einerseits…andererseits: Geht’s bei True Crime überhaupt noch um Journalismus?

Fotos: Journalistisches Seminar (Schultz), FUNKE Foto Services/Reto Klar (Biedenweg)
Der Impuls
Pascal Biedenweg, Digitalchef der „Berliner Morgenpost“, schrieb in „Morgenpost Späti“:
„In unserer neuen True-Crime-Serie ‚Das dunkle Berlin‘ erzählen wir die spektakulärsten, schockierendsten und manchmal einfach unfassbaren Kriminalfälle aus der Hauptstadt. Geschichten, bei denen selbst abgehärtete Berliner kurz überlegen, ob sie wirklich noch ohne Licht im Hausflur hochlaufen wollen.Warum wir das machen? Weil sich an kaum einem Ort der Republik so viele Abgründe auftun wiehier – dicht an dicht zwischen Altbauchic und Spätikasse. Und weil diese Stadt seit jeher Bühne für Menschen ist, die man in keiner Netflix-Doku erfinden dürfte. Jede Folge unserer neuen True-Crime-Serie zeigt, wie nah Drama und Alltag manchmal beieinander liegen. Also: Kaffee stark, Nervenstärker – und los geht’s. Wir bringen die spannendsten Fälle zurück ins Licht. Oder besser: ins Zwielicht. Viel Spaß beim Lesen! Und keine Sorge: Das einzig wirklich Gefährliche hier ist die Gefahr, sich festzulesen.“
Der Kommentar
Journalistische Relevanz? Vermisstenanzeige ist raus
Während die einen in Recherchen mühsam zu Gewalt und Missständen klotzen, kleckern andere mit True Crime und recyclen Leid zum billigen Klick-Content – ungeachtet der Auswirkungen. Der Boom der „wahren Verbrechen“ hat mit gutem Journalismus nur selten zu tun.
Text: Tanjev Schultz
Drama, darum geht es. Thrill, Kick, Grusel.Wie sich die „Berliner Morgenpost“ an die Menschen in der Hauptstadt heranschmeißt (hach, so schräge Typen in Berlin, einige zauberhaft kriminell), ist bezeichnend, weil es unverblümt mitteilt: Um Journalismus geht es nicht. Die Zeitung will nur spielen, will unterhalten. Und – heiliger Größenwahn – mehr bieten als Netflix! Sie will die Klicks, will die Abos. Aber warum schult die Redaktion nicht einfach um? Werdet Krimi-Influencerin, Drehbuchschreiber, Hollywood-Wannabe– und haltet euch vom Journalismus fern. Es ist bezeichnend, dass Redaktionen unablässig jammern, wie dürr ihre Ressourcen sind, wie schwer es ihnen fällt, genügend Recherchekraft aufzubauen, obwohl der arme Journalismus, zumal auf der lokalen Ebene, doch so wichtig sei, so zentral für die Demokratie, für die Meinungsbildung, bla, bla, ba. Womit verbringen und verplempern die Kolleginnen und Kollegen ihre Zeit? Leitende Redakteure ergehen sich in PR-Lyrik, um superspannende, nervenkitzelnde True-Crime-Serien zu bewerben. Reporterinnen steigen in die Archive (sitzen am Desk, scrollen olle Artikel) und werfen ihre Funde in einen journalistischen Schnellkochtopf, in den sie noch ein bisschen modernes Storytelling kippen. Redakteure lassen die KI Vorschläge für eine Überschrift generieren, in der unbedingt die Wörter „Mord“, „Axt“, „rätselhaft“ oder „kaltblütig“ stehen sollten. Gute Nacht.
Die Kolumne“einerseits…andererseits“

„Süddeutschen Zeitung“. Zu seinen Schwerpunkten in Lehre und Forschung gehören Qualität und Ethik des Journalismus.
Foto: JS Uni Mainz
Es sitzt tief drin und geht nicht weg: „einerseits“ und „andererseits“ haben im Journalismus nicht viel verloren. Entscheide dich, sei stark in deinem Urteil – und bitte kein Wischiwaschi! So lernen es viele Journalistinnen und Journalisten in ihrer Ausbildung. Wir meinen: Schluss damit. Gerade medienethische Debatten brauchen mehr Mut zur Mehrdeutigkeit, eine größere Freude an der Differenzierung – und keine Kapitulation vor der Komplexität. Die Kolumne „einerseits … andererseits“ greift deshalb Impulse aus der Branche, von Expertinnen und Andersdenkenden auf. Und arbeitet sich im Kommentar nicht an den schwächsten, sondern an den stärksten Argumenten der anderen ab. Weil wir es komplex mögen, bitten wir den Impulsgeber oder die Impulsgeberin vor der Veröffentlichung um eine Reaktion – die wir ebenfalls abbilden.
