Kurznachrichtendienst: Inflation der Reichweite

Menschen über Social Media mit Journalismus zu erreichen, ist allen Medienschaffenden wichtig. Nur: Wann gilt eine Person überhaupt als erreicht? Was sich bei X und Co tut. 

Text: Gavin Karlmeier


Dass Reichweite auf Social Media allein nicht entscheidend sein sollte, ist eine Binse. Am Ende ist sie aber doch die Währung, mit der viele Redaktionen den Erfolg von Formaten und Bericht­erstattung messen. Stellt sich nur die Frage: Reichweite, was ist das eigentlich? Das wird immer schwieriger zu beantworten, denn: Views, Impressions, erreichte Personen, Aufrufe ab drei Sekunden – das Verständnis des für Medien so wichtigen Begriffs Reichweite wird durch soziale Netzwerke derzeit vollkommen verwässert.

Elon Musks Plattform X etwa weist seit Monaten Videoaufrufe gar nicht mehr aus, sondern nur noch, wie häufig begleitende Posts ausgespielt wurden. Für jemanden wie Tucker Carlson ist das toll – der kann nun sagen, dass seine als Interviews getarnten Hofierungsgespräche mit Superrechten Millionen Menschen erreicht hätten. Ganz anders zählt Youtube Abrufe von Videos: Die gelten bei Shorts erst ab drei Sekunden. So macht das auch Tiktok.

Instagram weist für Reels „Views“, was ebenfalls dreisekündige Aufrufe meint, aus. Das Meta-Netzwerk zeigt außerdem erreichte Personen an, genauso wie Facebook. Dort sind erreichte Personen tatsächlich einzigartige Konten, die einen Post gesehen haben. Die „Neuen“ wie Bluesky oder Mastodon wiederum weisen derartige Metriken gar nicht erst aus. LinkedIn dagegen überschüttet uns so lange mit Zahlen, bis wir gar nicht mehr arbeitsfähig sind. Es ist – wie so oft – ein reines Durcheinander. Mit Reichweiten bei Social Media ist es also, als würden sich sämtliche großen Wirtschaftsnationen dafür entscheiden, ihre Währungen nicht mehr nach Gegenwert, sondern nach Menge der ausgegebenen Banknoten zu bewerten – und alle anderen Staaten müssten nun damit umgehen. So erleben wir gerade eine wahre Reichweiteninflation, bei der alle, die dort Content veröffentlichen, das Nachsehen haben.


Reichweiten-Kennzahlen

Diese Begriffe sollte man kennen, wenn man über Social-Media-Reichweite mitreden können will:

  • Eine Impression bedeutet: So häufig wurde der Post Personen angezeigt. Das heißt aber auch: Eine Person kann mehrere Impressions auslösen.
  • Eine erreichte Person dagegen ist – zumindest bei Meta – immer einzigartig. Sehe ich einen Post zehnmal, bleibe ich damit eine erreichte Person.
  • Die Begriffe View oder Aufruf sind je nach Netzwerk unterschiedlich besetzt. Meistens meinen sie aber: Ich habe mit dem Inhalt Zeit verbracht.
  • Eine Interaktion dagegen kann viel mehr sein: ein Like, ein Kommentar, ein Share.

Mark Zuckerberg und Marktmanipulation?

Bleiben wir mal bei Märkten: Seit April muss sich Meta vor Gericht rechtfertigen, ob die Käufe von Instagram 2012 und Whatsapp 2014 das Unternehmen zum Monopol gemacht haben. Klägerin: Die US-­amerikanische Handelskommission FTC, zwar traditionell unabhängig, zuletzt aber von Präsident Trump entkernt und republikanisiert. Zuckerberg muss hoffen, dass seine Bemühungen um Trump ausreichen, um zu zeigen, dass die Gunst des Präsidenten für Techmilliardäre in den USA wichtiger ist als Gesetze und Gerechtigkeit.

Elon Musk wollte totale Transparenz – hier ist sie

Apropos Zahlen: Es versteht sich von selbst, dass Techunternehmen, die Nutzerdaten sammeln, darauf auch gut Acht geben sollten. X hat über viele Jahre Unmengen dieser Daten auf seinen Servern gespeichert. Seit der Übernahme durch Elon Musk aber offenbar kaum noch Energie oder Personal in die Sicherheit der Plattform gesteckt. So überrascht es nicht, dass nun ein Datenleck mit 2,87 Milliarden (!) Nutzerdaten in einschlägigen Foren aufgetaucht ist. Etwa mit Angaben zu genutzten Geräten, Standorteinstellungen oder Favoriten und Freunden. Zwar fehlen in diesem Leak die jeweiligen E-Mail-Adressen, die allerdings wurden schon vor zwei Jahren geleakt. Es reicht nun also, die zwei riesigen Datensätze zusammenzuführen, um viele Millionen nahezu vollständiger Nutzerdaten zu erhalten.

Was macht eigentlich Bluesky?

Erinnert sich noch jemand an den Hype um BeReal? Eine App, die einen kurzzeitigen Supertrend erlebte, von kaum einem Smartphone wegzudenken war und vor allem genauso schnell wieder in der ewigen Cloud verschwand. Jedenfalls verkauft BeReal nun Werbung und hat in diesem Atemzug verkündet, nach wie vor 40 Millionen monatlich aktive User zu haben. Die letzte Zahl, die wir von Bluesky, das viele schon als das neue X feierten, kennen: 32 Millionen Nutzer – und zwar „einfach nur“ registrierte, nicht mal zwangsläufig aktive. Was ist also Reichweite?

Auch stellt sich immer mehr die Frage, wie Bluesky eigentlich Geld verdient. Eine Idee war, Domains zu vermarkten, die man als Nutzernamen erwerben kann. Wie erfolgreich das ist? Nun: Mit dem Verkauf eines T-Shirts, das CEO Jay Graber auf einer Kongressbühne trug und mit dem sie sich über die neue maskuline Energie von Mark Zuckerberg lustig machte, hat Bluesky jetzt schon mehr verdient als mit den Domains. Vielleicht sollte Bluesky einfach zum Modelabel pivotieren?

Über den Autor: Im Podcast „Haken dran“ erklärt Gavin Karlmeier dreimal pro Woche mit Gästen, was sich bei sozialen Netzwerken tut. Und hier hilft er bei der Suche nach dem ­„neuen Twitter“.


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