Der Wert einer freien Presse

„Die freie Presse im Zentrum der Demokratie: Gültiges Leitbild oder schöne Illusion?“ fragte Verfassungsrechtler Udo Di Fabio anlässlich des Festaktes zum 250jährigen Bestehen der Saarbrücker Zeitung am 9. Juni.  Der streitbare Jurist ist seit 1999  Richter im 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts. Nachfolgend dokumentieren wir seinen Vortrag über Wert und Probleme von unabhängigen Medien  und ihre Bedeutung für die politische Meinungsbildung:

„Die Freiheit der Rede ist seit der Antike konstitutiv für eine res publica, die auf der Freiheit der sie ausmachenden Bürger ruht. Das freie Wort gehört nicht nur unverzichtbar zu jenem aufrechten Gang, welcher das Menschsein ausmacht, es ist auch das bestimmende Element des Citoyen, jenes Bürgers, der im öffentlichen Raum für das Gemeinwohl streitet. Schon vormoderne Vorstellungen von Polis, Stamm oder Stadt sahen im Ratschluss der Bürgerschaft oder der Freien nach diskursiver Rede die Gewähr für Zusammenhalt und Rationalität. Die modernen Demokratien stellen nicht zufällig ihre Mitte in der Architektur des Parlaments dar: dem Plenarsaal, Raum der freien Rede und des Diskurses. Ganze Gesellschaftstheorien wurden um das Faktum des Diskurses, des ausgetauschten Arguments gebaut, man kann sogar vom Mythos der Macht des gewechselten Wortes sprechen. Das Grundgesetz spricht von der „Willensbildung des Volkes“ (Art. 21 GG) und dieser jeweils voraus liegt die Meinungsbildung der Bürger (Art. 5 GG). Es wäre aber etwas naiv, wenn man es allein gewählten Parlamenten oder politischen Parteien überlassen würde, im staatlichen Binnenraum frei zu disputieren, es bedarf einer fortlaufenden und mitlaufenden Beobachtung allen politischen Geschehens von der lokalen Ebene über regionale, staatliche Einheiten, hinauf zu kontinentalen und bis zu globalen Handlungszusammenhängen.

Darauf spezialisiert ist die freie Presse, die mit ihren Nachrichten und Kommentaren das politische Geschehen nicht nur abbildet, sondern durch Auswahl, Darstellung und Bewertung so deutlich mitgestaltet, dass manche meinen, jenseits der von Massenmedien abgebildeten Realität existiere streng genommen gar keine andere. Die Medien, also Presse, Rundfunk, Internet konstruierten danach eine Wirklichkeit, die man zwar als Konstruktion durchschauen könne, aber ihr dennoch ausgeliefert sei, weil einzelne zu keinem konsistenten Gegenentwurf fähig seien. Die Medienwelt ist in der Tat ein eigenes Universum, in dem über die Welt da draußen berichtet wird, dabei aber ganz erheblich den Nachrichtenfluss und die Meinungsbildung anderer Medien kontinuierlich aufnimmt, kopiert oder konterkariert. Das heißt: Medien beobachten immer auch sich selbst[1].

So berichtete die „Saarbrücker Zeitung“ u.a. auf ihren eigenen Seiten:

Dabei kann auch die Presse nicht der Gesetzmäßigkeit entkommen, dass innerhalb der Gesellschaft jede Beobachtung und Kommentierung zugleich ein Handeln bedeutet, so dass der Leitartikler streng genommen zum politischen Akteur wird, der häufig über mehr „Macht“ oder besser über mehr Einfluss verfügt als manch gewählter Volksvertreter. Eine seltsame Symbiose von Politik als Gegenstand der Presse und Presse als Auge, Ohr und Mund des Souveräns tritt auch dort ein, wo Politiker allzu viel Zeit mit Journalisten und Medienberatern verbringen und ihre ganze Politik antizipierend nach einem mutmaßlichen Pressecho ausrichten. Wird im ersten Fall der leitartikelnde oder eine Kampagne befeuernde Journalist gleichsam zum politischen Akteur, so wird in den gegenläufigen Grenzfällen der Politiker zu einem Anhängsel des journalistischen Betriebes.

