Wenn Schlagzeilen Frauenleben gefährden

Berichten Medien von „Beziehungsdramen“ und geben Tätern mehr Raum als Betroffenen, normalisieren sie tödliche Gewalt gegen Frauen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz sind problematische Erzählmuster im Journalismus tief verankert – obwohl sorgfältige Berichterstattung sogar zur Gewaltprävention beitragen könnte. Der vollständige Beitrag ist im „medium magazin“ 05/2025  erschienen.

Text: Olivia Samnick, Antje Plaikner und Karolina Kaltschnee


Das Knallen der letzten Silvesterböller ist kaum verhallt, da erscheint die Meldung zum ersten Femizid im Jahr 2025 in Deutschland: Stefanie W. wird am 2. Januar in einem Treppenhaus im Beisein ihres Kindes getötet. Der Täter: ihr Partner, der Vater des Kindes. Er ersticht die Frau.

Die deutsche Kriminalstatistik bildet Femizide – also das Töten von Frauen aus geschlechtsspezifischen Gründen – nicht explizit ab, zeigt aber: Täglich gibt es zwei bis drei Tötungsversuche gegenüber Mädchen und Frauen – und fast täglich eine Tote. 2023 standen 81 Prozent der Taten im Zusammenhang mit Partnerschaften. In Österreich gab es 2024 laut Kriminalstatistik 40 Morde an Frauen, davon 24 „mit persönlichem Bezug“. In der Schweiz gibt das Bundesamt für Statistik 19 Fälle von häuslicher Gewalt mit Todesfolge mit weiblichem Opfer für 2024 an. Kriminalstatistiken hinken naturgemäß hinterher. Deshalb leisten Initiativen wie „Femizide stoppen!“ wichtige Arbeit. Sie zählen für das Jahr 2025 bis Redaktionsschluss 68 Femizide in Deutschland. In der Schweiz sind es dem Rechercheprojekt „Stop Femizid“ zufolge bis dato 20, in Österreich verloren laut den Autonomen Österreichischen Frauenhäusern 12 Frauen durch Femizide ihr Leben. Die Zahlen zeigen: Femizide sind ein länderübergreifendes Problem, das alle Schichten durchzieht. Trotz der hohen gesellschaftlichen Relevanz stellen Fachleute aus Deutschland, der Schweiz und Österreich fest: Medien versagen immer noch zu oft dabei, Femizide angemessen darzustellen.

Wie reden wir endlich angemessen über tödliche Gewalt gegen Frauen? Das Thema Femizide in den Medien bespricht der „Bonjourno“-Podcast aus mehreren Perspektiven: In Folge 1 geht’s mit Journalistin Sonja Peteranderl um ihre Arbeit zu geschlechtsspezifischer Gewalt und einen Leitfaden für Medienschaffende. Folge 2 zeigt, wie Medienberichte die gesellschaftliche Wahrnehmung zu Femiziden prägen – und Frauen vor Gewalt schützen können. Dazu spricht Olivia Samnick mit Christine Meltzer, die zwei große Studien zur Femizid-Berichterstattung umgesetzt hat. Die Doppelfolge ist Teil einer einjährigen Recherche des „Selbstlaut Kollektivs“ zu Femiziden – von Mediendarstellung über Täterprävention bis zu Verfehlungen in der Politik. bonjourno.de/episodes

Was in der Berichterstattung über Stefanie W. folgte, ist Inbegriff der journalistischen Irrwege in der Berichterstattung über Femizide. Einen Tag nach der Tat spricht ein Lokalmedium mit dem Arbeitgeber des Täters: Diesem sei so etwas ja gar nicht zuzutrauen. Von einer Jobplattform übernehmen Boulevardmedien Fotos der Getöteten und des Mannes. Die Augen werden nur notdürftig verpixelt oder mit einem Balken versehen. Daneben stehen ihre Berufe, der Wohnbezirk, gar der Straßenname. Aus der Gerichtsverhandlung Monate später zitieren überregionale und öffentlich-rechtliche Medien den Täter. Er erklärt die von ihm Getötete zunächst zur „Liebe seines Lebens“, dann für labil – und sich selbst zum Retter des gemeinsamen Kindes. Die brutale Tötung? Sie soll ein Akt der Liebe gewesen sein.

Und Stefanie W.? Die Getötete kommt in diesen Berichten kaum vor. Die Tat wirkt wie eine plötzliche Tragödie – dabei belegen kriminologische Studien längst: Femizide sind fast immer geplante Taten. Sie sind keine Einzelfälle. Sie werden nicht aus romantischen, sondern aus frauenverachtenden Motiven begangen. Die brutalste Art, auf die Männer ihre Besitzansprüche äußern.

