„Wir konnten uns nicht einfach zurücklehnen, wenn Frauen sediert und vergewaltigt werden“

 

Isabell Beer und Isabel Ströh deckten ein Netzwerk mit Tausenden von Männern auf, in dem Vergewaltigungen geplant, gefilmt und verbreitet werden. Wie die Investigativjournalistinnen bei ihrer Recherche vorgegangen sind. Zum vollständigen Interview mit den Journalistinnen des Jahres 2025: medium magazin 06/2025.

Interview: Frederik von Castell & Annette Milz Fotos: Gesche Jäger


Sie sind die „Journalistinnen des Jahres 2025“: Isabell Beer und Isabel Ströh. Foto: Gesche Jäger

Was als einzelne Beobach­tung auf einer Porno-­Plattform begann, führte Isabell Beer und Isabel Ströh tief in ein Netzwerk, in dem Vergewaltiger sich anstacheln und reale Gewalt teilen. Die Strg_F-Investigativjournalistinnen infil­trierten die Szene undercover, dokumentierten Beweise, sprachen mit Betroffenen und informierten Behörden, als akute Gefahr drohte. Unsere Jury wählte die beiden zu den „Journalistinnen des Jahres 2025“. Vor Beginn des Interviews haben wir das Duzen vereinbart.

Ausgezeichnet werdet ihr für die beiden Strg_F-Dokus über „Das Vergewaltiger-Netzwerk“ sowie weitere Beiträge dazu seit Ende 2024. Der Beginn der Recherche liegt aber viel weiter zurück – wann und wie habt ihr losgelegt?
Isabel Ströh: Zunächst war das Isabell ganz allein.
Isabell Beer: Ich war für eine andere Recherche auf Pornoseiten unterwegs. Dabei stieß ich auf Videos, verwackelte Szenen, die sexuelle Handlungen an bewusstlos wirkenden Frauen zeigten. Ich habe mich da gefragt: Kann es wirklich sein, dass auf frei zugänglichen Pornoseiten Videos geteilt werden, die Vergewaltigungen von wehrlosen Frauen zeigen? Nach allem, was da zu sehen war, sprach viel dafür, dass es sich nicht um inszenierte Pornos, sondern um echte Gewalt handelt.

Was hast du dann getan?
Beer: Ich habe 2020 auf mehreren dieser Seiten Profile erstellt, um später weiter in die Recherche einsteigen zu können.

Warum erst später?
Beer: In solchen Communitys stößt ein brandneuer Account schnell auf Misstrauen. 2022 habe ich mein Undercover-Profil mit eigenen Inhalten befüllt: Auf diesen Fotos sah es aus, als wäre eine Frau nach einer Hausparty, stark betrunken auf dem Boden liegend, heimlich fotografiert worden.

ISABELL BEER,
Jahrgang 1994, arbeitet als ­Investigativjournalistin für Strg_F (NDR/Funk). Ihr Hauptgebiet sind Online-Recherchen zu sexualisierter Gewalt, Drogen und Cyber-­Kriminalität, zum Teil auch undercover. Isabell Beer ist ohne Studium in den Journalismus eingestiegen und hat ihr Volontariat beim „Berliner Kurier“ absolviert.
Foto: Gesche Jäger

Diese Frau auf den Fotos bist du.
Beer: Ja. Ich wusste, dass ich Bilder brauchte, um Zugang in diese Community zu bekommen. Die Frage war: Wie weit muss, wie weit kann man gehen? Denn man soll, so sagt es auch der Pressekodex, nur dann undercover recherchieren, wenn eine Information von öffentlichem Interesse und auf anderen Wegen nicht zugänglich ist. Beides traf hier zu.

Wie hast du die Bilder gestellt?
Beer: Ich habe eine Kulisse aufgebaut, mit leeren Bierflaschen, Essensresten und einem Eimer, der aussieht, als hätte ich mich gerade erbrochen. In dieses Setting habe ich mich auf den Boden gelegt und die Haare vors Gesicht drapiert. Ich hatte mir aber vorher klare Grenzen überlegt: Ich war bekleidet und es war nichts zu erkennen, was mich hätte identifizieren können.