Der True-Crime-Boom wird medienökonomisch angeheizt, nicht journalistisch. Zweifellos gibt es innerhalb dieses Booms einzelne gute Beiträge, verdienstvolle Recherchen, die tatsächlich Neues und Wichtiges über ungeklärte Kriminalfälle zutage fördern, und feinfühlige Stücke, die den Betroffenen gerecht werden. Insgesamt ist der Boom jedoch sehr fragwürdig und hat mit Journalismus oft nur noch wenig oder gar nichts mehr zu tun. Da tingeln Kolleginnen und Kollegen durch die Lande und präsentieren in Bühnenshows die Welt des Verbrechens, als seien sie Stand-up-Comedians. Da werden längst vergessene und zu Recht der Traumabewältigung und der Resozialisierung überlassene Fälle wieder hervorgezerrt, redaktionell aufgewärmt und dem Voyeurismus-bereiten Publikum in allen aufdringlichen Details aufgetischt. Journalistische Relevanz? Vermisstenanzeige ist raus.
Über Kriminalfälle zu berichten, ist eine sinnvolle Aufgabe, solange dies in einem angemessenen Rahmen geschieht. Für True-Crime-Beiträge sollten strenge Standards gelten. Redaktionen müssen diese Fragen stellen, bevor sie einen Fall neu aufrollen: Ist dieser Fall auch in der Gegenwart noch bedeutsam? Was ist das Aktuelle und Relevante? Was ist mit den Betroffenen (Opfern, Angehörigen, Tätern) – können, wollen, sollten sie etwas beitragen? Werden sie über die Recherchen und die Stücke, die sie böse überraschen könnten, rechtzeitig informiert? Und gesellschaftlich betrachtet: Welches Bild von Kriminalität erzeugen die Medien mit ihrer Auswahl? […]
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Was Tanjev Schultz zu den Bedingungen für gute Kriminalberichterstattung zu sagen hat, welches Wissen die Medienforschung zu den Effekten medialer Gewalt und Kriminalitätsdarstellungen hat und wie Pascal Blendenweg auf Schultz‘ Kommentar reagiert, lesen Sie im neuen „medium magazin“ 06/25
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Lesen Sie jetzt außerdem im medium magazin 06/25:
JdJ 2025: Die Journalistinnen des Jahres. Isabell Beer und Isabel Ströh berichten im Interview von ihren Recherchen in Vergewaltiger-Netzwerken. Alle Journalistinnen & Journalisten des Jahres 2025. Die Ausgezeichneten in sämtlichen Kategorien. Die Unbestechliche. Cathrin Kahlweit erhält den Preis für ihr Lebenswerk.
Medien und Beruf: Top 30 bis 30. So war die Konferenz in München. Meinen die das ernst? Medienschaffende prognostizieren das Jahr 2026 Monat für Monat. „Ein schreckliches Jahr“ für den Journalismus – das sagt Bernhard Pörksen über 2025. Warum sich der Journalismus nicht selbst retten kann, erklärt der Medienforscher im Zukunfts-Interview.
Rubriken: Kurz & bündig und Köpfe & Karrieren. Was sich in der Branche tut. Im Gedenken. Wer 2025 von uns ging. Kiosk. Diese Medien suchen Freie. Presserecht. Wie Medien von Demos berichten und rechtliche Risiken vermeiden können. Innovationscheck. Was und wer hinter „Gerda“ aus Gera steckt. Kurznachrichtendienst. Gavin Karlmeier kommentiert, was sich bei X und Co tut. Einerseits … andererseits. Geht’s bei True Crime überhaupt noch um Journalismus? Tanjev Schultz kontert Pascal Biedenweg. Der reagiert. Fragebogen. Friederike Hofmann: „Keine Entscheidung gegen die ARD …“
Praxis: Sie fanden Jan Marsalek. Weltweit per Haftbefehl gesucht, spürten ihn Journalisten in Moskau auf. Werkstatt-Gespräch mit Jörg Diehl aus dem „Team des Jahres“. 8 Hacks für Telegram. Im „Darknet für die Hosentasche“ finden sich starke Geschichten und Quellen – wenn man weiß, wie. Toolbox. Schick mal schnell: Dateien und Texte auf kurze Distanz von Gerät zu Gerät senden – ganz ohne Kabel und Plattformen.
Um Praxis geht es auch in der neuen „Journalisten-Werkstatt“ von Marius Elfering: Die Langzeit-Recherche. Die „Werkstatt“ liegt im „medium magazin“-Abonnement gratis bei. Einzeln ist sie zudem im Shop erhältlich.Geht’s bei True Crime überhaupt
noch um Journalismus?