Doch solche gelegentliche Grenzüberschreitungen sollten nicht den Blick für an sich wohldefinierte Grenzen verstellen. Die Presse kontrolliert politische Herrschaft, begleitet sie, macht sie verständlich, tadelt und lobt. Was wir über Politik wissen, wissen wir aus Zeitungen, gedruckten Nachrichten, dem Rundfunk und dem Informationsfluss des Internets. Die ernsthafte Presse sieht sich als unabhängiger Teil des gesellschaftlichen und vor allem des politischen Prozesses, so wie Richter sich als unabhängige dritte Gewalt im Staat verstehen. Beide „Gewalten“ urteilen und handeln im Namen des Volkes, beide kontrollieren Legislative und Exekutive als die zur Gestaltung berufenen politischen Kräfte.

Eine frei gebildete von Staat, Behörden oder Parteien unabhängige Öffentlichkeit, eine freie öffentliche Meinung sind zentrale, unverzichtbare Voraussetzungen für Demokratie. Der funktionelle Zusammenhang ist erwiesen, historisch und global: Dort, wo Zeitungen bedrängt, zensiert, verboten sind, dort wo Journalisten eingeschüchtert, vorgeladen oder durch nie aufgeklärte Straftaten ums Leben gebracht werden, wo abweichende Meinungsäußerungen ins Gefängnis führen, dort herrscht keine Demokratie, dort ist die Würde des Menschen nicht unantastbar.*

II.  Politik & Presse als Metabene

Presse gibt es seit den ersten Flugschriften zu Beginn der Neuzeit, dann und namensgebend mit der Erfindung des Buchdrucks mittels beweglicher Lettern. Seit der Zeit knapp vor der Französischen Revolution entsteht der Beruf des Journalisten, der sich, fachlich versiert und vom Ethos des Aufklärers beseelt, als Auge, Ohr und Mund einer Öffentlichkeit versteht, die aus der privaten Lebenswelt heraus ihre Vernunftmaßstäbe auch für die öffentliche Sphäre findet. Die Symbiose eines damit korrespondierenden Verlegertypus, der Geschäftsinteresse und öffentliche Wirkung in den Mittelpunkt rückt, und der Journalisten, denen es weniger um Rendite, sondern um die öffentliche Rolle der Presse geht, um Beobachten, Berichten und Aufklären: Beides verschmilzt zu dem, was man seit Burke und Carlyle zuerst in England „fourth Estate“, vierte Gewalt, nannte[2]. Staatsrechtlich ist das eigentlich falsch, weil die Presse anders als die Gerichte gerade nicht zum Staatsverband gehört, sondern zur freien Gesellschaft. Aber das Bild hat doch eine tiefere demokratische Berechtigung.

Unsere Vorstellung geht heute auch dahin, dass alles politisch Bedeutsame in Nachrichten, Tageszeitungen und politischen Magazinen transparent wird[3]. Die Presse ist die Metaebene des politischen Prozesses, eine Reflexionsinstanz, in der Politik für den Bürger – und auch für viele Politiker – überhaupt erst ihre wahrnehmbare Gestalt findet. Das politische Geschehen, also die Gesetzgebung, die Ämtervergabe, Verwaltungsentscheidungen, wären für den Bürger in ihrer Komplexität ohne Presse und Rundfunk, ohne journalistische Aufbereitung und Systematisierung kaum zu verstehen. All das wäre nicht als irgendwie geordnete Einheit erlebbar.

Diese Einheit aber braucht eine Mitte, einen Ort und eine institutionelle Entsprechung wie es das Parlament als Repräsentationsorgan des Volkes ist. Diese Einheit im Medium einer institutionalisierten öffentlichen Meinung wird aber ihrerseits zu einer rechtlich zwar verbindlichen und auch dem praktischen Erwartungsverhalten der Bürger noch entsprechenden, aber in Teilbereichen schon nur noch fiktiven Vorstellung.

