer Strategie erklären und unterschiedliche Frequenzmodelle eingeführt haben.

Martin Langeveld, ein erfahrener amerikanischer Chefredakteur und treffsicherer Prognosen-Guru des Journalismus, wagte vor wenigen Wochen im „Nieman Journalism Lab“ der Harvard University die These: „Das Geschäftsmodell der Tageszeitung ist erledigt.“ Bis zum Ende des Jahres 2015 werde weniger als die Hälfte von ihnen noch täglich erscheinen. Gibt es womöglich so etwas wie das späte Glück der „Zeit“, bereits nur eine Wochenzeitung zu sein?

Auch im deutschsprachigen Verlagsgeschäft fragen sich immer mehr Verantwortliche, wie es wäre, wenn man die Herstellungskosten auf wenige Tage oder gar nur einen Tag in der Woche konzentrieren könnte, anstatt sie auf fünf, sechs oder sieben zu verteilen. Je mehr die Ungewissheit zunimmt, ob jeder neue Tag genügend Geld einbringt, desto mehr drängt die Frage.

Dass manche Geschäftsmodelle wirklich erledigt sind, zeigt die britische Zeitung „The Guardian“. James Surowiecki schrieb vor vier Jahren im „New Yorker“: „Je unprofitabler die Zeitungen werden, desto berühmter werden sie.“ Der „Guardian“ steht Pate für das Dilemma. Er soll pro Woche mehr als eine Million Euro Verlust machen. Spekulationen über seine Restlaufzeit im täglichen Zeitungsgewand belaufen sich auf sechs bis 36 Monate.

Patrick Smith, Chefredakteur des – rein digitalen – britischen Branchendienstes www.themediabriefing.com, berichtet, dass im Moment sehr ernsthaft geprüft werde, den „Guardian“ in eine Wochenzeitung zu wandeln. „Würde man die Tageszeitung einfach schließen, bliebe eine der populärsten Webseiten der Welt und genau das übrig, was man will: eine Wochenzeitung.“ Klar! Die Guardian Media Group besitzt bereits die Sonntagszeitung „The Observer“.

Britische Beispiele

Was eine echte Umstellung zur Wochenzeitung bedeutet, haben in den vergangenen zwei Jahren neun lokale Tageszeitungsredaktionen in Großbritannien vorgemacht: Zum Beispiel der „Halifax Evening Courier“, die „Scarborough Evening News“ oder der „Northamptonshire Evening Telegraph“. Sie erscheinen nun immer freitags und mit leicht veränderten Namen: „Halifax Courier“, „Scarborough News“, „Northamptonshire Telegraph“.

Die beiden Verlage hinter der Abschaffung der Tageszeitungen sind die britischen Konzerne Johnston Press und Local World in London. Während Johnston Press im Jahr 2012 fünf Tageszeitungen (beispielsweise die drei genannten) modifizierte, unternahmen vier Zeitungen der Northcliffe-Media-Gruppe (Local World) bereits 2011 denselben Schritt.

In einem ausführlichen und lesenswerten Strategiepapier über die „Transformation lokaler Medien im Vereinigten Königreich“ erläutert das Management von Johnston Press Gründe und Ziele für die Umstellungen: „Wir müssen das Verhältnis zu unseren Kunden neu sortieren […]. Auf einer täglichen oder stündlichen Basis werden Medien in Zukunft vornehmlich digital sein, während die meisten Druckausgaben wöchentlich einen Hintergrund bieten sollen.“

Als hätten sich die beiden voneinander unabhängigen Verlage darüber abgestimmt, wählten sie Zeitungen mit sehr ähnlichen lokalen Profilen. Sie erscheinen in Regionen mit starkem Wettbewerb und mit relativ kleinen Auflagen um die 20.000 Exemplare.

Die Produktstrategien sind dagegen grundverschieden: Während Johnston Press sämtliche Zeitungen neu konzipiert und damit in ihrer Anmutung zu vollkommen neuen Produkten gemacht hat, sind die Northcliffe-Titel dem redaktionellen Aufbau und Format der früheren Tageszeitungen sehr ähnlich. Lediglich ihr Umfang hat sich auch stark vergrößert auf insgesamt fast 200 Seiten.

Somit verkaufen nun beide Verlage ihre gedruckten Wochentitel am Kiosk als „Premiumprodukte“ – die Verkaufspreise wurden mehr als verdoppelt, z. B. von 38 Pence auf 1 Pfund. Die Webseiten beider Verlage sollen zunächst gratis bleiben, um digitale Reichweite aufzubauen. Johnston Press hat parallel dazu für alle Titel auch Apps mit Bezahlinhalten eingeführt.

