„Wir haben eine Großmaulkratie“

Frau Bruhns, wollten Sie schon immer Journalistin werden?

Annette Bruhns: Ich wollte vieles werden, Regisseurin, Chemikerin, Dolmetscherin. Und Journalistin. Aber dann hatten wir in der Schule eine Veranstaltung, auf der die Eltern ihre Berufe vorstellten, und einer der Väter, der beim NDR war, setzte sich breitbeinig hin und sagte: Für diesen Beruf braucht man Ellenbogen. Da dachte ich, das ist nichts für mich.

Und heute kämpfen Sie als Vorsitzende des Vereins „Pro Quote“ für einen Frauenanteil von 30 Prozent auf Führungsposten in Redaktionen. Haben Sie sich selbst für diesen Vorstandsvorsitz gemeldet?

Ja.

Warum?

Ich habe das erste Treffen aller Erstunterzeichnerinnen des Briefs an Deutschlands Chefredakteure geleitet. Wir wollten eigentlich nur eine Party machen, um den Erfolg unserer Guerilla-Aktion zu feiern – und kurz vorher hatten ein paar von uns das Gefühl: Wir brauchen einen Verein, sonst sind wir nicht demokratisch legitimiert, können keine Arbeitsstruktur aufbauen, keine Gelder einnehmen. Und da waren sie dann alle da, um zu feiern, und ich musste sie in meiner Rede überzeugen, für so etwas Piefiges wie einen Verein zu stimmen. Das ist mir gelungen. Ich glaube, deswegen bin ich gewählt worden.

Sie merkten also, Sie können Mehrheiten organisieren.

Ich merkte, dass ich ein Talent zum Volkstribun habe.

Die Guerilla-Aktion ist sieben Monate her, seit August ist „Pro Quote“ ein eingetragener Verein, Sie haben 4.200 Unterstützer: Was hat sich denn sonst in der Zeit getan?

Wir sagten anfangs: Wenn wir 100 Frauen von Rang und Namen aus ganz Deutschland für den offenen Brief zusammenbekommen, dann ist das ein Statement. Mit 52 Frauen haben wir im Juni den Verein gegründet, jetzt haben wir schon doppelt so viele zahlende Mitglieder. Das ist überwältigend. Andererseits: An den zwei Prozent Chefredakteurinnen hat sich noch nichts geändert, es gibt nicht signifikant mehr Frauen auf Führungsposten in der Branche. Im Gegenteil: Bei den Sendern beobachten wir einen Backlash.

Bei welchen denn?

Etwa beim SWR: Ende Juni wurden vier Männer in die Geschäftsleitung berufen, jetzt sind in der höchsten Ebene nur noch zwei von acht Mitgliedern Frauen. Und von den frei gewordenen Direktorenposten sollen zwei wieder an Männer gehen. Das läuft alles klammheimlich. Dabei hatte sich der SWR gerade verpflichtet, etwas gegen die mangelnde Gleichstellung zu tun. Arte bekommt Anfang Januar eine neue Direktion, unter den neun Mitgliedern ist nur eine Frau – für die Kultur. Und beim NDR ist die angepeilte Mindestquote von 50 auf 30 Prozent gesenkt worden, weil man meinte, man sei schon weit genug. Dabei gibt es in der zehnköpfigen Geschäftsleitung gerade mal zwei Frauen – und von 27 Programmbereichen werden nur sieben von Frauen geleitet. Und das sind öffentlich-rechtliche Sender, die haben einen gesellschaftlichen Auftrag.

Sie rechnen der Branche konsequent die Männer-Frauen-Verhältnisse vor. Weil das die Sprache der Männer ist?

Man muss mit nackten Zahlen argumentieren, das funktioniert am besten. Und an den „zwei Prozent“ kommt keiner vorbei – für diese Zahl haben wir tagelang recherchiert. Oft höre ich dann: Jetzt lasst uns wieder zum Tagesgeschäft übergehen, es gibt doch überall wichtige Frauen, wir haben doch eine Bundeskanzlerin!

... und in der Medienbranche Liz Mohn und Friede Springer …

Wir haben tatsächlich die kuriose Situation, dass die wichtigsten Konzerne unserer Branche in Frauenhand sind, aber sie sind Eigentümerinnen, nicht in der Geschäftsführung. Und da spielt die Musik. Übrigens erklären auch viele Männer, wie Ranga Yogeshwar oder Jörg Schönenborn, dass sie für die Quote sind, weil sie keine Lust mehr haben, immer in dieser Monokultur zu arbeiten.