Wie lange dauerte es, bis das wahrgenommen wurde?
Beer: Das passierte schnell nach dem Upload. Da kamen direkt Kommentare aus der Community, die diskutierten, was man „mit der“ alles hätte machen sollen. Die haben sich regelrecht angestachelt untereinander. Manche fragten, ob „ich“, also der Mann, der die heimlichen Bilder geschossen hat, Drogen benutzt hätte. Andere erklärten in Nachrichten, wie man Frauen betäuben kann.

Wie bist du damit umgegangen?
Beer: Ich wusste ja, dass ich selbst die volle Kontrolle über diese Bilder hatte, anders als die wirklich Betroffenen. Die Fotos erfüllten einen Zweck: Die Nutzer vertrauten uns.

Ab hier hast du also nicht allein weitergemacht, oder?
Beer: Genau. Ich bin 2023 von Funk zum NDR gewechselt. Dort habe ich Isabel wiedergetroffen, wir hatten schon mal bei einer anderen Recherche miteinander zu tun und das passte gut.
Ströh: Wir versuchen bei Strg_F, die Leute mitzunehmen bei möglichst vielen Rechercheschritten. Deshalb kommt es bei uns im Großraumbüro öfter vor, dass jemand seine Arbeit am Laptop mit der Kamera dokumentieren will. So war das hier auch: Isabell fragte mich, ob ich sie kurz filmen kann, und erklärte mir, woran sie gerade arbeitet. Da dachte ich schon: What the fuck! Ich fand das richtig krass, dass noch nie jemand über diese Sachen berichtet hat, obwohl die Videos auf Pornoseiten frei zugänglich sind. Daraufhin wollte ich gerne in die Recherche einsteigen, zumal ich auch schon zu anderen Themen sexualisierter Gewalt gearbeitet hatte …
Beer: … und wir sehr schnell gemerkt haben: Das matcht. Dann ging es richtig los.

Was ist passiert

[…]

Wie haben Beer und Ströh weitergemacht? Wer hat sie unterstützt? Welche Grenzen haben Sie sich im Umgang mit den Tätern gesetzt? Wie gehen Sie mit der Gefahr von Nachahmern um?

Zum vollständigen Interview mit den Journalistinnen des Jahres 2025: medium magazin 06/2025 

[…]

Ihr zeigt auch keine Ausschnitte von sexuellen Handlungen, verfremdet die Videos sogar per Blurring komplett – im Gegensatz zu anderen, die oft nur Teile verpixeln. Warum habt ihr das so rigoros entschieden?
Beer: Wir haben lange abgewogen, wie viel nötig ist, um das Ausmaß authentisch zeigen zu können. Es gab unfassbar schreckliche Aufnahmen, schwerste Vergewaltigungen bewusstloser Frauen. Frauen, die womöglich bis heute nichts davon wissen. Wir haben entschieden: Bewegtbild von Vergewaltigungen werden wir gar nicht zeigen, auch nicht geblurrt. Die Redaktion hat das unterstützt.
Ströh: Man muss keine Vergewaltigungsvideos zeigen, um zu beweisen, dass es sie gibt. Viel eindrücklicher fanden wir die Kommentare, Chats und Konversationen zwischen Nutzern, die manchmal sogar live auf Anweisungen anderer Nutzer eingegangen sind. Das sprach für sich und das haben wir dokumentiert und eine Auswahl in unseren Filmen gezeigt. Schwere Beleidigungen oder sehr herablassende Begriffe in den Chats und Kommentaren haben wir teilweise gepiept und in den Screenshots geblurrt.