Robert Sims, Nachrichtenchef des Northcliffe-Titels „Express & Echo“ (Exeter/England), hat keine Schwierigkeiten, den Sinn der neuen „Digital first“-Strategie zu bestätigen: „Solange wir eine Tageszeitung waren, hatten wir große Schwierigkeiten, unsere Nachrichten zwischen Netz und Papier zu koordinieren.“ Heute sei es leicht zu unterscheiden, was gedruckt werden soll und was auf die Website gehört: „Nachrichten ins Netz, Gefühle ins Blatt.“

Systematisch werden in den Wochenzeitungen Kommentare von Lesern abgedruckt. Selbst Themen, die sie vorschlagen, werden zunehmend berücksichtigt. Das Papier verewigt Debatten, die in der Woche online geführt werden. „Social Media zum Einrahmen“, erklärt ein Redakteur aus Halifax am Telefon. „Als Redaktion kommen wir noch nicht immer damit zurecht, uns zurückzuhalten – aber das wird schon.“

Die Entwicklung ist eindeutig: Die Leser werden immer stärker mit in die redaktionelle Planung einbezogen und sind letztendlich Teil der redaktionellen Struktur. Das bringt große „Einsparpotenziale“, wie im Managerjargon Stellenkürzungen umschrieben werden. Vor allem mit der Umstellung der Northcliffe-Titel mussten viele altgediente Kollegen gehen. „Wir verloren ungefähr die Hälfte der Mitarbeiter“, bestätigt Sims.

Obwohl es für eine Bilanz noch zu früh sei, teilen beide Konzerne unisono mit, dass die Auflagen sämtlicher Printtitel an den entsprechenden Tagen leicht gestiegen seien und die Onlinereichweite überall zugenommen habe. Ohne Zweifel ist die Profitabilität der Redaktionen stark gestiegen, nachdem allein mindestens 70 Prozent der Druckkosten eingespart wurden, während die Einnahmen aus Anzeigen fast vollständig an einem Tag erzielt werden und zugleich die Vertriebserlöse gestiegen sind.

Der neue Aufsichtsratschef von Local World erklärte bereits, dass alle anderen Tageszeitungen der Gruppe überprüft und gegebenenfalls auch umgestellt würden. Der Mann, der auch „von der Vision der Wiederbelebung der Medien“ spricht, ist David Montgomery. Jener David Montgomery, der als Chef der Zeitungsgruppe Mecom viele Visionen, aber keine Fortune bewiesen hat, und der im Oktober 2009 während eines Kongresses der britischen Onlineverleger sagte, Zeitungen seien eine „sinnlose egoistische Obsession mit toten Bäumen“.

Beispiele aus den USA

Der weltweit größte – und wohl auch umstrit
tenste – Pionier für die Frequenzreduzierung ist der US-Medienkonzern Advance Publications. Er gehört der New Yorker Familie Newhouse. Das Unternehmen hat in mehreren Ballungszentren der USA die Druckausgaben traditioneller Tageszeitungen reduziert, zuletzt in New Orleans, Birmingham (Alabama) und Syracuse. Demnächst wohl auch in Cleveland.

Weil es große Regionalzeitungen mit einer Dominanz oder gar Monopolstellung in ihren jeweiligen Märkten sind und es in diesen Städten nun keine Tageszeitungen mehr gibt, ist Advance mit andauernden Protesten konfrontiert, sogar von Bezirksregierungen. Der Verlag hingegen sieht sich gerne als eine Art Retter und verweist auf Fälle wie die „Rocky Mountain News“ und den „Seattle Post-Intelligencer“, die von zwei anderen Verlagen im Frühjahr 2009 jeweils vollständig eingestellt wurden.

Interviews oder Statements will die Gruppe nicht geben. „Wir äußern uns überhaupt nicht öffentlich zu unseren Plänen“, sagt die Dame im Vorzimmer des Geschäftsführers der „Times-Picayune“ in New Orleans. Die Stimme gehört Quovadis Sylve – und wenigstens ihr Name birgt ein Statement: Quo vadis Advance?

Ziel ist es – wie in Großbritannien –, Werbeeinnahmen zu konzentrieren, Produktionskosten zu reduzieren und Redaktionen „effizienter“ zu machen. Allerdings im Unterschied zu den Briten mit zwei oder drei Ausgaben pro Woche.

Die erste große Umstellung erfolgte im Juli 2009 in der Stadt Ann Arbor im Bundesstaat Michigan. Dort ersetzte Advance nach 174 Jahren die Tageszeitung „The Ann Arbor News“ durch eine Art gedrucktes Best-of der Nachrichten-Website annarbor.com. Das Blatt erscheint heute donnerstags mit einer Auflage von 28.500 und sonntags mit 35.000 Exemplaren. Der starke Rückgang der Auflage, unter dem die Zeitung bis 2009 litt, konnte gestoppt werden.

In ähnlicher Weise hat Advance in Michigan auch die Zeitungen von Grand Rapids und Kalamazoo umgestellt. Für alle drei Titel wurde eine zentrale Schlussredaktion in Grand Rapids geschaffen – Ann Arbor werde zunehmend zu einem „unwichtigen Satelliten“, sagt eine frühere Redakteurin.