Abgesehen von den „zwei Prozent“ weibliche Chefredakteure: Welche Zahlen haben Sie denn noch?

Dafür testen wir gerade einen Fragebogen, den wir mit wissenschaftlicher Beratung entwickelt haben. Wir wollen den Frauenanteil in der gesamten Branche detailliert erheben und werden jetzt mit den Leitmedien beginnen. Wir wollen aufzeigen, wie sich die Quoten in den Redaktionen entwickeln. Ideal wäre es, die Zahlen jedes halbe Jahr zu veröffentlichen. Das würde die Konkurrenz beleben.

Wieso nur die Leitmedien?

Nicht missverstehen: Ich finde es sehr wichtig, diese Zahlen mittelfristig auch für die Regionalzeitungen und -sender zu erheben – aber das können wir im Moment noch nicht leisten.

Warum kooperieren Sie dafür nicht einfach mit dem BDZV, dem Verband Deutscher Lokalzeitungen oder der „Drehscheibe“?

Wir sind für Angebote offen!

Wie werten Sie eigentlich, wenn einfach der Kreis der Chefredaktionsmitglieder erweitert wird?

Dass in manchen Redaktionen einfach noch eine zweite Stellvertreterin installiert wird, dagegen sind wir nicht gefeit. Aber diese Art der Personalpolitik können sich die Redaktionen in diesen Zeiten nicht unendlich leisten.

Und bis wann wollen Sie Ergebnisse haben?

Im Juni (1.6.2013, Anm.d.Red.) ist unsere Mitgliederversammlung, es wäre natürlich toll, sie dann präsentieren zu können. Aber versprechen kann ich das nicht.

Sie haben auch viele Freie als Unterstützerinnen – als „Spiegel“-Redakteurin sind Sie in einer privilegierten Position. Waren Sie überrascht von deren Arbeitssituation?

Nein. Ich vergebe ja viele Aufträge an Freie, die mir von ihren Arbeitsbedingungen erzählen. Manche arbeiten auf Hartz-IV-Niveau. Aber die Zahlenverhältnisse waren mir neu: Auf Redakteursebene ist der Frauenanteil bei der „Stuttgarter Zeitung“ etwa so hoch wie beim „Spiegel“, nämlich bei rund 30 Prozent. Aber unter den Freien sind die Frauen bei 70 Prozent. Das heißt: Am Ende der Nahrungskette sind sie überrepräsentiert. Die Honorare sind zwar nicht in Stein gemeißelt, nur: Die, die darauf Einfluss haben, sind Ressortleiter, Chefredakteure und Geschäftsführer.

Abgesehen von der Quote – für was kämpfen Sie noch?

Wir haben viel diskutiert, was wir fordern sollen: Soundso viel Gesamt-Frauenanteil in der Redaktion? Betriebskindergärten? Nein, wir fordern nur die Führungsquote, alles andere entwickelt sich als Folge automatisch. Wenn die Quote erreicht werden soll, muss sich einiges ändern in Deutschland. Es heißt ja viel zu oft immer noch: Wir haben keine Frau gefunden. Dieses Argument wollen wir den Männern aus der Hand nehmen.

Wie soll das aussehen?

Wir diskutieren ein „Linkedin“ für Journalistinnen, eine Art Headhunter-Datei. Entsprechende Firmen sind schon an uns herangetreten, es gibt ein großes Interesse an uns, aber wir wollen uns nicht vereinnahmen lassen, wir prüfen die Angebote sehr genau. Wir überlegen auch, ob wir ein eigenes Mentoringprogramm schaffen. Wir haben schließlich erfolgreiche Redakteurinnen und junge Volontärinnen.

Das macht der Journalistinnenbund seit 25 Jahren. Graben Sie sich da nicht gegenseitig das Wasser ab?

Nein, da sehe ich Synergien, es gibt auch einige, die bei beiden Vereinen Mitglied sind. Wir haben unterschiedliche Ziele. Und „Pro Quote“ ist kein reiner Frauenverein, bei uns sind Männer willkommen – als Unterstützer und als Mitglieder. Unser Ziel ist einzig und allein, die Quote zu erreichen. Die Kolleginnen vom Journalistinnenbund wissen: Wenn wir das erreicht haben, lösen wir uns auf – vielleicht wird dann der Journalistinnenbund Auffangbecken für heimatlose „Pro Quote“-Frauen. Ehrlich: Es macht Spaß, mit Frauen zusammenzuarbeiten. Das ist für mich eine neue Erfahrung nach den 17 Jahren beim „Spiegel“. Und keines der Vorurteile, die ich hatte, hat sich bestätigt.

