Wolf Schneider: „Bilder lügen besser“

Schon das AUGE lügt uns an: Jahrtausendelang hat die Menschheit sich dem Irrtum hingegeben, dass die Sonne sich um die Erde dreht – schließlich geht sie sichtbar auf und sichtbar unter.

Ein Essay von Wolf Schneider

Mehr als das Auge lügt die MALEREI: Jahrhundertelang hat sie den Himmel mit Engeln bevölkert, an deren Existenz folglich Millionen Menschen glaubten. Sie hat den General Bonaparte auf dem Großen St. Bernhard als strahlenden Heros auf sich bäumendem Ross gezeigt – in Wahrheit zockelte ein dicklicher Napoleon auf einem Maultier über den Pass.

Mehr als die Maler lügen die FOTOGRAFEN – manchmal lügen sogar die FOTOGRAFIERTEN – und am dicksten lügt die fertige FOTOGRAFIE. Zumal auf sie ist ja die Redensart gemünzt: „Ein Bild sagt mehr als 1000 Worte“. Dieser alte Spruch hat zwei Nachteile.

Der erste: Manchmal ist es gerade umgekehrt. Was zeigten denn die Fernsehbilder von den Leipziger „Montagsdemonstrationen“ vom Herbst 1989, an denen schließlich die DDR zerbrach? Eine wogende Menge. Aber was an der war aufregend? Die vier Wörter auf ihren Transparenten: Erst „Wir sind das Volk“, dann „Wir sind ein Volk“. Selbst eine Hörfunkreportage mit diesen Wörtern wäre aufregender gewesen als alle Fernsehbilder – hätten die Demonstranten nicht freundlicherweise die vier Wörter vor die Kamera gehalten.

Der zweite Nachteil der Redensart „Ein Bild sagt mehr…“: Wenn das Bild mehr sagt, dann sagt es leider schrecklich oft etwas Falsches, Verzerrtes, Erlogenes.

Verzerrt: Selbstverständlich ziehen alle FOTOGRAFEN, Bildreporter, Kameraleute die Aktion der Ruhe vor, das Bizarre dem Alltäglichen, den Krawall der Stille: da werden natürlich nicht die zehntausend friedlich demonstrierenden Demonstranten ins Bild gesetzt, sondern die hundert Randalierer unter ihnen, die die Schaufenster einschlagen und sich mit Polizisten prügeln.
Ja: Im Grunde finden wir alle das interessanter, selbstverständlich erwarten genau dies die Redaktionen – und insoweit sind die Fotografen nur die Vollzugsorgane der öffentlichen Meinung im allgemeinen und ihrer Auftraggeber im besonderen. Auf diese Weise aber sind alle Wirrköpfe, Fanatiker, Chaoten auf Erden in der Welt der Bilder überrepräsentiert.

Als nach der jüngsten Mohammed-Verspottung amerikanische Fahnen brannten, da war dies natürlich nicht die Reaktion „der arabischen Welt“. Wahrscheinlich hatten drei Viertel aller Muslime von der Mohammed-Verspottung nie gehört. Vom letzten Viertel waren Millionen gar nicht aufgeregt, andere ärgerten sich still – und viele eben über die Randale, die daraus folgte. Aber nur Radau und Tumult sind fotogen.

Und zweitens verzerren Bildreporter die Wirklichkeit, indem sie arrangieren, inszenieren, animieren – und das tun sie oft. Ein bisschen Arrangement ist selbstverständlich bei jedem Gruppenbild dabei. Wer nicht inszeniert, kann sogar Ärger kriegen – so einst im Stern, als Nackedeis noch ein großes Thema waren: Ein Fotograf hatte auf Sylt die echten Nudisten fotografiert; Henri Nannen war entsetzt über so viel Hässlichkeit und ordnete an: Models bitte, wie immer!

Wie man animiert, habe ich selbst erlebt: Die Fotografen waren frustriert über Demonstranten, die sich still, zivil verhielten, und riefen: Da liegen doch Pflastersteine, tut was, dann kommt ihr in die Zeitung!

Inszeniert waren möglicherweise zwei der berühmtesten Fotos der Geschichte (jedenfalls stehen sie seit Jahrzehnten unter diesem Verdacht): der nach hinten fallende Soldat im Spanischen Bürger-krieg, von Robert Capa aufgenommen, und das nackte Mädchen, das in Vietnam weinend der Napalm-Hölle entronnen ist.

Nein, es wäre gar nicht schlimm, wenn hier echtes, schreckliches Leid mit ein bisschen Nachhilfe ins Bild gehoben worden wäre:
Grandiose Symbole waren ja damit erschaffen. Nur den naiven Glauben, dies sei die ungeschminkte Wahrheit, sollten wir uns abge-wöhnen.

