Wechsel im Westen

Stattliche Einnahmen von etwa 1,3 Milliarden Euro pro Jahr, mehr als 4.000 feste und etliche freie Mitarbeiter, allein 2011 gut vier Millionen Programmminuten: der WDR ist das Dickschiff unter den öffentlich-rechtlichen Sendern. Und nachdem Intendantin Monika Piel angekündigt hat, nach sechs Jahren das Steuer aus der Hand zu geben, sobald ein Nachfolger gefunden ist, steht an der Spitze der Kölner Anstalt ein Wechsel bevor. Das könnte eine Chance sein, denn Kurskorrekturen tun Not.

Ein Blick ins Programm zeigt: Unter Monika Piel hat sich erstaunlich wenig Originelles getan – das liegt an den Programmverantwortlichen, aber freilich nicht zuletzt auch an der Nummer eins des Senders, die Mut zu Reformen einfordert und vorlebt oder eben nicht. Beim WDR ist jedoch allzu häufig der Wille im Zaum gehalten worden, Risiken einzugehen. Statt auf Experimente setzt er auf Verlässlichkeit.

Zum Beispiel die journalistischen Formate. Experimentelles hatte Piel hier 2007 bloß übernommen. Damals ging mit „Echtzeit“ der Versuch an den Start, junges Publikum mit Gesellschaftskritischem zu versorgen. Das Magazin nahm sich schweren Themen wie Armut, Ausgrenzung und Analphabetismus an und glänzte nicht nur durch eine moderne Kameraführung, sondern vor allem mit der Abwesenheit biederer 20-Sekunden-Politikerstatements. „Echtzeit“ rückte lieber Probleme in den Vordergrund. Ein paar „Echtzeit“-Ausgaben liefen sogar im Ersten. Ein Quotenbringer war die Reihe, die ein Ableger des Investigativklassikers „Monitor“ war und jungen Autoren mit ihrem unverbrauchten Blick eine Spielwiese bot, zwar auch dort nicht. Doch dem Format wurde gar nicht erst die Gelegenheit gegeben, sich zu etablieren. Es wurde in die Sommerpause gequetscht oder ins Randprogramm, lief mal hier, mal da. Eine mächtige Internetpräsenz, wie sie für junges Publikum geboten gewesen wäre, blieb dem Magazin verwehrt. Da wundert es nicht, dass anschließend selbst Piel von einer Enttäuschung sprach – und hinnahm, dass „Echtzeit“ wieder aus dem Programm flog.

Innovationsstau

Das größte Problem an dieser Entwicklung ist, dass der WDR nach dem Aus von „Echtzeit“ nichts Neues probiert hat, um neben Familien und Senioren auch Schüler, Studenten und Berufsanfänger für sein eigenes Fernsehangebot zu begeistern. Stattdessen beschränkte sich die Kreativität der Programmmacher viel zu oft auf Formate, in denen das Leben durchgecheckt wird: von den „Marken-Checks“ bis hin zum „Großen Haushalts-Check“, der jüngsten Entwicklung. Die Macher des Kölner Senders sind diesem ganz besonderen Rausch verfallen, der zwar mehr oder minder per Garantie für Quote sorgt, aber meist auch nur absehbare Erkenntnisse transportiert.

Immerhin drei Gegenbeispiele können die Verantwortlichen präsentieren – als Ergänzung zu ihren Klassikern wie dem Recherche-Format „Die Story“: Mit „Sport Inside“ leisten sie sich nun das einzige ausschließlich hintergründige und zumindest in Ansätzen kritische Magazin für Leibesübungen im deutschen Fernsehen. „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ bietet Sportunterhaltung auf hohem Niveau bei zugleich geringen Kosten – er sendet tatsächlich aus seiner Wohnung.

Und dann ist da noch die Neuentwicklung „Könnes kämpft“ aus 2012. Hier ist allein der Titel albern, die Filme mit Reporter Dieter Könnes aber gehen bei ihren Recherchen rund um Billig-Flieger und Immobilien-Schmu ordentlich in die Tiefe. Die Reihe wurde bislang allerdings nur angetestet. Sie hätte einen Regelplatz verdient, als Gegengewicht zum Check-Wahn.

Unterdessen leben dem WDR andere vor, wie das mit dem Experimentieren geht. Der Bayerische Rundfunk probierte als netzaffinen Ableger seines Nachrichtenformats „Rundschau“ eine „Rundshow“ aus, präsentiert unter anderem von Blogger Richard Gutjahr und Radionachwuchs Daniel Fiene. Und auch die „Tages-Web-Schau“ kommt nicht aus dem Rheinland, sondern von Radio Bremen. Projekte dieser Art fehlen den Kölnern, die hier allein im Hörfunk und im Digitalen vorangehen – mit 1LIVE, dem im Land ernsthafte Konkurrenz fehlt. Mut braucht es hier nicht.