Was dachten Sie denn?

Ich hatte Angst vor Eifersüchteleien und einer gewissen Ineffizienz, weil man zu viel Zeit mit Privatem verquatscht. Aber das ist Unsinn. Wir reiben uns, klar. Im Vorstand sitzen Frauen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen, mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Das empfinde ich als ungemein konstruktiv und befruchtend.

Ihre Agenda ist also in erster Linie: Öffentlichkeitsarbeit für die Sache.

Ja. Dass wir präsent sind, bringt uns nach vorne. Deswegen werden wir am 16. November auch für einen Tag gemeinsam mit unseren prominenten Mitgliedern wie Anne Will oder Dunja Hayali die „taz“ übernehmen. Da haben wir die Möglichkeit, eine Ausgabe lang unser Anliegen in den Vordergrund zu stellen. Denn das Frauendefizit bei den Medien mag in der Branche bekannt sein, in der Bevölkerung dagegen kaum.

Vor „Pro Quote“ wollten viele Redakteurinnen oder Redakteure sich nicht öffentlich zum Thema äußern …

… niemand wollte sich als Feministin outen, mit dem bösen F-Wort wollte keine in Verbindung gebracht werden.

Hat sich das geändert?

Völlig. Alle sind ansprechbar. Nur die Frauen beim ZDF nicht: weder Maybritt Illner noch Marietta Slomka oder Bettina Schausten. Sie arbeiten bei einem öffentlich-rechtlichen Sender und sie wagen es offenbar nicht, die Quote öffentlich zu thematisieren. Vielleicht wollen sie nicht zu den Frauenthemen abgeschoben werden. Ich verstehe das.

Wieso?

Ich war ja lange eine der wenigen Frauen, die in der Politikredaktion gearbeitet haben. Dann war ich bis vor fünf Jahren für Familienpolitik zuständig. Für mich war das beschämend, ich dachte, jetzt haben sie mich zu Gedöns abgeschoben, weil ich eine Frau bin und ein Kind habe, na super. Viele wichtige Themen aus meinem Beritt kamen nicht mal ins Blatt. Wie töricht! Nehmen Sie die beiden familienpolitischen Essays jüngst im „Spiegel“: Sie haben die meisten Leserbriefe bekommen. Viele Männer waren total überrascht, auf dem Auge waren sie blind.

Ein Jahr vor „Pro Quote“ hatte der „Spiegel“ eine Titelstory zur Frauenquote. Die Autorinnen schrieben: „Nun macht mal.“ Hat sich im „Spiegel“ was geändert?

Bevor der Pro-Quote-Brief kam – nein. Sonst hätten wir nicht so viele „Spiegel“-Frauen als Erstunterzeichnerinnen gehabt. Wenn so eine Titelgeschichte gedruckt wird und die Chefredakteure in der Hausmitteilung schreiben: „Wir haben verstanden“, entstehen natürlich Erwartungen. Wir dachten, jetzt brechen neue Zeiten an – und wurden enttäuscht. Auch deshalb haben 80 Prozent der „Spiegel“-Frauen den Brief unterschrieben. Aber „Pro Quote“ ist keine „Spiegel“-Pressure-Group.

Als jener „Spiegel“-Titel erschien, hatte die Quote noch ein echtes Image-Problem …

Hätten Sie mich vor 13 Jahren gefragt, wäre ich auch dagegen gewesen. Bis mein Kind kam, lief es für mich ja gut. Ich träumte auch diesen seligen Traum: Wir sind dann die Ersten, denen alles offensteht.

Und mit Kind?

Ich bin fast von Anfang an alleinerziehend gewesen, und wenn man eine Weile nicht Vollzeit arbeitet, ist man unter Kollegen abgestempelt, nicht mehr in den Netzwerken drin. Das ist schlecht, wenn in Redaktionen in Teams gearbeitet wird. Da wird man keinen reinnehmen, von dem man annimmt, er geht um 16 Uhr. Zudem muss man ja auch in diese Buddy-Zirkel kommen, um gefördert zu werden, unabhängig von offiziellen Förderprogrammen der Personalabteilung. Bis dahin dachte ich wie alle: Leistung setzt sich durch. Das ist ja die typische Antwort der Quotengegner – wir wollen die Besten, keine Quote.

Was sagt man auf dieses Totschlagargument?

