Training für den anderen Blick

Wer weiß schon, was der Zeitungsleser will? Vielleicht sieht er gerne die Rückenansicht einer Turmspringerin, die ihr durchtrainiertes Hinterteil der Kamera entgegenstreckt. Vielleicht würde es ihm sonst nur ein Achselzucken abnötigen, dass eine deutsche Auswahlsportlerin auf einem internationalen Turnier eine Bronzemedaille errungen hat. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Jörg Riebartsch jedenfalls sieht solche Fotos nicht gerne in seiner Zeitung. Voyeuristisch sei das, murrte der Chefredakteur des „Darmstädter Echos“ beim Anblick des hoch dekorierten Muskelspiels im knappen Höschen. Der zuständige Sportredakteur konnte das nicht nachvollziehen. Das Foto sei doch ein Blickfang. Zwei Männer, zwei Meinungen und eine altbekannte Frage: Wer weiß schon, was der Zeitungsleser will?

Dabei ist schon die Fragestellung falsch an der Sache. Sie muss anders ausfallen. Nämlich so: Was will die Zeitungsleserin sehen? Denn die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass es die Leserschaft der Tageszeitungen zu überwiegendem, zum größten Teil weiblich ist. Das hat die Arbeitsgemeinschaft Media-Analyse in absoluten Zahlen ermittelt. Frauen lesen nicht nur häufiger, sondern auch länger Zeitung – Ergebnisse der ReaderScan-Forschung unterstreichen das. Und Frauen entscheiden in den Haushalten über die Konsumausgaben, also auch über den Kauf von Zeitungen – oder die Kündigung des Abonnements.

Die Kernfrage. Wenn doch alles so eindeutig wäre wie die Zahlen. Riebartsch kennt diese Zahlen natürlich auch. Und dazu noch ein paar andere Fakten. 27 Männer arbeiten in seiner Redaktion und 25 Frauen. Keine der Redakteurinnen im Medienhaus Südhessen hat eine Führungsposition inne, keine ist Ressortleiterin. Als das „Darmstädter Echo“ neulich einen Chef vom Dienst suchte, gab es keine weibliche Bewerberin, aber mehrere männliche Kandidaten. Einmal hat Jörg Riebartsch einer Frau eine Führungsposition innerhalb des Verlags angetragen. Die Kandidatin durchlebte daraufhin eine schlaflose Nacht. Gepeinigt vom Druck der Verantwortung bat sie den Chefredakteur, sie bloß nicht zu befördern. Das ist die eine Seite. Draußen aber, bei den Lesern, werden spezifisch weibliche Themen am leidenschaftlichsten diskutiert. Das ist die andere Seite: Sobald der Mensch in den Mittelpunkt der Berichterstattung rückt, sind die Leserinnen hellwach. Betreuungsplätze für Kinder torpedieren als Thema jede Podiumsdiskussion um neue Verkehrswege. Bleibt die Frage: Wie will man eine weibliche Zeitung machen, wenn der Rohstoff da ist, aber das Personal nicht bereit? Riebartsch hat die Punkte zusammengezählt und die Quersumme daraus gezogen. Heraus kam: Carmen Thomas.

Wer zuletzt nicht mitbekommen hat, was die Journalistin, die 20 Jahre lang „Hallo Ü-Wagen“ moderiert hat, heute treibt: Carmen Thomas führt seit 2001 in Engelskirchen bei Köln eine Moderationsakademie für Wirtschaft und Medien, gefördert unter anderem durch das Land Nordrhein-Westfalen und den WDR. In Engelskirchen vermittelt sie in Einzel- und Gruppencoachings, dass im Beruf außer Fachkompetenz auch kommunikative und soziale Komponenten zählen. So steht es auf der Akademie-Homepage. Dort steht noch einiges mehr als unter anderem die Unternehmensphilosophie, aufgeteilt für Rechts- und Linkshirnhälftige. Richtig schlau wird man daraus nicht. Was zählt, ist wohl der Name Carmen Thomas selbst: Die Journalistin ist Profi im Kommunikationsgeschäft. Sie hat aus abseitigen Themen wie der Urin-Eigentherapie einen Bestseller gemacht und aus einem Fußballversprecher, der anderen das Rückgrat gebrochen hätte, einen Unique Selling Point. Man kann sagen: Carmen Thomas weiß, wie die Leute ticken. Weil sie ihnen zugehört hat. 20 Jahre Live-Radio sind eine gute Schule. Die ausgewiesene Kommunikationstrainerin und der Darmstädter Zeitungsmacher sind sich Anfang 2006 auf einer Medienveranstaltung begegnet. Und Riebartsch wusste: Das ist die Richtige. Für ihn ist Thomas „eine Pionierin darin, den Mensch in die Berichterstattung einzubeziehen.“ Genau das sollte seine Redaktion nun lernen.