Der NDR wiederum tut sich abseits des Fiktionalen (Stichwort: „Tatortreiniger“) zwar auch nicht gerade mit Ideen hervor, die besonders junge Zuschauer adressieren, doch immerhin trauen die Programmmacher hier ihrem Dritten mehr zu als bloß vorhersehbaren Verbraucherjournalismus: Die Marke „Panorama“ wurde um eine monatliche Dokumentation „Panorama – die Reporter“ verlängert und ebenso um ein wöchentliches „Panorama 3“, das vor allem im Sendegebiet recherchiert. Damit lebt das Dritte abseits der klassischen Regionalmagazine journalistisch auf.

Beim WDR beschränkt sich „Monitor“ mit seinen Recherchen noch immer aufs Erste. Die über Jahrzehnte gut gepflegte WDR-Marke, die viel Potenzial bietet, wird nicht für Stoffe aus dem Sendegebiet ausgeschöpft. Seit diesem Jahr immerhin steht den Investigativen mehr Geld zur Verfügung. Doch das „Investigativ-Ressort“, das von den Verantwortlichen jubilierend beworben wird, existiert nur auf dem Papier: Die Arbeit müssen „Monitor“-Chef Georg Restle und sein Kollege Mathias Werth, der die „Story“-Filme koordiniert, zusätzlich schultern. Mehr Personal hat ihnen die Senderspitze bisher nicht zugestanden.

„Fest steht: Hardcore-Journalismus hat eine gesunde Prise Sauerstoff bekommen, von oben und unten im WDR sehr erwünscht“, sagt hingegen Sonia Mikich. Sie ist die einzige wirklich mutige Personalentscheidung der Ära Piel, die sonst kaum von Neubesetzungen geprägt war: Einst von Intendant Fritz Pleitgen zur „Monitor“-Chefin aufgebaut, leitet sie seit 2011 die Programmgruppe „Inland“ des Senders.

Anders als Chefredakteur Jörg Schönenborn, der zuletzt im Interview mit Russlands Präsident Wladimir Putin sein Schulbuben-Image pflegte, und Sportchef Steffen Simon, der nicht zuletzt die „Sportschau“ verantwortet, ist Mikich nicht nur ein journalistisches Schwergewicht, sondern für jeden Vorgesetzten auch eine Risikoquelle: Sie steht für offene Kritik.

Auf die Frage, für welche Entwicklungen sie sich im WDR Unterstützung „von ganz oben“ wünsche, nennt sie etwa mehr Plätze für journalistisches Schwarzbrot, für Dokumentationen und Schwerpunkte. „Von meinen Chefs, von den ‚Movers and Shakers‘ der ARD, wünsche ich ein begeistertes Ja dazu, kein Sonntagsreden-Ja.“

Und auch die politischen Magazine gelte es zu pflegen. „Bei der unseligen Kürzung von 45 auf 30 Minuten hieß es, an der Schlagzahl werde sich nichts ändern“, erinnert sie. Nun aber müssten die Formate immer wieder Sonderprogrammierungen wie Sportereignissen weichen. „Im Einzelfall immer nachvollziehbar. In der Summe bedenklich“, mahnt Mikich. Mit anderen Worten: Hier staut sich der Frust.

Digitale Großbaustelle

Während sich im Dritten und Ersten für Piels Nachfolger viele kleine Herausforderungen addieren, schleppt der WDR aber auch noch eine Großbaustelle mit sich herum: seinen Digitalkanal „Eins Festival“. Hier sollte sich eigentlich eine Innovation an die nächste reihen. Stattdessen ist der Ableger vor allem eine Wiederholungsplattform. Originelles bietet er nur selten.

Der Digitalsender stammt aus einer Zeit, in der bei den Öffentlich-Rechtlichen mit dem Segen der Politik noch Expansion angesagt war – doch diese Ära ist vorbei. Das hat nach dem ZDF, das sein ZDFkultur gar ersatzlos schließen will, inzwischen auch die ARD begriffen: Gerade hat sie vorgeschlagen, ihre drei Digitalkanäle jeweils mit dem Pendant des ZDF zu verschmelzen.

Dieser Plan wäre eine Sparoffensiv
e, bei der ZDFneo mit Eins Festival fusionieren würde, um einen gemeinsamen Kanal für junge Erwachsene zu schaffen. Allein: Das ZDF will nicht mitspielen. Die ARD würde sich hier bloß in ein gemachtes Nest setzen. Da gibt sich das ZDF trotzig – und winkt ab. Eine rache Lösung scheint abwegig.

Der neue WDR-Chef muss sich also nicht zuletzt dringend überlegen: Kann er sich Eins Festival noch leisten und dort wieder mehr als bloß ein paar Duftmarken setzen – oder sollte er diesen Kanal besser aufgeben und die wenigen Projekte, die überhaupt noch etwas wert sind, als Frischzellenkur ins Dritte integrieren? Sabine Heinrichs „1LIVE Talk“ würde auch das WDR-Fernsehen schmücken. Vielleicht als aufgebohrter Nachfolger für das einst große, aber immer gleiche „Zimmer frei“?