III. Erosionen der Pressefreiheit

Lassen sie mich einige Punkte ansprechen, die manchen Verfechter der These von der Presse als der Mitte, als kommunikativer Ort der Demokratie in Zweifel ziehen. Die Pressefreiheit ist in Deutschland nicht durch Zensur, durch autokratische Mächte bedroht, eher kann man Erosionen feststellen oder Merkmale eines deutlichen Wandels der Bedingungen für die freie Presse diagnostizieren. Einmal taucht die Frage auf, ob die räumlichen Vorstellungen von Zentralität überhaupt noch der Realität entsprechen, wenn die gesellschaftliche Entwicklung solche räumlichen Zurechnungsmuster noch nicht einmal mehr als Metapher erlaubt.

1. Die in der Architektur des Plenarsaals des Deutschen Bundestages wie auch vieler Landtage repräsentierte Mitte kämpft mit ihrer Repräsentationsvorstellung gegen die Wirklichkeit des Regierens in Netzwerken.

Die dauerhafte Verbindung von Staaten in internationalen Organisationen und ein diplomatisch-gubernativ geprägtes Regierungssystem des ausgehandelten Konsenses ändert die Herrschaftsbasis für das demokratische Modell.[4] Die von Regierungsvertretern überstaatlich und föderal beherrschten Verhandlungsrunden prägen den Stil. Sie sind verflochten mit  wirtschaftlichen und politischen Interessenverbänden, es geht um unaufhörliches Abstimmen und Kompromisse, ist aber überwiegend nur noch „reagierendes Regieren“, mal getrieben durch Systemstörungen, mal durch öffentlichen Meinungsdruck oder innere Interessenkonflikte. Das kann man beklagen, aber kaum ändern. Dafür gibt es tiefere Gründe in den Legitimationsgrundlagen moderner Demokratien, in dem Konzept geöffneter Staaten, in der Wirkungsweise der sozialen Marktwirtschaft. Es geht eben um die vernünftige Anpassung der Politik an den Entwicklungspfad der sich (wieder) globalisierenden Wirtschaft, es geht um die Fortsetzung eines sozialen Interessenausgleichs (Sozialpartnerschaft). All das verstärkt die Tendenz zum Regieren jenseits des klassischen Staates und die Verlagerung in „polyzentrische Netzwerke“[5]. Doch wie will man eine solche komplexe, Soziologen reden sogar von „hyperkomplexe“, Wirklichkeit in einer Zeitung abbilden, ohne zu verzerren?

Für die traditionell national aufgestellten öffentlichen Meinungen, die auch nach mehr als einem halben Jahrhundert europäischer Integration vorherrschend sind, gerät etwa die Internationalisierung des Regierungsstils zu einem Dilemma, weil keine Bühne der Mitte nach einem einfachen Schematismus von Regierung und Opposition beobachtet werden kann. Berichtet werden können häufig nur die Erfolge oder die Fehlschläge von Regierungskonferenzen[6]. Damit wird die öffentliche Meinung auf das Fortschrittsparadigma von Verhandlungssystemen eingestellt und inhaltlich bestimmt. Presse und Rundfunk können sachlich nur noch beschränkt „räsonieren“, sachlich gut begründete Kritik üben. Sie neigen dabei dazu, die Komplexität recht drastisch zu reduzieren und nach symbolischen Tributen zu verlangen. Was bleibt auch ihnen auch anderes? Kann die Presse überhaupt noch eine systematische Opposition der Themen formulieren? Doch man könnte auch vorsichtig rückfragen: Wann war es je anders?

2. Wie ist es jenseits der nationalen Bühnen bei den Regional- und Lokalzeitungen?

Herrscht hier noch die Vielfalt der Druckwerke und existieren überhaupt noch die politischen Milieus, die eine Auseinandersetzung ermöglichen und politische Alternativen sich in Wählbarkeiten, jenseits personaler Profile rational zurechnen lassen? Das führt mich zur zweiten Sorge. Werden wir in Zukunft es mit einer Presse zu tun haben, die sachliche Alternativen gar nicht mehr ausreichend zu erkennen vermag, wo manchmal subtile Sachkenntnis, die Zeit, die Ressourcen für Recherche, aber mehr noch die objektive Möglichkeit fehlt, etwas treffend auf den Punkt zu bringen? Hat sich nicht über die Presse eine Tendenz ausgebreitet, mit Stereotypen einer einfachen politischen Moral die Welt zu beobachten und damit die Irrtumsanfälligkeit zur erhöhen, weil schnell in einem Klima politisch korrekter Glaubensgewissheiten alles Mögliche für alternativlos gehalten wird, zum Beispiel das, was Politiker jeweils als Sachzwang erleben oder als solchen ausgeben.