Die Ausgangslage. Und so lag an einem Oktobertag im Jahr 2006 eine persönliche Einladung im Briefkasten der „Echo“-Redakteurin Berit Paflik. Sie und ihre Kolleginnen wurden angefragt, an einem zweitägigen Coaching in Engelskirchen teilzunehmen. Thema: „Was Frauen in der Zeitung lesen wollen.“ Eingeladen hatte die Chefredaktion – und zwar ausschließlich die Redakteurinnen und Volontärinnen im Haus. Diskriminierung der männlichen Kollegen? Nein, sagt der Chefredakteur im Rückblick, keine Benachteiligung. Sondern bewusstes „Agenda-Setting“.

Jörg Riebartsch ist der Überzeugung: Bevor die Zeitungsinhalte weiblich werden, müssen es erst die Redaktionsstuben sein. Davon aber sind die Tageszeitungen in Deutschland noch mindestens eine Generation entfernt. Die aktuelle Studie „Journalismus in Deutschland“ des Hamburger Instituts für Journalistik und Kommunikationswissenschaft hat festgestellt: „Die Wirklichkeit des Journalismus ist weiterhin von Männern dominiert.“ Zwar sind heute 37 Prozent aller Journalisten weiblich (bei Tageszeitungen 34 Prozent). Doch schon auf der leitender Ebene dünnt die Sache aus: 29 Prozent der Ressortleiter und CvDs sind Frauen. Nirgendwo sind Frauen so deutlich unterrepräsentiert wie im täglichen Printgewerbe: Nur 9 Prozent der Frauen schaffen es hier in eine Leitungsebene. Und das, obwohl die Hälfte aller Berufsanfänger weiblich ist. Das ist beim „Darmstädter Echo“ nicht anders. Die Volontariatsbewerberinnen seien sogar „überragend besser“ als ihre männlichen Mitbewerber, das ist Riebartschs Erfahrung. Doch dann verschwinden diese gut ausgebildeten Frauen vom Arbeitsmarkt. „Man hört nie wieder was von ihnen.“ Eine Feststellung, die sich mit der Hamburger Studie deckt. Bis zum 30. Lebensjahr, so hat man dort festgestellt, ist die Hälfte der Journalisten weiblich, danach sinkt der Frauenanteil kontinuierlich.

Agenda-Setting bedeutet beim „Darmstädter Echo“: Kurzfristig können wir an dem Verhältnis Männer-Frauen im Haus nichts ändern. Also müssen wir das bestehende Team bestmöglich unterstützen. Agenda-Setting heißt: die Frauen stärker ins Boot holen. Ihnen eine Plattform geben, den Rücken freihalten und die Freiheit geben, einen weiblichen Blick zu entwickeln. Damit es endlich ein paar handfeste Antworten auf die Frage gibt, was die Zeitungsleserin will. Im Hinterkopf steckt dabei immer der Kampf um die Auflage: Um die südhessische Lesergunst konkurrieren in Darmstadt neben dem „Echo“ unter anderem die Regionalausgaben von „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und „Frankfurter Rundschau“ nach dem Gebiet, der „Mannheimer Morgen“, die „Offenbach Post“, das „Main-Echo“ und drei weitere Lokalzeitungen.