Isabel Ströh, Jahrgang 1993, ist Investigativjournalistin und arbeitet unter anderem für Strg_F (NDR/Funk) und Panorama (ARD). Ihre journalistischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen sexualisierte Gewalt, Cyber­crime und Gesundheitspolitik. Isabel Ströh hat Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften in Kiel studiert und beim NDR volontiert. Foto: Gesche Jäger
ISABEL STRÖH,
Jahrgang 1993, ist Investigativjournalistin und arbeitet unter anderem für Strg_F (NDR/Funk) und Panorama (ARD). Ihre journalistischen Schwerpunkte liegen in den Bereichen sexualisierte Gewalt, Cyber­crime und Gesundheitspolitik.
Isabel Ströh hat Ernährungs- und Lebensmittelwissenschaften in Kiel studiert und beim NDR volontiert.
Foto: Gesche Jäger

Wie entscheidet man, was davon man zeigt oder vorliest – und was nicht?
Beer: Am besten im Team, mit Kolleginnen und Kollegen, die mehr Abstand dazu haben. Ich habe gemerkt, dass es mir zunehmend schwerfiel, einzuschätzen, wie etwas auf jemanden wirken würde, der davon noch nie gehört hat. Isabel und ich waren ja die ganze Zeit davon umgeben, wir haben Tausende Kommentare und Nachrichten dokumentiert. Im Schnitt sagte ein Kollege: „Okay, ab dem Zeitpunkt habe ich es verstanden. Ich muss nicht noch das nächste Beispiel sehen. Es reicht.“ Solche Einschätzungen waren sehr wertvoll.

Die Website motherless.com nennt ihr hingegen.
Ströh: Ja, weil Deutsche dort eine große Rolle spielen. Wir haben auch Telegram bewusst genannt …

… hattet ihr da keine Befürchtung, dass die URL neue Interessenten anzieht?
Beer: Wenn am Hamburger Hauptbahnhof Straftaten passieren, benennt man den Ort, auch wenn Leute das dort nachahmen könnten. Die Website wird sehr oft aus Deutschland aufgerufen, es gibt deutschsprachige Chats. Sie ist die Plattform für diese Inhalte, es geht hier auch um Verantwortung von Betreibern. Deshalb ist es wichtig, sie zu benennen. Und wer sich für so etwas interessiert, wird sie ohnehin finden.

Eine Frau, die ihr im Film „Marlene“ nennt, erfährt erst durch eure Recherche, dass ihr damaliger Ehemann sie über 15 Jahre hinweg betäubt und vergewaltigt hat. Wie kam es dazu – und wie seid ihr vorgegangen?
Beer: Marlene hat es nicht von uns erfahren, sondern von der Polizei bei der Hausdurchsuchung. Wir hatten bewusst keinen Kontakt zu Betroffenen aufgenommen, die womöglich noch nichts von den Taten wissen, auch weil Experten uns davon abgeraten haben, Betroffenen direkt zu sagen: „Wir haben Hinweise, dass Sie betäubt und vergewaltigt werden.“ Das ist Behördenaufgabe, das müssen Ermittler tun. Wir haben deshalb die Polizei auf den Fall per Presseanfrage aufmerksam gemacht. Erst bei der Durchsuchung über ein Jahr später erfuhr Marlene von unseren Recherchen. Danach erst kam es zum Kontakt.

[…]

Wie haben Beer und Ströh Marlenes Vertrauen erlangt? Wie haben sie sie auf die Veröffentlichung vorbereitet? Wie halten sie Kontakt zu ihr? Wie sind sie mit dem Material, auf dem Marlene zu sehen ist, umgegangen?  

Zum vollständigen Interview mit den Journalistinnen des Jahres 2025: medium magazin 06/2025 