Kein Freifahrtschein für Voyeurismus

Henriette W. aus Ostdeutschland wurde wie Stefanie W. von ihrem Ex-Partner auf brutalste Weise angegriffen. Auch ihr Kind musste das mitansehen. Henriette W. überlebte knapp und kann heute selbst mit uns sprechen. Nicht nur über den versuchten Femizid, sondern auch darüber, wie katastrophal manche Medien über ihn berichtet haben: In der Lokalpresse wurden die Berufe des Ex-Paares genannt, das Wohnhaus abgelichtet, lediglich ein Balken verbarg die Augen auf den Fotos des Täters. In der Kleinstadt, in der Henriette W. damals lebte, war es kaum möglich, ihre Identität zu schützen: „Ich fand das sehr kritisch, auch wegen meiner Kinder“, sagt Henriette W. heute. „Ich wusste, ich muss laut werden.“

Sensible Details zu Femiziden finden sich auch in österreichischen Schlagzeilen vor allem im Boulevard wieder, sagt Journalistin Andrea Gutschi vom Medienwatchblog „Kobuk“. Sie untersuchte anlässlich eines Femizids im Frühjahr die Berichte der heimischen Tageszeitungen und stellt fest: „Immer wieder zeigt sich dasselbe Muster: eine voyeuristische Darstellung, die im Boulevard besonders stark ausgeprägt ist und beim Femizid häufig den postmortalen Opferschutz missachtet.“

Der Einfluss des Boulevards ist im ganzen DACH-Raum ungebrochen. Neben den großen Marken wie „Krone“, „Oe24“ und „Heute“ in Österreich, der deutschen „Bild“ oder dem Schweizer „Blick“ gibt es inzwischen etliche Digitalmedien mit Boulevard-Schwerpunkt. Gerade online werden intime Details, prominente Täterperspektiven und Fotos angetrieben vom Wettlauf um Schnelligkeit veröffentlicht. Artikel zu überproportional grausamen Taten mit extremer Gewalt haben Hochkonjunktur – sie klicken gut. Doch bei der Femizid-Berichterstattung darf das kein Freifahrtschein für Voyeurismus und potenzieller Gefährdung von Frauen sein.

Valérie Vuille, Leiterin der Genfer Organisation DécadréE, analysiert seit mehr als zehn Jahren die Darstellung geschlechtsspezifischer Gewalt, schult Redaktionen und publiziert Analysen. Sie sagt: „Jeder Artikel ist eine Chance, Gewalt sichtbar zu machen.“ Vuilles Team monitort 19 Medien der Romandie. In der jüngsten Auswertung von Ende 2023 wurden 1.754 Artikel untersucht: 57 Prozent der Artikel, die Femizide behandeln, verwenden den Begriff nicht einmal. Fast jeden Tag erscheint ein Artikel, der die Gewalt gegen Frauen verharmlost oder banalisiert. Und nur 14 Prozent der Artikel enthalten direkte Hinweise auf Hilfe für Betroffene.


Hilfsangebote für Betroffene

Begeht ein Mann einen Femizid und tötet sich anschließend selbst, finden sich in Beiträgen Verweise auf Hilfsangebote bei Suizidalität – oft fehlt es aber an Informationen für Frauen, die femizidgefährdet sind. Diese Angebote sollten Berichte mindestens auflisten:

Österreich
Polizei: 133 (bei akuter Gefahr)
Frauenhelpline: 0800 222555 (24/7, ano­nym, kostenlos, mehrsprachig)
Frauennotruf Wien: 0171719 (24/7, anonym, kostenlos, mehrsprachig)
Stiller Notruf: App „DEC112“
Gewaltschutzzentren: 0800 700217, gewaltschutzzentrum.at
Männernotruf: 0800 246247 (Krisentelefon, 24/7, anonym, kostenlos)

Deutschland
Polizei: 110 (bei akuter Gefahr)
Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“: 116 016 (24/7, anonym, kostenlos, mehrsprachig)
Frauen gegen Gewalt e. V.: Netzwerk von Fachberatungsstellen zu Schutzunterkünften, psychosozialer/juristischer Hilfe; frauen-gegen-gewalt.de
BIG-Hotline (Berlin): 030 6110300 (Beratung, Krisenintervention, Vermittlung an Frauenhäuser; 24/7, anonym, kostenlos, bei Bedarf kann in andere Sprachen vermittelt werden; big-hotline.de)
Bundesarbeitsgemeinschaft Täterarbeit Häusliche Gewalt: bag-taeterarbeit.de/beratungsstellen-liste; Beratungsangebote für Menschen, die in Partnerschaft Gewalt ausüben.

