Zehn zornige Thesen zur Zukunft der Zeitung

Warum  Bernd Ziesemer*, Chefredakteur des „Handelsblatt“, das G+J-Modell von Steffen Klusmann für „intellektuell unredlich und unfair“ hält und keine Lust mehr hat, als Chefredakteur „betriebswirtschaftlichen Kauderwelsch“ zu verbreiten:

>>>Als ich vor fast 30 Jahren bei Wolf Schneider als Journalistenschüler anfing, lernten wir zuerst: Es gibt sehr unterschiedliche Stilformen von der Nachricht bis zur Glosse. Bitte lesen Sie nur weiter, wenn Sie sich auch über eine Polemik freuen können. Denn dieser Text ist eine Polemik und will auch nichts anderes sein. Zehn zornige Thesen zum Diskussionsstand über die Zukunft der Zeitung:

ERSTENS. Vor kurzem kam mir der Text einer Chefredakteurin unter, die eine Modezeitschrift leitet. Ich fürchte: Ihre blonden Haare sind ungefähr so echt wie ihr Bekenntnis zur Ethik des Journalisten. Diese Chefredakteurin schreibt, das Verhältnis zwischen Modemagazinen und ihren Anzeigenkunden sei „durch faires Geben und Nehmen geprägt“. Das ist exakt der Grund, warum ich kein Modemagazin machen möchte. Ich bin ein hoffnungslos altmodischer Anhänger der guten alten Trennung zwischen Redaktion und Anzeigengeschäft. Redaktionelle Unabhängigkeit ist die conditio sine qua non für Qualitätsjournalismus. Sie ist in der jetzigen Wirtschafts- und Medienkrise akut gefährdet. Als Journalisten sollten wir alle angeblichen „Medien-Innovationen“ und neuen Redaktionsmodelle vor allem darauf abklopfen, ob sie die redaktionelle Unabhängigkeit und den Qualitätsjournalismus stärken – oder nicht.

ZWEITENS. Nach meinem Geschmack gerieren sich viele Verlagsmanager seit einigen Jahren so, als ob sie Chefredakteure wären. Und viele Chefredakteure reden als ob sie Verlagsmanager wären. Einige Chefredakteure bezeichnen sich selbst stolz als „Redaktionsmanager“. Ich finde diesen Begriff zum Kotzen. Wir sollten als Journalisten all das modische Gerede über die „Monetarisierung von Inhalten“, über „Synergieeffekte“, über „betriebswirtschaftliche Zwänge“ und „Organisationsmodelle“ mal für eine Weile einstellen. Um es auf Englisch zu sagen: It’s none of our business. Unser Geschäft sind exklusive Nachrichten, Leitartikel, spannende Interviews und Reportagen. Warum reden wir auf Journalistenkongressen so wenig über unser eigentliches Kerngeschäft – gute Zeitungen und Magazine zu machen? Ich bekenne freimütig: Auch ich habe in der Vergangenheit gesündigt und die Teilnehmer von Fachkongressen mit all dem betriebswirtschaftlichen Kauderwelsch überschüttet. Ich habe dazu keine Lust mehr und höre ab sofort damit auf. Und obwohl ich nicht Katholik bin, beginne ich meine Buße mit einem kräftigen: Mea culpa maxima!

DRITTENS. Ich habe in meiner Laufbahn viele echte Verleger und hervorragende Verlagsmanager erlebt. Bestimmte Arten von jungen Verlagsmanagern und mehr noch von Unternehmensberatern, die sich in den letzten Jahren in den Verlagshäusern tummeln, erzeugen bei mir jedoch ein intellektuelles Würgegefühl. Viele von ihnen sind kulturelle Analphabeten, die schon lange keine einzige Zeitung mehr lesen, sich aber berufen fühlen, uns Journalisten zu erklären, wie man Zeitungen machen muss. Ich habe in einem Auswahlgespräch vor kurzem all die Berater erlebt, die in verschiedenen Verlagen und in Redaktionen ihr Unwesen treiben. Nur sehr wenige von ihnen brachten die erforderliche Mindestkompetenz für unser Gewerbe mit. Einige der Powerpoint-Präsentationen, die ich erleben konnte, waren in ihrer fachlichen Lächerlichkeit, intellektuellen Dumpfheit, betriebwirtschaftlichen Vordergründigkeit und moralischen Impertinenz nicht mehr zu überbieten. Viele von ihnen missachten den Berufsstolz der Journalisten. Sie behandeln Journalisten wie die Bandarbeiter der Lückenfüllproduktion zwischen den Anzeigen. Und einige Verlage machen das leider mit: Der Umgang mit Redakteuren, der im Hause Gruner+Jahr beim Umbau der Wirtschaftspresse zu beobachten war, erfüllt mich mit Zorn und Scham. Ich selbst habe in diesem stolzen Verlagshaus als Absolvent der Henri-Nannen-Schule mein journalistisches Handwerk gelernt und bin Männern wie Wolf Schneider, Henri Nannen oder Gerd Schulte-Hillen mein Leben lang dafür dankbar. Ich hätte das, was dort passiert ist, nicht für möglich gehalten.