3. Und schließlich ein dritter Punkt, der über die Rolle der Presse als Zentrum der Demokratie neu nachdenken lässt. Es geht um die gerade zwei Jahrzehnte alte Umwälzung der Informationskultur.

Die technische Entwicklung vom Druckwerk zum Bildschirm, von der Ordnung der publizistischen Verantwortungshierarchie hin zu einer dezentralisierten Netzwerkkommunikation mit mehr spontaner denn strategischer Ordnungsbildung, erweitert den Informationshorizont, verdichtet Kommunikation, nimmt ihr aber auch die Möglichkeit zur Mitte, beschleunigt und ent-zeitlicht zugleich, wertet professionalisierte Zugänge ab, macht verlegerischen und journalistischen Berufsethos in der Tendenz scheinbar entbehrlich. Die dezentralisierte global angelegte Netzöffentlichkeit entfaltet zwar wenig strukturelle Sicherheiten für Validität, kompensiert dies aber ein ganzes Stück weit durch Offenheit, Zugänglichkeit und Vielheit der Interaktionen, die zwar häufig ohne individualisierbare Verantwortungszurechnungen sind, aber in der Summe ein beachtliches kritisches Kontrollpotential ergeben.

Udo di Fabio bei seiner Rede zum Festakt der Saarbrücker Zeitung
Udo di Fabio bei seiner Rede zum Festakt der Saarbrücker Zeitung

Vor ein paar Jahrzehnten hat man die Zukunft der „Vierten Gewalt“ im Fernsehen gesehen: ein Satz, der doppeldeutig ist. Das Fernsehen war vor allem in der ersten Phase seiner Massenverbreitung mehr noch als der Hörfunk besonders einflussreich im Prozess der öffentlichen Meinungsbildung. Seit den sechziger Jahren schien nicht mehr der Zeitungskommentar die öffentliche Meinung zu prägen, sondern die Suggestionskraft von Bildern in Nachrichten oder die geschickt mit kommentierten Erklärungen unterlegten Reportagen von Nachrichtenmagazinen. Damals wurde für die gedruckte Presse der Untergang vorausgesagt, ebenso wie heute im Blick auf das Internet.

 

Die Macht des Fernsehens, auch seine Kraft, Bildungs- und Aufklärungsgehalte zu prägen, schien so stark, dass man schon aus Furcht vor Missbrauch in vielen Staaten eine besondere gesellschaftliche Verfügungsstruktur für den Rundfunk vorsah, die als öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland bekannt wurde und für jeden heute 50jährigen die erste mediale Erfahrungswelt präfiguriert hat[7].

Damit wurde die „Vierte Gewalt“ in der sich entfaltenden deutschen Demokratie erst richtig wirksam, weil ganz breite Schichten an die öffentliche Diskussion angeschlossen wurden, auch wenn sogleich die Bildungseliten vor der Verflachung des Denkens durch Fernsehkonsum warnten und ostentativ zur Qualitätspresse griffen. Vielleicht hat das zum Fortbestand der Presse beigetragen, und könnte nicht heute durch das Vorbild solcher Eliten auch junge Leute, auch welchem technischen Format auch immer der Presse wieder nähergebracht werden? Das Fernsehen jedenfalls hat die Presse nicht verdrängt, aber in spezifischer Weise herausgefordert und verändert, so wie es heute das Internet tut. Die Presse, eigentlich immer zur Schnelligkeit verdammt, muss seitdem mit den schnellen Bildern und Zurufen mithalten und noch einmal Tempo zulegen.