Kaufmännisch hat der Verlag Gründe für eine positive Zwischenbilanz. Inoffiziell wird bestätigt, dass die Gewinnspanne aus dem Printgeschäft heute deutlich größer sei als früher, weil die Herstellungskosten für Druck und Vertrieb auf die Woche bezogen um mehr als 50 Prozent sanken. Die Website konnte sowohl ihre Reichweite als auch ihre Erlöse steigern. Mit anderen Worten: Man verzeichnet ein Wachstum, arbeitet profitabler – auch, weil es gelang, die Zahl der Mitarbeiter seit 2009 offenbar fast zu halbieren.

„Wir haben den Menschen in Ann Arbor bewiesen, dass wir verlässlich für sie da sind – bloß mit einem anderen Medienmix, an dem sie auch stärker teilhaben können als früher. Dieser Mix ist besser für uns und für die Community“, sagt eine Mitarbeiterin von annarbor.com. Sie will sagen: Das Umstellungsmanöver lebt in der kritischen Phase von der Alleinstellung der Marke vor Ort.

Das erklärt auch Experte Martin Langeveld: „Die Menschen müssen den Schritt mitgehen, wenigstens aus Mangel an einem alternativen Angebot. Wenn sie keine andere Wahl haben, können sie beginnen, es zu mögen.“

Insgesamt zeigen alle Konzentrationsmodelle, dass sie nicht auskommen ohne die Geduld und letztendlich die Flexibilität von Lesern und Anzeigenkunden.

Der richtige Moment in Norwegen

Im Zuge eines Umstellungsprojekts für den norwegischen Zeitungskonzern Amedia, das im Jahr 2012 von Innovation Media Consulting unterstützt wurde, sagte der Werbeleiter einer Regionalzeitung: „Ich sehe meine wichtigste Aufgabe darin, die Kunden freundlich umzuerziehen. Das bedeutet zum Beispiel, ein Autohaus oder einen Supermarkt davon zu überzeugen, an anderen Tagen zu inserieren als in der Vergangenheit. Mit den Lesern ist das ähnlich. Das verlangt Fingerspitzengefühl.“

Ein weiteres zentrales Kriterium für den Erfolg ist es, ob eine Frequenzreduzierung das Gefühl bei den Menschen hinterlässt, mehr zu bekommen als vorher. Das hat viel damit zu tun, ob es dem Verlag gelingt, die Produkte zu verbessern. Im Fall der Advance-Titel entsteht offenbar leicht der Eindruck, weniger zu bekommen als früher. „Der Schritt der Umstellung erfordert Mut, Kreativität – und den richtigen Moment“, sagt Stig Finslo, Vorstand bei Amedia, dem zweitgrößten Zeitungskonzern in Norwegen hinter Schibsted. „Fast hätten wir den Moment verpasst“, so Finslo – und er meint damit die Umstellung der Tageszeitung „ØB“ im Süden von Oslo. Nach einem massiven Einbruch der Auflage um mehr als 30 Prozent auf unter 13.000 Exemplare drohte Ende 2011 das wirtschaftliche Aus innerhalb von zwei Jahren. In knapp drei Monaten wurde daraufhin ein vollständig neues Konzept geschaffen: Die drei anzeigenschwächsten Tage (Montag, Mittwoch, Freitag) wurden identifiziert und die Zeitung wurde im Tabloid-Format für die Tage Dienstag, Donnerstag und Samstag komplett neu erfunden. Seit August 2012 erscheint „ØB“ nun eher im Stil eines Magazins und mit vier Ressorts: regionale Themen, die die Menschen bewegen. Kultur- und Konsumtipps. Geschichten, die Journalisten gerne erzählen. Und viel Sport – inklusive einer rückseitigen Titelseite.

Während rund 2.000 Leser mit Abo-Kündigungen protestierten, kamen in der Zwischenzeit sogar etwas mehr neue Abonnenten hinzu. Seit Dezember 2012 betreibt das digitale „ØB“ eine Paywall. Trotzdem nehmen auch hier die Nutzerzahlen zu – wohl wegen der großen digitalen Affinität der Norweger und ihrer Zahlungsbereitschaft.

Weil Amedia mehrere Dutzend regionale Zeitungen besitzt, sagt Finslo, liege die Versuchung nahe, „ØB“ als Blaupause für die Umstellung aller Titel zu nutzen. „Doch wer weiß schon, welche Tage in anderen Regionen anzeigenschwach sind?“ Jede Krise sei anders und müsse deshalb genau analysiert werden.

Fest steht nur: Frequenzreduzierungen bedeuten immer ein Risiko. Aber sie können Verlage von der Last des Papiers befreien, das teuer ist und sie träge und unprofitabel macht. Deshalb sollte in Zukunft kein Papier mehr verschwendet, sondern nur noch im besten journalistischen Sinne eingesetzt werden: mit Formaten und Inhalten, die die Menschen wirklich erreichen.

Dann ist weniger eindeutig mehr!

Peter Littger ist Deutschland-Direktor der Unternehmensberatung Innovation Media Consulting. Er war früher unter anderem Redakteur der „Zeit“ und bei „Cicero“.

littger@ innovation-mediaconsulting.com

Erschienen in Ausgabe 04/202013 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 38 bis 39 Autor/en: Peter Littger. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.