VIERTENS. Wir haben uns in den letzten Jahren in den Printmedien eine ganz merkwürdige Mischung aus Bullshitting und Masochismus angewöhnt. Bullshitting immer dann, wenn wir unsere eigenen Marken hochjazzen. Masochismus immer dann, wenn es um den angeblich unaufhaltsamen Niedergang unserer gesamten Branche geht. Zum Masochismus gehört leider auch das, was ich vor kurzem in dieser Zeitschrift lesen konnte: „Es gibt keine Branche, die so konservativ und innovationsfeindlich ist wie das Mediengeschäft“. Ach Quatsch. Die größte Gefahr für Qualitätsjournalismus geht in unserer Branche gegenwärtig nicht von den angeblich Konservativen und Innovationsfeinden aus. Sondern von denen, die sich unter dem Banner „Alles ist möglich“ versammeln. Die zum Beispiel von „innovativen Werbeformen“ schwatzen und ganzseitige Werbeposter auf der Seite Eins meinen. Die über neue „Geschäftsmodelle“ reden und die Produktion mit immer weniger Journalisten meinen. Und zum unaufhaltsamen Niedergang der Printmedien an dieser Stelle nur mal eine einzige Zahl. Was meinen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, um wie viel die Auflage des „Wall Street Journals“ zwischen 1990 und September 2008 gefallen ist? Sie ist nicht gefallen, sondern gestiegen: um 6,6 Prozent. Gleichzeitig betreibt das Journal den einzigen erfolgreichen kostenpflichtigen Online-Auftritt einer Tageszeitung weltweit – mit immerhin fast einer Million Usern. Es geht also doch. Und es geht auch beides zusammen.

FÜNFTENS. Eine besondere Kategorie von Dummschwätzern findet sich leider unter den so genannten Medien-Bloggern. Diese Spezies versucht verzweifelt, im Internet ein paar „lousy pennies“ zu verdienen, kommt dabei aber nicht einmal auf den Regelsatz von Hartz IV. Trotzdem geben sich diese Damen und Herren als Unternehmensberater und empfehlen den Printmedien, unsere gedruckten Zeitungen so schnell wie möglich einzustampfen und ganz auf das Medium Online zu setzen. Vor kurzem konnte man bei Turi zum Beispiel den tollen Ratschlag eines kulturell und betriebswirtschaftlich offenbar behinderten „Medienexperten“ lesen, die New York Times solle doch ihre Printausgabe schnell einstellen. Eine kurze Überschlagsrechnung ergibt, dass die US-Zeitung damit rund 90 Prozent ihrer Erlöse verlieren und damit innerhalb weniger als drei Tagen schnurstracks in die Pleite marschieren würde.

SECHSTENS. Mir ist es vollkommen unerfindlich, warum sich einige Chefredakteure von deutschn Printmedien in Deutschland an diesem Dauergeschwätz über den angeblichen Tod der Zeitung beteiligen. In der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ wurde vor kurzem Steffen Klusmann von der „Financial Times Deutschland“ mit den Worten zitiert, die Tageszeitung werde „in fünf bis zehn Jahren“ vom „I-Phone gekillt“. Warum nicht in vier bis neun Jahren? Die empirische Basis solcher Behauptungen geht hart gegen Null. Auf jeden Fall würde ich Steffen  Klusmann empfehlen, sich schnell einen Job als Content-Provider bei Apple zu suchen, wenn er wirklich an seine eigene Prognose glaubt. Im Gegensatz zu mir ist er ja noch jung genug für einen beherzten Branchenwechsel. Allerdings beobachte ich die prognostischen Fähigkeiten Klusmanns mit einiger Skepsis. 2005 sagte er im Brustton seines Überschwangs voraus, die FTD werde das „Handelsblatt“ schon „bald überholt“ haben. Inzwischen liegt die verkaufte Auflage des Handelsblatt bei fast 150.000, die der FTD bei gut 100.000. Und das mittlerweile seit drei Jahren. Mit Überholen war also nichts.