Die privatwirtschaftliche Presse und der öffentlich-rechtliche Rundfunk waren bis in die achtziger Jahre hinein die eigentliche duale Struktur der öffentlichen Meinung. Aber der öffentlich-rechtliche Rundfunkzuschnitt bewirkte auch einen Funktions- und Gestaltwandel des demokratischen Prozesses. In plural besetzten Rundfunkgremien konnten zwar Parteien mit akzentuierter Mehrheitsposition durchaus ihre Gefolgsleute durchsetzen, aber das hat der freien Berichterstattung wenig Abbruch getan.

Aber vielleicht ist der personelle Kompromiss neben den veränderten Erwartungshaltungen der Bürger ein Grund dafür, dass der Stil des Fernsehens sich wegbewegte vom scharfzüngigen Kommentar und von der bohrend-gekonnten Politikerbefragung. Heute geht es mehr um bebilderte Berichte als eine intellektuelle Polarisierung, die geeignet wäre, für handfeste Konsequenzen im Regierungs-Oppositions-Dualismus zu sorgen.

 

IV. Der Streit der öffentlich-Rechtlichen und der privaten Medien um die Positionierung im Internet-Zeitalter

Die Parallelentwicklung von Presse und Rundfunk ist ein Beispiel für einen Strukturwandel, der die Grundlagen der Demokratie betrifft. Die Zulassung privaten Rundfunks und die digitale Sattelitentechnik veränderten seit den achtziger Jahren den technisch vermittelten Kommunikationshorizont derart nachhaltig wie später nur die Verbreitung des Internetzugangs. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk geriet in die Defensive, die Gebührenpflicht, der Bildungs- und Vielfaltauftrag wirken seitdem für manchen Kritiker wie Anachronismen aus der Frühzeit der Bonner Republik. Aus dieser Defensive kann der Rundfunk sich wohl nicht mehr befreien, weil ein rein kommerzielles Privatfernsehen eine ganz andere Sensorik, ganz andere Fähigkeiten ausbilden muss, um den lukrativen Massengeschmack zu treffen. Die wenig schmeichelhaften Vorstellungen, Länder wie Deutschland seien ein Freizeitpark, eine Unterhaltungsgesellschaft, das Land verfalle in seinem Bildungs- und Sittlichkeitsniveau, erinnere womöglich an die Zeiten der Verfallsphase der römischen Republik: Solche Befunde sind auch mehr oder minder gelungene Reaktionen auf jene Unterhaltungsoffensive, die mit der Aufnahme des Sendebetriebes der ersten privaten Rundfunkanbieter begann, und die verdeckt, dass dieses Land weiter hart arbeitet, bevor seine Bürger sich entspannen.

Erst von da ab, also unter dem übergroßen Druck des Imperativs eingängiger Unterhaltung wurden Funktionsdefizite der Medien zum größeren Thema. Denn die Gesellschaft verlor ein Stück weit im Dickicht der vielen Kanäle, der Inflation der Werbebotschaften und des Zappings ihre Mitte, verlor mit der Infantilisierung beliebter Sendeformate auch ein Stück ihres Ernstes, und zwar nicht nur ihres gewiss entbehrlichen Bierernstes.

Die öffentlich-rechtlichen Programme mussten konkurrieren, also um Einschaltquoten kämpfen, weil sie in einer Zwickmühle sich befinden: Entweder sie bleiben ambitioniert und auf Niveau, dann fährt der Zug des in Richtung Private und zurück bleibt ein zu teures Nischenfernsehen für Senioren und Bildungsbürger, das wegen seiner fehlenden Reichweite, d.h. wegen Quantitätsdefiziten entbehrlich würde. Oder aber der öffentliche Rundfunk mischt als Konkurrent von RTL und Co mit, gleicht sich in Sendeformaten an und macht sich damit dann aber qualitativ womöglich irgendwann überflüssig. Aus dieser Zwickmühle heraus betrachten die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten das Internet nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Chance mit ihren erheblichen investiven Mitteln nicht nur besser als private Rundfunkanbieter dazustehen, sondern auch der privaten Presse Konkurrenz zu machen. Eine solche Konkurrenz rührt allerdings an Systemfragen, weil die Presse ihren besonderen Eigensinn und ihre Nähe zum Bürger gerade merkantil als Nähe zum Käufer, Leser und Werbekunden bestimmen muss, während öffentlich-rechtlicher, gebührenfinanzierter Rundfunk viel von der gewiss guten Tradition eines aufgeklärten Etatismus mit sich führt. Beide Traditionsstränge bringen in einer freien Gesellschaft ganz ähnliche und durchaus vergleichbare Ergebnisse hervor, aber dahinter stehen doch auch andere Gesetzmäßigkeiten, Denk- und Handlungsmuster, mitunter auch ganz andere finanzielle Handlungsmöglichkeiten.