Der Start. Im Dezember 2006 standen Berit Paflik und ihre Redaktionskolleginnen mit gepackten Koffern vor dem erhabenen Wasserschloss bei Köln, in dem die Moderationsakademie untergebracht ist. Paflik hat Publizistik, Psychologie und Archäologie studiert, 1994 beim „Echo“ volontiert und betreut dort heute als Redakteurin unter anderem die Wissenschaftsthemen. Dass Frauen im Sportteil ihrer Zeitung so gut wie nie vorkommen – außer, sie glänzen durch eine wohlgefällige Optik-, war ihr in all den Jahren nicht aufgefallen. „Die Denkweisen hatten sich eingeschliffen“, sagt sie, „nicht nur bei den Männern.“ Von Carmen Thomas erwartete sie fertige Antworten auf die Frage, was der Leser oder die Leserin will. Etwas, über das sich später in der Redaktion referieren ließe. Es kam anders.

Das Coaching, sagt Paflik, wurde zu einer Schulung im Umgang mit Menschen, in Selbstorganisation, in Kreativität. Sie weiß selbst, wie vage das klingt. „Was zum einen Teil der Absprache ist: Was innerhalb eines Coachings besprochen wird, dringt nicht nach außen. Nur diese Diskretion macht es den Beteiligten möglich, sich neu zu erfinden.

Vielleicht kann man es auch nicht konkreter umschreiben, wenn Redakteuren eine neue Perspektive für ihre Arbeit vermittelt wird. Und genau das ist pa
ssiert: „Als wir nach diesen zwei Tagen zurückgekehrt sind, waren wir sensibilisiert dafür, dass es einen weiblichen Blickwinkel gibt. Und dass er notwendig ist.“ Das Seminar, sagt die 39-jährige Redakteurin, sei der Anfang eines Prozesses gewesen. Ein Kick-off.

Die Folgen. Was das bedeutet, kann man jetzt, ein Jahr später, in Darmstadt besichtigen. Erstes Ergebnis des Coachings: Die Redakteurinnen haben sich zu einer festen Frauenrunde zusammengeschlossen, die regelmäßig, einmal im Monat, im Verlagshaus nach Feierabend tagt. Und Fakten schafft. Eine ihrer ersten Taten war es, die Zeitung auszuwerten. Zwei Wochen lang haben die Frauen Themen analysiert, Bilder verglichen. Das Ergebnis wurde erst der Chefredaktion, dann der Ressortleiterkonferenz vorgestellt, schließlich in der Gesamtkonferenz präsentiert. Es war ernüchternd: auf elf Seiten Sport ein Frauenfoto. In der Wirtschaft wurden im gleichen Zeitraum sieben Mal Frauen abgebildet – meist, wie sie CDs oder andere Produkte dekorativ in Richtung Kamera hielten. Kann es das sein, was die Leser wollen?

Zum ersten Mal haben die Journalistinnen nun definiert, was sie als Leserinnen von einer Zeitung erwarten. Mehr Menschen im Blatt. Mehr Betroffene. Lieber die Eltern als die Erzieher. Lieber die entlassenen Arbeitnehmer als den Firmenchef. Und keine Frauen als dekoratives Element, unscharf fotografiert. Sondern als Mittelpunkt einer Geschichte.

Die Reaktionen. Als sie ihre Ergebnisse in der Gesamtkonferenz vorgestellt hatten, war die erste Reaktion: Abwehr. Man bilde ja nur Realität ab, verteidigen sich die Kollegen. Misstrauen war auch zu spüren: Was hatten die Kolleginnen da im nordrhein-westfälischen Wasserschloss eigentlich gelernt? „Die Männer hatten Angst, plötzlich dominiert zu werden“, vermutet Riebartsch. „Sie waren es gewohnt, dass ihnen die Führungsposition in den Konferenzen zustand.“ Um das Team auf gemeinsame Linie zu bringen, kam Carmen Thomas im Januar für einen Tag zum „Echo“ und moderierte die Gesamtkonferenz, ermunterte die Dauerredner dazu, auch Stillere zu Wort kommen zu lassen. Und erklärte, wie man Stress aus einer Diskussion nimmt, indem man Kritik entpersonalisiert. Das Ganze wurde bewusst „Kompetenz-Forum“ genannt, um auch die Zauderer und Skeptiker für den Umdenk-Prozess zu gewinnen.