Ich will die Quote, damit wirklich die Besten nach oben kommen. Ich beobachte seit Jahren, dass kompetente Frauen übersehen werden. Ich ärgere mich, dass Themen, die unsere Leser interessieren, nicht gebracht werden. Und ich ärgere mich, dass wir nicht mitgestalten können, obwohl wir die Kompetenz dazu haben. Wir vergeuden Talente. Es müsste das Prinzip der Meritokratie gelten. Stattdessen haben wir eine Großmaulkratie.

… mit 300 testosterongesteuerten Bullen beim „Spiegel“, um mit Matthias Matussek zu sprechen. Was wurde eigentlich aus dem Arbeitskreis „Gleichstellung“ Ihres Verlags?

Nachdem jene Titelgeschichte gedruckt war, hatte die Chefredaktion auch intern gesagt: „Ja, wir machen was.“ Aber der AK Gleichstellung war bei der Umsetzung nicht gefragt. Er war nur ein Feigenblatt. Also löste er sich auf. Übrigens: Der war schon unter Stefan Aust entstanden. Eins seiner Ziele war, bis 2010 den Frauenanteil in der Redaktion von etwa 25 auf 30 Prozent zu erhöhen. Das ist nicht sonderlich ambitioniert, aber selbst das haben sie nicht ganz geschafft: Wir sind erst bei 29 Prozent.

Weil es keine guten Journalistinnen gibt?

Nein, weil sie zu wenige einstellen.

Klingt ein bisschen nach Kristina Schröders Flexi-Quote, Motto: „Schau mer mal“.

Wir wollen ja nur 30 Prozent der Führungspositionen bis 2017 – das ist, mit Verlaub, ein sehr moderates Ziel. Es wäre beschämend, wenn wir nicht auf mehr kämen, bei der großen Zahl hervorragend ausgebildeter Journalistinnen. Alles spräche dafür: Wir sind die Vierte Gewalt, wir müssen beobachten, was im Land passiert. Vieles wird übersehen, weil nur die Warte der Männer eingenommen wird.

Wird darüber bei Ihnen im Haus gesprochen, auf Redaktionskonferenzen?

Selten.

Und darüber, dass Medien als gesellschaftliche Instanz durchaus nicht nur Realität abbilden müssen, sondern auch zeigen könnten, wie eine Normalität aussehen könnte?

Stellen Sie sich doch einfach mal so eine Redaktionskonferenz vor: Da sitzen lauter Männer und zehn Prozent Frauen – von der untersten Hierarchieebene. Die können schwer die Agenda bestimmen.

Stattdessen macht man einen „Spiegel“-Titel über Rückenschmerzen mit einer nackten Frau auf dem Cover – murrt da keine?

Wenn das diskutiert wird, ist das Zufall. Aber es kommt durchaus vor, dass Frauen sagen: Jungs, das war nichts, das hat uns gestört, bitte nehmt das zur Kenntnis.

Werden Sie im Haus jetzt eigentlich anders wahrgenommen?

Ja, absolut. Vereinzelt gibt es offene Ablehnung, aber ich bekomme Anerkennung und Respekt von der Chefredaktion.

Die sagen: „Toll, dass Sie das machen,“ oder wie?

Nein, das nicht. Aber die Türen stehen offen, es hat mir noch keiner zu verstehen gegeben, dass man über die Quote nicht sprechen will. Keiner zweifelt daran, dass ich meine Arbeit immer noch richtig mache, oder ob es Nestbeschmutzerei sei, weil der „Spiegel“ ja nicht so gut wegkommt.

Unter anderem etwa, weil Georg Mascolo zwar für das Ziel, aber gegen die Quote ist …

Er sagt wenigstens, wo er steht. Kurt Kister von der SZ etwa äußert sich gar nicht, Herr Schirrmacher, der sonst zu allem etwas sagt, der große Texte über Demografie schreibt, auch nicht – die FAZ tut so, als hätte sie nichts damit zu tun.

Selbst Gabor Steingart änderte seine Meinung zur Quote und verkündete 2010: Frauen seien nicht das Problem, sondern Teil der Lösung.

Das ist ein alter Suffragetten-Spruch, den er da recycelt hat. Und dann schauen Sie sich mal sein Impressum an: zwei Frauen, und keine in der Chefredaktion. Giovanni di Lorenzo hat zwar gesagt, er will die 30 Prozent erreichen, aber jetzt ist ein Dreivierteljahr der fünf Jahre vorbei und es gibt gerade einmal eine stellvertretende Ressortleiterin mehr – das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Dass er sich unserer Sache verschrieben hat, war gut – auch für sein Blatt. Denn dass die „Zeit“ so erfolgreich ist, liegt sicher auch daran, dass sie viele gesellschaftlich relevante Themen aufgreift, die Männer und Frauen interessieren. Mehr Journalistinnen würden mehr Aufregerthemen erkennen.