Hinzu kommt, dass die technische Fusion der Unterhaltungs- und Informationswege zu Angebotspaketen führt, wie sie jetzt schon Telekommunikationsfirmen, die Produzenten von interaktiven multifunktionalen Unterhaltungsgeräten und Software im Verbund anbieten. Rundfunk bietet im Internet längst auch das lesbare Wort an, während ein Nachrichtenmagazin mit dem 24-Stunden-live-stream sich vielleicht einem Fernsehsender anverwandelt. Damit muss nicht unbedingt der Trend verstärkt werden, die Bildung der öffentlichen Meinung von sichtbaren Institutionen und professionellen Journalismus abzulösen und mehr dem vernetzten Zufallsprinzip individueller Disposition zu überlassen: Vielmehr könnten Rundfunk und Presse im Internet die Leuchttürme geordneter und hoffentlich gut recherchierter Information werden, die auch die Blogger und Netzwerker brauchen, um gemeinsame Themen öffentlicher Art behandeln zu können.

Das Recht – also Gesetzgebung, Aufsichtsbehörden und Gerichte – wird die Kommerzialisierung, Änderungen im journalistischen Verhalten, Konzentrationsbewegungen und technische Grenzüberschreitungen von Rundfunk, Presse und Telekommumikation ebenso wie den Schutz des Urheberrechts, des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts und die Erhaltung der Meinungsfreiheit in den Griff bekommen müssen.

Exponenten der Wirtschaft, die auf der Suche nach Stiftungszwecken sind, sollten einmal überlegen, welchen Beitrag sie zur Erhaltung einer lebendigen und vielfältigen Qualitätspresse leisten könnten.

Aber eine Gesellschaft, die sich als Demokratie entwirft und in der sich jeder Politiker der Urteilskraft der öffentlichen Meinung unterwirft, sollte auch überlegen, mit welchen edukatorischen Ansatz Schul- und Bildungssystem die Kulturtechnik des Lesens überhaupt und des Zeitungslesens pflegen wollen und wie der selbstbestimmte Umgang mit technischen Kommunikationsformaten aller Art gefördert werden kann.

Junge Menschen sollten nicht nur als diejenigen betrachtet werden, die sich allein von Unterhaltungsoberflächen beherrschen lassen, sie sollten auch als Akteure gefördert werden, die die mediale Entwicklung nutzen für die Beurteilung einer neuen Welt polyzentrischer Herrschaftsarchitektur und medialer Vernetzung.

Aber auch wenn das noch besser gelänge als heute, so bliebe doch die Frage, ob nicht an die Stelle der klassischen Presse ein eigenwilliges wirtschaftlich orientiertes Subsystem getreten ist, das jenen hohen Anforderungen an die Repräsentation der Einheit der Gesellschaft kaum mehr zu genügen vermag, es sei denn im Sinne bloßer Fiktion.

Gerade die nationalen und internationalen Entwicklungen einer neuen dezentralen Informationskultur lassen aber auch die traditionelle Regionalpresse wichtiger werden. Journalisten und Verleger, Stifter, engagierte Bürger, Leser und Inserenten werden auch regional ihre Zeitung pflegen, weil sie eine ganz wesentliche Quelle der bürgerlichen Zivilgesellschaft ist, auch bei Zeitungen, die von einem Fürsten als Wochenblatt den Bürgern gleichsam geschenkt wurde.

Die freie Presse steht für die Geburt einer bürgerlichen Gesellschaft, aus der Selbstverwaltung, Demokratie und sozialer Rechtsstaat wuchsen.