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Isabell, du hast einmal gesagt: „Grundsätzlich arbeite ich nicht mit der Polizei zusammen.“ Während dieser Recherche habt ihr aber mit Presseanfragen der Polizei Hinweise gegeben – und später die Reaktionen der Behörden zum Thema des zweiten Films gemacht. Warum?
Beer: Im Fall Marlene hatten wir zunächst das BKA per Presseanfrage zu dem Vergewaltiger-Netzwerk kontaktiert und auf Accounts ihres Manns hingewiesen. Vom BKA hieß es, man werde die ­Hinweise an die Hamburger Polizei weiterleiten. Bei einem Anfangsverdacht dieser Dimension müssen Ermittler tätig werden, auch ohne Anzeige. Deshalb sind wir davon ausgegangen, dass bald Ermittlungen starten. Doch über ein Jahr später fanden wir im Profil ihres Partners ein neues Video. Als wir im September 2024 undercover nachfragten, bestätigte er, das sei seine Frau, und schrieb: „Ich bin grad dabei, meiner Stute was unterzumischen.“ In dem Moment war klar: Entweder wurde nicht ermittelt oder es passiert viel zu langsam. Wir haben erneut beim BKA angefragt, diesmal mit einem Screenshot der Nachricht. Wieder leiteten sie die Hinweise an die Polizei Hamburg weiter. Passiert ist aber erneut nichts – bis wir im Oktober 2024 direkt dort nachhakten.
Ströh: Die Pressestelle der Polizei Hamburg rief uns an: Man finde die Mail mit unseren Hinweisen nicht, die das BKA an die Polizei Hamburg weitergeleitet hatte. Man bat uns, sie erneut zu schicken. Das habe ich getan. Erst dann liefen Ermittlungen an. Damals wussten wir noch nicht, wer dafür verantwortlich ist. Später übernahm die Hamburger Polizei die Verantwortung dafür, dass beide Mails wahrscheinlich gelöscht wurden. Dazu ermittelt die Staatsanwaltschaft Hamburg inzwischen wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt.

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Welche Grenzen gab es in der Kommunikation mit der Behörden? Warum der Weg über Presseanfragen?

Zum vollständigen Interview mit den Journalistinnen des Jahres 2025: medium magazin 06/2025 

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Eine Zusammenarbeit war das nicht?
Ströh: Eine Presseanfrage mit Hinweisen an Ermittler ist für mich keine „Zusammenarbeit“. Wir hatten keine Quelle, die wir verraten hätten. Wir sind auf ein Netzwerk gestoßen, in dem lebensgefährliche Taten geplant werden.
Beer: Und da stellt sich auch die Frage: Ab wann wird das Nicht-Melden selbst strafbar – als unterlassene Hilfeleistung? Wir hätten uns nicht einfach zurücklehnen und beobachten können, wie eine Frau unter lebensgefährlicher Sedierung vergewaltigt werden soll, nur um später darüber zu berichten. Das wäre moralisch nicht vertretbar gewesen.

Bei solchen Entscheidungen möchte man nicht in eurer Haut stecken. Wie wurdet ihr juristisch, technisch – aber auch psychologisch – unterstützt?
Ströh: Juristisch haben wir beim NDR eine feste Anlaufstelle: Klaus Siekmann. Er begleitet uns bei heiklen Fragen, etwa, wann und wie wir Ermittlungsbehörden informieren. Technisch arbeiten wir mit gesonderten Recherche-Laptops, Tor-Browser, dem Betriebssystem Tails, eigenen Recherche-Handys und wechselnden Nummern – das Basis-Set einer Undercover-Recherche. Wir konnten jederzeit psychologisches Coaching über Funk in Anspruch nehmen und haben natürlich auch viel im Team gesprochen und gezielt Pausen gemacht. Dazu kommen Basics wie der Schutz persönlicher Daten, Melderegister-Sperre und keine Aufnahmen, die Rückschlüsse auf unsere Wohnorte zulassen.

[…]

Wie schafft man bei so einem heftigen Thema persönliche Distanz? Welche Techniken helfen konkret? Welche Rolle hat der Fall Gisèle Pelicot für eure Recherchen gespielt? Haben die Recherchen im Vergewaltiger-Netzwerk selbst etwas verändert? Welche Learnings ziehen Beer und Ströh aus der Recherche? Und was würden sie Einsteiger:innen empfehlen? Zum vollständigen Interview mit den Journalistinnen des Jahres 2025: medium magazin 06/2025 


Lesen Sie jetzt im medium magazin 06/25:

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