10 Hacks, um misslungene
Texte zu retten

Zitate kleben leblos aneinander, Phrasen wuchern vor sich hin, zentrale Informationen fehlen: Bei manchen Texten krankt es so sehr, dass es nicht reicht, sie zu redigieren. Sie müssen gerettet werden. Zehn Schritte, mit denen man (fast) jedem Artikel neues Leben einhauchen kann. Alle 10 Hacks finden Sie im neuen „medium magazin“ 04/2025 .
Text: David Selbach
Es war einer dieser Tage, an denen ohnehin schon nichts fertig wird. Eine Kollegin rief an. Sie organisierte in unserer Redaktion gerade die Abgabe mehrerer Artikel für ein anspruchsvolles, überregionales Wirtschaftsmagazin. Sie hatte drei Texte verschiedener Autorinnen und Autoren auf dem Tisch zur Redigatur – und bei einem dieser Texte kam sie partout nicht weiter. Um mit dem Beispiel niemanden bloßzustellen, sagen wir einfach: Es ging um die Fahrradbranche und neue, verrückte Bike-Konzepte.
Das Problem war: Der Autor hatte sich verzettelt. Er hatte zu spät mit der Recherche angefangen, weil er viele andere Projekte auf dem Tisch hatte, dann kam auch noch Pech hinzu, denn viele Fahrradhersteller hatten auf Interviewanfragen Absagen geschickt. Statt meine Kollegin früher um Hilfe zu bitten, hatte er etwas zusammengeworfen, bei dem die Trends der Branche blass blieben, Beispiele teilweise unvollständig waren, viele Zitate hölzern und aneinandergeklebt wirkten. Die Kollegin, die das Ganze für den Kunden fertig machen sollte, war ratlos. Der Auftraggeber hatte sogar schon einen Tag Aufschub gewährt und wartete nun ungeduldig. Zudem saßen ihr weitere redigierfähige Texte im Nacken. Das Ding musste fertig werden. „David, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll“, sagte sie. „Kannst du den Text retten?“
Zunächst einmal: Redigieren und Texte retten sind unterschiedliche Aufgaben. Auch wenn es viele Definitionen des Redigierens gibt, so haben sie doch meist eines gemeinsam: Wer redigiert, arbeitet mit vorhandenem Material. Es geht also darum, einen Text sprachlich zu glätten, Informationen zu prüfen, Widersprüche aufzulösen und gegebenenfalls leicht an der Struktur zu arbeiten.
Es gibt zwar Redakteurinnen und Redakteure, die auch stärker in Texte eingreifen, sie umschreiben, aber auch sie können irgendwann an einen Punkt kommen, an dem ein Artikel unredigierbar ist. Und zwar dann, wenn die Arbeit auf Textebene nicht mehr ausreicht. Wenn also das Thema verfehlt ist, wenn wichtige Aspekte fehlen oder zu wenig Substanz für einen einfachen Umbau vorhanden ist. In so einem Moment wechsle ich in den Rettungsmodus und improvisiere. Die ersten Situationen dieser Art mögen noch für Angstschweiß gesorgt haben. Aber irgendwann hatte ich dann gemerkt: Rettung ist sehr oft möglich. Deshalb bleibe ich heute immer ruhig – und gehe so vor:
Hack 1: Ersteinschätzen
Ich lese das Stück zuallererst aufmerksam zu Ende, auch wenn ich schon nach zwei Sätzen merke, dass hier viel zu tun sein wird. Ja, es ist verführerisch, aktionistisch ab dem ersten Satz loszulegen, aber das kann nach hinten losgehen, denn es kann sein, dass der Text gar nicht zu retten ist. Ich muss also nach der Lektüre einschätzen: Kann ich hier überhaupt noch etwas tun?
Ich habe schon Texte in der Erstfassung beerdigt, etwa ein Porträt aus der Lehrredaktion der Kölner Journalistenschule. Der Protagonist, den sich die Redaktion gewünscht hatte, gewährte der jungen Kollegin nur knapp 20 Minuten am Telefon, antwortete sehr sparsam und widerwillig auf ihre Fragen. Sie tat ihr Bestes und versuchte, die Lücken mit Hilfe seines Linkedin-Lebenslaufs plus Fachartikeln und den Aussagen aus einem alten Interview aufzufüllen. Aber der Text blieb blutleer, zentrale Punkte fehlten. Und weil klar war, dass der Protagonist kein weiteres Gespräch zulassen würde, wussten wir: Hier war nichts zu retten.
[…] alle 10 Hacks gibt’s im neuen „medium magazin“.
Hack 6: Desinfizieren
Nicht selten krankt eine schlechte Erstfassung an weitschweifigen, technokratischen Zitaten. Auch das kann am Zeitmangel liegen: Vielleicht wurden die Expertenzitate mehr oder weniger hintereinander zusammenkopiert. Oder sie sind das Opfer eines Freigabe-Overkills geworden, bei dem Interviewpartner sich selbst das Wort im Mund umgedreht haben. Der Trick: Aus schlechten, nicht enden wollenden O-Tönen mache ich eine Abfolge von indirekter Rede, Teilzitaten und den wenigen prägnanten Aussagen als Wortlaut-Zitat.