Schweiz
Polizei: 117 (bei akuter Gefahr)
Frauenhäuser: frauenhaeuser.ch
(Kontakte nach Region)
Opferhilfe: opferhilfe-schweiz.ch
Chatberatung: onlineopferberatung.ch
(deutschsprachig, kantonübergreifend)
Mädchenhaus: 044 341 49 45 (stationäre Kriseneinrichtung in Zürich für Frauen von 14 bis 20, maedchenhaus.ch)
Mannebüro: 044 2420888 (Konfliktberatung für Männer; mannebuero.ch)

Leitfäden und Literaturtipps
Zur Femizid-Berichterstattung gibt es in allen drei DACH-Ländern einschlägige Leitfäden. Die Empfehlungen unserer Autorinnen finden Sie hier:
mediummagazin.de/femizide


Auch in deutschsprachigen Schweizer Medien existiert diese Problematik. Bettina Bühler, Leiterin des Frauenhauses beider Basel, hat deswegen im Herbst 2024 eine Presseratsbeschwerde eingereicht. Der erste solche Fall überhaupt. In den beanstandeten Artikeln werden unter anderem Initialen und der Wohnsitz des Opfers genannt und mit einem Foto ersichtlich gemacht. Auf dem Foto ist neben dem Haus auch der Straßenname lesbar, womit der ehemalige Wohnort sofort auffindbar ist. „Die Bericht­erstattung ist oftmals täterschützend, der Opferschutz ist nicht im Fokus“, sagt Bühler. Für das Frauenhaus sei die Beschwerde vor allem ein Möglichkeit, medienethische Fragen öffentlich zu machen: „Zweitrangig, wie das Urteil ausfällt – wir machen weiter Medienarbeit. Wichtig ist, dass die Opfersicht mitgedacht wird.“

Valérie Vuille zufolge hat sich die Häufigkeit von Artikeln zu Femiziden in der französischsprachigen Schweiz zuletzt sogar fast verdoppelt, die Qualität bleibe sehr unterschiedlich: Auf den ersten Blick scheinen viele Berichte journalistische Standards zu erfüllen, die Tötung werde von vorne bis hinten eingeordnet, vom Tatort teils bis in den Gerichtssaal hinein. Und doch ist diese Form des Berichtens nicht nur lückenhaft und lädt Voyeure ein, sondern verklärt die Gewalt, die hinter der Tötung steckt. Und: Sie gefährdet durch den plumpen Umgang mit sensiblen Informationen weitere Frauen.

So geschehen beim Femizid von Norhan A.: Nachdem die Frau von ihrem Ex-Mann vor einer Schutzwohnung in Deutschland erstochen wurde, veröffentlichte eine Zeitung den Straßennamen. Dabei werden die Adressen von Schutzwohnungen bewusst geheim gehalten, damit schutzsuchende Frauen dort nicht von ihren gewalttätigen (Ex-)Partnern aufgefunden werden können. Eine Veröffentlichung widerspricht also nicht nur den Richtlinien des deutschen, österreichischen und Schweizer Presserats um die Privatsphäre einer Person – die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Sie ist auch grob fahrlässig

Briefe schreiben statt „Witwenschütteln“

Oft schon wenige Stunden nach einem Femizid titeln die ersten Medien, was vorgefallen ist. Im Nachrichtenjournalismus so weit normal. Mal wird sich als erste Quellen auf Polizei- und Behördenberichte gestützt. Mal wird direkt bei Angehörigen geklingelt. Manche Medienschaffende versuchen, mit unethischen Mitteln Zitate aus Angehörigen und Nahestehenden herauszupressen. In der Schweiz und in Österreich gibt es, gleichwohl sie auch dort regelmäßig vorkommt, keine griffige Bezeichnung für diese Praxis. Im deutschen Journalisten-Jargon nennt man sie „Witwenschütteln“.

„Ich lag noch im Krankenhaus, da stand ein Journalist bereits bei meiner Schwester vor der Tür“, sagt Henriette W. Dass ihre Angehörigen zu Hause aufgesucht wurden, während sie selbst noch in Lebensgefahr schwebte, überschritt für Henriette W. eine rote Linie: „Das hat mich im Nachhinein extrem schockiert.“

Bei dieser Recherchetaktik nutzen Journalisten die Ausnahmesituation des Gegenübers aus und nehmen in Kauf, die Situation mit unsensiblen bis voyeuristischen Nachfragen zu verschlimmern:

[…] den gesamten Beitrag lesen Sie im „medium magazin“ 05/2025

Über die Autorinnen: Olivia Samnick ist ist Onlineredakteurin beim „medium magazin“ und macht den „Bonjourno“-Podcast. Sie arbeitet zudem als freie Journalistin in Berlin und ist Teil des Selbstlaut Kollektivs, das sich jüngst ein Jahr lang mit Femiziden befasst hat. Karolina Kaltschnee ist Romanistin sowie Slawistin und arbeitet als freie Journalistin in Köln. Sie ist Teil des Selbstlaut Kollektivs. Antje Plaikner ist freie Journalistin und Medienwissenschafterin in Innsbruck. 

 


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