Fotografen also verfälschen die Wirklichkeit, indem sie arrangieren, manchmal inszenieren – und immer das Chaos der Ordnung vorziehen. Seltener wird beredet, dass die FOTOGRAFIERTEN ihnen oft dabei zuarbeiten, wenn sie wissen, dass sie aufgenommen werden: Sich ein bisschen in Pose zu setzen ist ja normal. Es kann aber viel weiter gehen – wie eine Studie über das Verhalten amerikanischer Soldaten in Vietnam besagte: Die GIs hatten schon mal einen Angriff deshalb unternommen, weil ein Fernsehteam in der Nähe war; und viele hatten das Soldatsein geradezu gespielt – vorzugsweise mit dem wiegenden Gang von John Wayne, den sie aus allzu vielen Filmen kannten.

Mehr als die Fotografen und die Fotografierten zusammen lügt die FOTOGRAFIE. Schon in der analogen Zeit war sie ja nur Rohmaterial in der Hand des Laboranten: Er konnte den Hochspannungsmast hinter der alten Kirche wegretuschieren – er musste auf Stalins Geheiß dessen Erzfeind Trotzki tilgen, der da so gefährlich vertraut am Rednerpult von Lenin lehnte.
Und aus Hell konnte er spielend Dunkel machen: So lügen uns seit hundert Jahren die Reiseteile unserer Zeitungen konsequent ein magisches Zwielicht vor, wenn sie die berühmte „Mitternachtssonne“ zu zeigen behaupten: An der gibt es aber nichts zu sehen, absolut nichts. Es ist einfach taghell im Juli am Nordkap um Mitternacht.

Und nun die Computer! Die digitale Bildbearbeitung macht das Fälschen zum Sport und zum Kinderspiel. Es gibt kein Negativ mehr, bis zu dem eine Fälschung zurückzuverfolgen wäre. Der amerikanische Außenminister Colin Powell hat es bereut, 2003 die Invasion im Irak dadurch vorbereitet zu haben, dass er dem Weltsicherheitsrat Fotos angeblicher Biowaffen-Labors vorlegte – Bilder, von denen er nicht ahnte, dass sie am Computer entstanden waren.
Das Gesicht des 43-jährigen Filmstars Julia Roberts war 2011 für eine Lancôme-Werbung so glatt gebügelt worden, dass die britische Werbeaufsicht die Rücknahme erzwang. Dem Popstar Britney Spears wurden die Beine optisch gedehnt. Noch gar nicht gerechnet die digitale Montage, die Foto-Apps und die Digitalfilter in der Kamera.

Natürlich stellt sich die Frage: Wird denn mit Bildern etwa mehr gelogen als mit Worten? Natürlich nicht. Bei weitem nicht so viel. Nur besser eben! Wirksamer! Viel schwerer durchschaubar.

Dass man mit Wörtern beliebig viele Lügen transportieren kann, weiß jeder 7jährige, und den Wahlversprechen der Parteien zu glauben haben die meisten Wähler sich längst abgewöhnt. Die Bilder aber besitzen jene Aura von Echtheit, von Authentizität, die das Wort nie hatte. Dass auch sie uns belügen können, wird schlichten Gemütern nie zu vermitteln sein. Wo ein Bild wirklich mehr sagt als tausend Worte, so ist damit also ein Unheil formuliert.

Aktenkundig ist sogar ein Fall, in dem die Erklärung in Worten das Bild überwältigte: die unheimliche Geschichte von der Demonstration auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, 1989. Da zeigte das amerikanische Fernsehen, wie ein Panzer erbarmungslos einen torkelnden Greis vor sich her trieb; für uns ein kaum erträglicher Anblick. Das Kuriosum nur: Derselbe Film wurde auch im chinesischen Fernsehen gezeigt – dort mit dem Text: „Mit unendlicher Geduld ließ die Armee des Volkes lächelnd auch die verwirrtesten Demonstranten gewähren.“

In der Tat: Überrollt wurde der Greis nicht. Der Text war nicht widerlegbar. Noch ein Beitrag zu der Generaleinsicht:
Bilder illustrieren alles und erklären nichts. Damit sind sie die klassischen Vehikel der Irreführung. Die Fotografie hat die Rolle der Lüge in der Welt vergrößert. Einem Foto zu glauben ist ein Luxus, den kein denkender Mensch sich noch leisten sollte.

Diesen Text stellte Wolf Schneider (87), der am 31.1.2012 bei der Preisverleihung der „Journalisten des Jahres“ für sein Lebenswerk geehrt wurde, medium magazin exklusiv zur Verfügung, 

Lesetipp: Ebenfalls von Wolf Schneider: „Wir Panikmacher“, mediummagazin 9/2012.