Ein Beispiel: „So stellt unser Portfolio einen durchgängigen digitalen Leitfaden dar, mit dessen Hilfe unsere Kunden neue Produkte und neue Produktionstechnologien entwerfen, in realen Umgebungen und in Echtzeit testen können, und das sogar noch, bevor die Prototypenfertigung startet“, so Dr. Thomas Meyer, CEO. „Damit können genaue Tests in kürzester Zeit durchgeführt werden.“
Daraus mache ich: „Mit dem digitalen Leitfaden des Unternehmens entwerfen Kunden neue Produkte“, sagt Vorstandschef Thomas Meyer. Außerdem können sie Produktionstechnologien in der Werkshalle in Echtzeit testen, erklärt er, und das sogar noch, bevor die Prototypenfertigung startet.
Hack 7: Implantieren
Es gibt Aspekte, die gar nicht wirklich fehlen, die den Text aber leichter verdaulich, dramaturgisch leichtfüßiger machen würden. Eine Überleitung mit Ortswechsel und einem Halbsatz zur Szenerie vielleicht, oder eine kurze Anekdote.
In unserem Text zum Thema Unternehmenskultur ging es um eine Organisation, in der man ein klares, ungeschöntes Feedback pflegte. Die Autorin stellte uns dazu eine junge, gut ausgebildete Frau vor, die erzählt, wie einer ihrer ersten Chefs ihr sinngemäß sagte: „Du bist viel zu ehrgeizig, du willst alles selbst machen, damit wirst du scheitern.“ Ich habe hinzugefügt: Das war für die junge Berufsanfängerin zunächst eine ziemliche Ansage. Diese Ergänzung war nicht direkt durch die Zitate gedeckt. Aber sie war plausibel, naheliegend und in dem Fall hilfreich für den Leser, um die Fallhöhe klarer zu machen: also sehr direktes Feedback, aber eben keine Unverfrorenheit, sondern Teil der Kultur. Außerdem verschönert solch eine erzählerische Deutung auch den Lesefluss.
Oder: Wenn in einem Text das Gewerbegebiet Wald in Bad Münstereifel vorkommt, kann ich es mit mehr Szenerie einführen und zum Beispiel mit Hilfe von Google Maps und Streetview herausfinden, ob an einer bestimmten Stelle des genannten Geländes wirklich der Wald zu sehen ist, und das dann beschreiben.
Solche Ergänzungen mache ich aber nur, wenn ich die Zusatzfakten selbst per Recherche belegen kann und der Autor noch einmal die Gelegenheit hat, sie zu prüfen.
[…] alle 10 Hacks gibt’s im neuen „medium magazin“.
Lesen Sie jetzt im neuen medium magazin 04/25:
Titelthema: An der Kette. Befristete Verträge werden zur Regel. Dabei zermürben sie vor allem Talente.
Medien und Beruf: Unbezahltes Praktikum. 55 Prozent der Medien zahlen für Praktika: nichts. Wie Oskar Vitlif das herausgefunden hat. Geld. Wie man als Freier kalkuliert und was man pro Tag und Text verdient? Darüber redet kaum einer. Also tut es Marius Elfering. Klima. Die Branche hinkt ihrer Verantwortung hinterher. Dabei kann jede und jeder einen Beitrag leisten. Patreon. Medienschaffende zeigen, wie sie die Plattform nutzen und was sie verdienen. AI Overviews. Wie sehr schaden Googles KI-Zusammenfassungen den Verlagen? Mit welchen Strategien reagieren US-Publisher? EPC. KI dominiert die Innovations-Trends in Europas Redaktionen. Rückhalt. Was es braucht, damit Protagonisten nicht zur Zielscheibe werden.
Rubriken: Kurz & bündig und Köpfe & Karrieren. Das tut sich in der Branche. Quellencheck. Ist Köln echt einsame Spitze? Presserecht. Welche Quellen sind privilegiert sind? Innovationscheck. Das ist CampfireFM. Kiosk. Welche Medien Freie suchen. Kurznachrichtendienst. Gavin Karlmeier kommentiert, was sich bei Meta, X und Co tut. Einerseits … andererseits. Sollten „User Needs“ wirklich im Mittelpunkt stehen? Fragebogen. Dominik Stawski: „Gutes Geschäft, guter Journalismus.“
Praxis: Zeigt her eure Prompts! KI-Tricks für besseres Arbeiten. Toolbox. Finde die Tippfehler. Texte retten. 10 Hacks vom Profi David Selbach. ChatGPT als Factchecker. Werkstatt-Interview mit Patrick Bernau (FAS).
Um Praxis geht es auch in der neuen „Journalisten-Werkstatt“ von Marius Elfering Frei arbeiten und gut leben. Die „Werkstatt“ liegt im „medium magazin“-Abonnement gratis bei. Einzeln ist sie zudem im Shop erhältlich.