In jedem Fall stellt sich für den WDR demnächst die Frage, wie er sich zum angedachten Jugendkanal positioniert, den ARD und ZDF ins Leben rufen möchten. Hier hatte sich Piel lange dagegengestemmt. Als sie 2011 für zwei Jahre den Vorsitz der ARD übernahm, sagte sie im Gespräch mit dem „medium magazin“ noch, sie glaube kaum, dass das durchsetzbar sei (siehe MM 02/2011). Die Gruppe der Zuschauer ab 13 Jahren sei extrem heterogen. „Ein einheitliches Programm für Jugendliche funktioniert da nicht“, mahnte Piel damals. „Davon bin ich überzeugt.“ Am Ende machte sie allerdings völlig überraschend als eine ihrer letzten Amtshandlungen noch den Weg für das Projekt frei, das in Baden-Baden beim SWR entstehen dürfte.

Mit dem Jugendkanal – die ARD will ihn noch in diesem Jahr, das ZDF rechnet erst 2017 damit, wenn überhaupt – kommen die nächsten Hausaufgaben: Was kann der WDR als stärkster der neun ARD-Sender eigentlich beisteuern? Mit Eins Festival am Bein droht in Köln rasch Überforderung. Was tun?!

Manch einer wünscht sich gar eine Radikal-Diät. Verlegersohn Konstantin Neven DuMont, der sich für den Chefposten des WDR beworben hat, stellt sich etwa „die Frage, ob man die bundesweite Vielfalt der Programme erhält“ (s. a. Interview S. 33). Mit Blick auf neue Anstrengungen wie den Jugendkanal solle geprüft werden, ob auf das deutsche Gießkannenprinzip das Modell der ebenfalls öffentlich-rechtlichen BBC folgen könne: „Dort gibt es nicht so viele verschiedene Sendungen, dafür wird in einzelne mehr investiert.“

Auf der Agenda der Intendanz steht allerdings nicht zuletzt auch, was den Sendern in den vergangenen Jahrzehnten ziemlich schwerfiel: Transparenz. So krachte Piel erst Ende vergangenen Jahres mit Rundfunkrätin Andrea Verpoorten zusammen, die als Kontrolleurin des Senders mit ihrem Wunsch scheiterte, Details aus den Vertragsverhandlungen mit Thomas Gottschalk zu erfahren.

Nachdem Piel Ende vergangenen Jahres im „Stern“ offensiv neue Gespräche mit dem Entertainer bekanntgab, bat Verpoorten um Einsicht in mögliche neue Verträge, doch die Intendantin wollte diese lediglich dem kleinen Verwaltungs-, nicht aber dem Rundfunkrat vorlegen – wie es die Statuten vorsähen. „Aber das entspricht nicht meinem Verständnis von Überwachungspflicht“, sagt Verpoorten (s. a. Interview). „Ich will keine Verträge abnicken, deren Inhalt ich nicht kenne.“

Transparenz ist vor allem in Zeiten des neuen Rundfunkbeitrags geboten. Nun nämlich muss jeder für die Programme zahlen, auch der, der etwa kein Fernsehen schaut – außer er ist arm. Der Rechtfertigungsdruck steigt: Wie viel fließt in die Taschen der großen Moderatoren, wie viel an Veranstalter von Sportereignissen – und muss das alles sein?

Wer Antworten sucht, geht noch immer leer aus. Dabei steht die Glaubwürdigkeit auch beim WDR längst infrage. Jüngst etwa kam heraus: Haus-Talkerin Sandra Maischberger wurde lange quotenabhängig bezahlt, mit der Gefahr, dass Sensation vor Inhalt ging – was der Sendung allerdings nicht anzumerken war. Eine neue Haltung ist hier dennoch geboten, gegen allzu offensive Quotenzwänge. Auch hier ist die Richtlinienkompetenz der Intendanz gefragt. Allein schon, um Zweifeln vorzubeugen.

Ein Intendant, der in dieser Zeit seinen Sender bloß verwaltet, wie es Monika Piel nur allzu oft tat, hätte es zwar bequem. Am Ende würde er seinem WDR aber bloß schaden. Gerade weil der Sender das größte aller ARD-Programmhäuser ist, gilt es, mit guten Beispielen und intelligenten Projekten voranzugehen. Das kann weh tun, wenn Experimente nicht glücken – aber auch ein Ausdruck von Stärke sein.

Daniel Bouhs ist freier Journalist in Berlin und Mitglied der „medium magazin“-Redaktion.

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Jens Twiehaus ist freier Journalist in Berlin.

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Erschienen in Ausgabe 04/202013 in der Rubrik „Medien und Beruf“ auf Seite 30 bis 30 Autor/en: Daniel Bouhs, Jens Twiehaus. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.