Der Thomas-Besuch in der Redaktion war keine Stippvisite. Sondern ein Baustein des Projektes. Dazu gehörte im November 2006 auch ein Einzelcoaching mit dem Chefredakteur und seinem Stellvertreter, noch vor dem Gruppentraining der Frauen. Dazu soll auch eine Nachbereitung in der Gesamtkonferenz gehören. und demnächst steht ein weiterer Besuch der Moderatorin an, um die Redakteurinnen für die neuen Leserschafts- und Leserinnenforen zu trainieren. Coaching nach dem Thomas-Prinzip ist ein Prozess. Er kann dauern. Allerdings haben Gruppen das Problem, über die Dauer von Zeit zu bröckeln. Auch deshalb ist es für die Redakteurinnen wichtig, welche Rückmeldung sie aus der Chefetage bekommen. Und die fällt eindeutig aus: „Wir bekommen klare Signale von der Chefredaktion, dass unsere Arbeit wichtig ist“, sagt Paflik.

Und mittlerweile, ein Dreivierteljahr nach dem Coaching, bekommen die Frauen auch Rückmeldung von den männlichen Kollegen. Ernsthafte Rückmeldungen. Einer hat sich neulich zum ersten Mal nach langen Jahren des Lokaljournalismus mit den Standardtexten zu den Goldenen Hochzeiten auseinandergesetzt. Und überrascht festgestellt, dass da nur die Lebensgeschichte des Mannes erzählt wird. Neulich, als am gleichen Tag die Fußballnationalmannschaften der Frauen und Männer spielten, waren beide Geschichten mit dreispaltigem Foto im Blatt platziert. Die Sportlerin als ernstzunehmendes Objekt der Berichterstattung – das ist neu. Und Paflik ist sich sicher: „Wir tun etwas, das der Zeitung nützt.“ Als Nächstes wollen die Redakteurinnen einen Leserinnenkreis initiieren und deren Sicht auf die Zeitung überprüfen.

Die Zukunft. Agenda-Setting heißt beim „Darmstädter Echo“ auch: langfristig planen. Mehr Frauen auf den Weg der Redakteurslaufbahn bringen. Ihnen die Höhenangst vor dem Karrieresprung nehmen. Noch sind es 20 Jahre bis zum Rentenantritt des Chefredakteurs, aber Jörg Riebartsch blickt schon einmal weit in die Zukunft: „Wenn ich es schaffe, dass ich eine weibliche Nachfolgerin für meinen Posten finde – das wäre toll“. Ein Gedanke, der heute im Jahr 2007 geradezu utopistisch klingt. Noch lassen sich die Chefredakteurinnen deutscher Tageszeitungen an einer Hand abzählen. Doch die Veränderung beginnt im Kopf. Manchmal mit einem Murren über ein mieses Foto.

Info

Jörg Riebartsch ist seit 1. Juni 2005 Chefredakteur beim „Darmstädter Echo“. Der 47-Jährige war zuvor Chef vom Dienst im gleichen Haus. Zu den „Echo“-Zeitungen gehören neben dem „Darmstädter Echo“ die Lokalausgaben „Groß-Gerauer Echo“, „Rüsselsheimer Echo“, „Ried Echo“, „Starkenburger Echo“ und „Odenwälder Echo“ zum Medienhaus Südhessen. Das Verbreitungsgebiet der Zeitungsgruppe umfasst den größten Teil von Südhessen und erreicht in diesem Gebiet rund 300.000 Leser. Die verkaufte Auflage aller sechs Ausgaben lag zuletzt bei 96.000 Exemplaren (Quelle: IVW 2/07).

Erschienen in Ausgabe 9/2007 in der Rubrik „Beruf“ auf Seite 16 bis 19 Autor/en: Interview: Andrea Mertes. © Alle Rechte vorbehalten. Der Inhalt dieser Seiten ist urheberrechtlich geschützt. Für Fragen zur Nutzung der Inhalte wenden Sie sich bitte direkt an die Redaktion.