Wie meinen Sie das?

Nehmen Sie die Politik: Von den Leitmedien in Berlin gehen fast nur Männer in den Bundestag. Es ist do
ch vollkommen klar, dass sich das, was auf Herrenklos läuft an kleinen vertraulichen Gesprächen, auch beim Lippenstiftanmalen abspielt – und das wird systematisch nicht genutzt.

Hilft Ihnen Ihre neue Führungserfahrung eigentlich auch im Redaktionsalltag?

Ja. Ich habe gerade für den „Spiegel“ einen Essay über Frauenkarrieren geschrieben. Normalerweise arbeite ich ja für „Spiegel Wissen“ und „Spiegel Geschichte“, aber ich hatte das Bedürfnis, das aufzuschreiben, habe es angemeldet, es geliefert – und es wurde gedruckt. Sich das zu trauen und nicht in seinem Kämmerchen zu sitzen und sich zu ärgern, das ist neu. Vielen Frauen ist durch die Diskussionen bei „Pro Quote“ klargeworden, dass man den Finger heben muss. Männer machen das auch. Wir haben das nicht gelernt, wir erwarten, dass die Leute auf uns zukommen, weil sie sehen, dass wir gut sind. Ich merke das ja gerade selbst.

Inwiefern?

Wir kommen mit der Arbeit bei „Pro Quote“ kaum hinterher – und es wäre am besten, die Frauen, die etwas machen wollen, meldeten sich bei uns im Vorstand. Wenn sie das nicht tun, ist ihr Potenzial schwer zu identifizieren. Es ist eine Erkenntnis: „Die da oben“ haben mich nicht übersehen. Sondern da stand nur immer schon jemand, der sagte: Ich mach’s.

Wohl ein Grundproblem.

Meine These ist: Wenn eine Stelle besetzt werden muss, steht da immer schon ein Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort, auch, weil Männer viel seltener familienbedingte Umwege in ihrer Karriere gehen. Um eine Frau zu finden, müssten Sie erst einmal anfangen, genau hinzuschauen. Es sind genug kompetente Frauen da, aber die drängeln in der Regel nicht. Und der Enttäuschung des Mannes, der sich auf diesen Posten schon empfohlen hatte, kann man nur mit der Quote entgehen: Es tut unserem Unternehmen gut.

Was haben Sie denn nun dazugelernt?

Ich sehe einige Dinge anders, etwa die Sache mit der geschlechtersensiblen Sprache …

… aber Sie sind doch Linguistin.

Ich bin keine Soziolinguistin, ich habe mich mit Grammatik beschäftigt. Aber gerade habe ich eine Doktorarbeit über Gender im Journalismus gelesen und gelernt, was für eine Wirkung die weibliche Pluralform haben kann. Für dieses Thema müsste man auch an Journalistenschulen sensibilisieren.

Haben Sie jetzt Lust, auch in der „Spiegel“-Redaktion eine Führungsrolle zu übernehmen?

Die war schon immer da. Ich leite ja auch Hefte, ich bin gerne Blattmacherin. Und ich kann mich nicht an die Spitze dieser Bewegung stellen und selbst nicht nach oben wollen. Dass ich das mit initiiert habe, ist sicher kein Zufall. Wenn mich etwas nervt, dann mache ich was.

Interview: ANNE HAEMING ist Mitglied der „medium magazin“-Redaktion und freie Journalistin in Berlin.

www.annehaeming.de

Infos

Der Verein

„Pro Quote“ wurde mit einem offenen Brief an die Entscheider der Medienbranche bekannt, den die Gruppe am 26. Februar dieses Jahres veröffentlichte. Sie fordern darin, in den nächsten fünf Jahren die Quote von Frauen auf Führungspositionen in Redaktionen auf 30 Prozent zu erhöhen. Sie schreiben: „Tatsächlich sind nur zwei Prozent aller Chefredakteure der rund 360 deutschen Tages- und Wochenzeitungen Frauen, von den 12 Intendanten des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind lediglich drei weiblich. Und auch in den Redaktionen der Nachrichtenmagazine stehen fast ausschließlich Männer an der Spitze. Es ist Zeit, etwas zu ändern.“ Seit August ist „Pro Quote“ ein eingetragener Verein. www.pro-quote.de

Erschienen in Ausgabe 10+11/2012 Journalistin in der Rubrik „Rubriken“ auf Seite 0 bis 0 Autor/en: Interview: Anne Haeming. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.