Wenn die Bürger eine solche Sozietät der Freiheit und Gleichheit weiter wollen, wird für sie die Presse in all ihren Formaten und technisch neuen Kleidern unentbehrlich sein, weil hier eine kommunikative Mitte zur Definition des Gemeinwohls besteht, ohne die es nicht geht.

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* Hervorhebungen und Zwischenüberschriften redaktionell bearbeitet

Quellenhinweise:

[1] Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien,  3. Auflage 2004.

[2] Verbreitet wurde der Sprachgebrauch durch Thomas Carlyle (wobei die drei ersten Gewaylten Parlamentsfunktionen meinten): „Burke said there were Three Estates in Parliament; but, in the Reporters‘ Gallery yonder, there sat a Fourth Estate more important far than they all. It is not a figure of speech, or a witty saying; it is a literal fact, — very momentous to us in these times. Literature is our Parliament too. Printing, which comes necessarily out of Writing, I say often, is equivalent to Democracy: invent Writing, Democracy is inevitable. Writing brings Printing; brings universal everyday extempore Printing, as we see at present. Whoever can speak, speaking now to the whole nation, becomes a power, a branch of government, with inalienable weight in law-making, in all acts of authority. It matters not what rank he has, what revenues or garnitures. the requisite thing is, that he have a tongue which others will listen to; this and nothing more is requisite. The nation is governed by all that has tongue in the nation: Democracy is virtually there. Add only, that whatsoever power exists will have itself, by and by, organized; working secretly under bandages, obscurations, obstructions, it will never rest till it get to work free, unencumbered, visible to all. Democracy virtually extant will insist on becoming palpably extant.“ The Hero as Man of Letters. Johnsonm, Rousseau, Burns, Lecture V, May 19, 1840.

[3] Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, hält das in kantischer Terminologie für eine transzendentale Illusion, S. 14.

[4] Schon in den fünfziger Jahren, noch bevor die europäische Integration richtig Fahrt aufnahm, noch bevor der UN-Sicherheitsrat seine heute vertraute Stellung erwarb, noch bevor die Welthandelsrunden (GATT/WTO) verstetigt wurden, diagnostizierte die bundesrepublikanische Politikwissenschaft mit Wilhelm Hennis an der Spitze die Erosion der Opposition, das „Versickern“ der ernsthaften Opposition, die Herausbildung eines konsensual weitgehend befriedeten Blocksystems, Nivellierung und Egalisierung. Aufgegriffen vom zurückgezogenen Sensor kommender Dinge Carl Schmitt, der Otto Kirchheim und vor allemHennis, Gesellschaft – Staat – Erziehung 1957, S. 205 ff. zitiert, siehe den Nachtrag von 1958 zur Abhandlung „Weiterentwicklung des totalen Staates in Deutschland“, in: Carl Schmitt, Verfassungsrechtliche Aufsätze aus den Jahren 1924-1954, 4. Auflage 2003, S. 366. Siehe auch Wilhelm Hennis, Ende der Politik – Krisis der Politik in der Neuzeit, 1971, in: Merkur 25, 509 ff.

[5] Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates, 1998, der eine Tendenz zur thematischen Fragmentierung der Politik hervorhebt, S. 294 ff.; Di Fabio, ZES 3-4 2009, 666 ff.

[6] Anstelle des binären Schematismus von Regierung und Opposition in nationalen Parlamenten trat verstärkt eine ganz neue binäre Schematisierung nach dem Muster „Verhandlungsergebnis oder kein (resp. unzureichendes) Verhandlungsergebnis“. Di Fabio, ZES 3-4 2009, 666 ff.

[7] Von dieser Prämisse aus erklärt sich die über Jahrzehnte fortgeschriebene Rundfunkrechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. BVerfGE 12, 205 ff.; 31, 314 ff.; 57, 295 ff.; 73, 118 ff.; 74, 297 ff.; 83, 238 ff.; 87, 181 ff.; 92, 203 ff.; 97, 228 ff.; 97, 298 ff.; 119, 181 ff.; 121, 30 ff.

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