SIEBTENS. Normalerweise war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass wir uns in den Medien nicht gegenseitig kritisieren. Sie merken seit einigen Minuten vielleicht, dass ich „gaaaaaanz leicht“ von diesem Grundsatz abweiche. Der Grund dafür ist Zorn. Ich kann und will Steffen Klusmann ja nicht daran hindern, sein Modell einer Einheitsredaktion für vier Print-Titel und diverse Online-Auftritte zu verwirklichen. Mich erinnert dieses Modell an einen alten Vergleich über den Sozialismus. Er stammt von Lech Walesa, dem Führer der polnischen Gewerkschaftsbewegung Solidarnost, der einmal sagte: Es ist sehr leicht, aus einem Aquarium eine Fischsuppe zu machen – aber sehr schwer, aus einer Fischsuppe wieder ein Aquarium. Um im Bild zu bleiben: Es ist okay, wenn Klusmann an seine Fischsuppe glaubt. Aber er soll aufhören, sie uns allen als Rezept für einen Einheitsbrei zu verkaufen. Seit Wochen verbreiten Mitarbeiter von Gruner+Jahr das Gerücht, die Verlagsgruppe Handelsblatt werde ihrem Modell folgen. Steffen Klusmann selbst wurde vor kurzem mit der Aussage zitiert, „schon bald“ würden in anderen Verlagshäusern „Bomben explodieren“. Und: „Die Leute, die sich nur negativ äußern, haben Panik, dass in ihren Läden ähnliche Modelle umgesetzt werden.“ Die Wahrheit ist: Wir haben nicht vor, dem Modell Gruner+Jahr Wirtschaftspresse nachzueifern. Ich halte Klusmanns Vorgehen daher für intellektuell unredlich und unfair im Wettbewerb.

ACHTENS. Leider haben die meisten Kollegen, die über Medien schreiben, das Langzeitgedächtnis einer Ameise. Es gibt zwar einige rühmliche Ausnahmen bei der „Süddeutschen Zeitung“, im „Spiegel“ und auch in einzelnen Fachdiensten. Die meisten Medienjournalisten aber schreiben leider den jeweiligen Bullshit, der ihnen von Verlagen serviert wird, unkritisch herunter. Es würde ihnen helfen, wenn sie mal in ihre eigenen Archive schauen und uns alle – die Medienmacher – einmal mit früheren Aussagen konfrontieren würden. Das würde für uns alle ziemlich peinlich, wahrscheinlich auch für mich.

NEUNTENS. Das Klügste zur so genannten Zeitungskrise habe ich vor kurzem von Miriam Meckel im Feuilleton der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gelesen. Sie schreibt sinngemäß: Je schlechter wir uns selbst machen in den Zeitungen, je mehr wir  vor dem Internet und angeblichem Bürgerjournalismus ohne Journalisten auf dem Bauch kriechen, umso schneller machen wir uns selbst überflüssig. Miriam Meckel spricht als Kommunikationsprofessorin in diesem Artikel mit einer Wärme über das „Herz der Zeitungen“, wie man es von Chefredakteuren nur noch selten hört. Gelungene Zeitungsartikel seien „Meisterstücke, Ergebnisse von Individualität, Kreativität und den richtigen verlegerischen Investitionen in Köpfe, die das können. Dazu braucht man keinen Newsroom, dazu braucht man Schreiber, die die Welt erzählen. Auf eine Weise, die wir im Netz vergeblich suchen – und wenn wir sie finden, dann sind es meist Printgeschichten, die ins Netz gestellt wurden.“

ZEHNTENS UND LETZTENS: Das ist eine sehr konservative, fast altmodische Sichtweise. Ich teile sie. Und ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass es auch Verleger gibt, die sie teilen.<<<

*Diese zehn Thesen trug Bernd Ziesemer beim Kölner Tag des Wirtschaftsjournalismus 2009 vor (s.a. Beitrag „Wirklich zum Lachen“, mm 4/2009). „mediummagazin“ dokumentiert exklusiv in Kooperation mit dem „Wirtschaftsjournalist“ (ebenfalls Medienfachverlag Oberauer) den vollständigen Text.