Mut braucht Rückhalt: Protagonisten-Schutz zwischen Sichtbarkeit und Sicherheit

Mutige Protagonisten tragen Recherchen – und werden zur Zielscheibe. Ein „Ja“ zum Klarnamen reicht nicht: Es braucht ehrliche Briefings, Unterstützung über den Erscheinungstermin hinaus und einen Plan für den Ernstfall. Den vollständigen Beitrag mit Tipps zum Prota-Schutz und einem Pressekodex-Quickcheck lesen Sie im „medium magazin“ 04/2025

Text: Anna-Theresa Bachmann

Ein Freitagabend im Mai, Hamburg Hauptbahnhof: Nachdem er einen Freund in der Hansestadt besucht hat, möchte Muhammad Al-Muhammad mit dem Zug zurück zu seiner 30 Minuten entfernten Unterkunft südlich von Hamburg fahren. Seit drei Jahren lebt der 19-jährige Syrer in Deutschland, sein Asylverfahren läuft noch. Plötzlich bricht Panik am Gleis aus. Eine Frau sticht mit einem Messer um sich. Während andere fliehen, greifen Al-Muhammad und ein Mann aus Tschetschenien ein, überwältigen die Angreiferin und halten sie fest, bis die Polizei eintrifft. 18 Menschen werden an diesem Abend verletzt, einige lebensbedrohlich. Ohne das Eingreifen der beiden wären die Opferzahlen vermutlich höher gewesen.

Medien wie der „Spiegel“ berichten deswegen nicht nur über die Tatverdächtige, die kurz zuvor aus einer psychiatrischen Klinik entlassen worden war, sondern auch über den jungen Syrer: geflüchtet, männlich, muslimisch – und ein Held. Eine Story, die mit dem Narrativ einer sonst medial meist als gesichtslose Masse dargestellten oder im Zusammenhang mit Straftaten genannten sozialen Gruppe bricht. Und die nicht jedem ins Weltbild passt.

Rechte Akteure starteten online eine Hass- und Desinformationskampagne, stellten Al-Muhammads Rolle infrage, sogar seine Existenz. Besonders ein „Spiegel“-­Aufmacherbild – ein privates Foto vor dem Brandenburger Tor in Berlin – geriet unter Generalverdacht: Verschiedene Accounts verbreiteten dazu KI-Fälschungen (u. a. ein Bahnsteig-Motiv in identischer Pose), um mit den Manipulationen die Existenz Al-Muhammads in Zweifel zu ziehen.

Dass es in Deutschland Menschen gibt, die gegen Geflüchtete mobilmachen, und mit der AfD eine rechte Partei an Einfluss gewinnt, habe Al-Muhammad bereits vor seiner Flucht aus Syrien gewusst. Und ja, eigene Erfahrung mit Rassismus habe er hier zuvor auch schon gemacht. So erzählt es der schmächtige junge Mann dem „medium magazin“ rund drei Monate nach dem Messerangriff, in einem Café neben dem Hamburger Hauptbahnhof.

Damals einzugreifen, sei für ihn eigentlich keine große Sache gewesen. Gutes zu tun, sagt Al-Muhammad, gebiete seine Religion. „Diese Art von Reaktion habe ich allerdings nicht erwartet.“ Neben einigem Zuspruch überrollten ihn viele negative, hasserfüllte Kommentare, das habe ihn überfordert und verletzt.

Al-Muhammads Fall steht exemplarisch für eine große Herausforderung im Journalismus: Protagonisten werden zunehmend zur Zielscheibe von Hohn, Bedrohungen oder Angriffen – online wie offline.

Zugleich zeigt der Fall ein Dilemma auf. Viele Redaktionen wollen gesellschaftliche Vielfalt abbilden. Doch in einer immer polarisierteren Gesellschaft polarisieren gleichzeitig immer mehr Themen. Was als differenzierte Geschichte gedacht ist, kann leicht zum Zündstoff werden. Mit teils unabsehbaren Folgen für die Beteiligten und manchmal über Landesgrenzen hinweg. Wo beginnt also die Verantwortung von Medienschaffenden für ihre Protagonisten, vor und nach der Berichterstattung? Und wo endet sie?

Es braucht mutige Protagonisten –und sensible Journalisten

Wer Missstände, Korruption oder Machtmissbrauch aufdeckt, braucht nicht nur Zeit für gründliche Recherche, sondern auch sensible Zugänge zu Informationen und Menschen. „Im Idealfall wird eine investigative Recherche stark, wenn es mutige Protagonisten gibt, die mit Namen und Bild in Erscheinung treten“, sagt Luisa Hommerich. Sie ist Redakteurin im Investigativ-Ressort der „Zeit“ und arbeitet zu Themen wie Terrorismus, Rechtsex­tremismus und zum Iran.

Hommerich kennt das Land gut, hat dort einen Teil ihres Studiums verbracht und hält bis heute Kontakt zu Menschen in der repressiven Islamischen Repu­blik. Als im Herbst 2022 im Iran Proteste unter dem Slogan „Frau, Leben, Freiheit“ aufflammen, stößt Hommerich in den Farsi-sprachigen sozialen Medien auf Nika Shakarami, eine 16-jährige Barista. Sie soll sich den Protesten in Teheran angeschlossen haben und eines Abends nicht mehr nach Hause gekommen sein. Tage später finden Angehörige Shakaramis Körper in einer Leichenhalle. Den Posts zufolge soll Shakarami eine Freundin in Deutschland gehabt haben.

Hommerich findet das Mädchen, Nele, und trifft die trauernde Teenagerin gemeinsam mit ihrer Mutter in ihrem Zuhause. Dort erzählt Nele: Eine Liebesgeschichte zwischen zwei Mädchen, die sich online kennenlernen und sich auf tragische Weise nie anders begegnen sollten. Die Reportage erscheint im November 2022 im „Zeit-Magazin“, mit Porträtfotos von Nele, die als Minderjährige nur mit Vornamen genannt wird.

Der Text wird auf Deutsch im „Zeit-Magazin“, online außerdem in Englisch und Farsi veröffentlicht und zieht international große Aufmerksamkeit auf sich – besonders im Iran und der globalen Diaspora, wo Shakarami längst zur Symbolfigur des Widerstands geworden ist. Viele machen das Regime für ihren Tod verantwortlich, das hingegen von Selbstmord spricht.

Die genauen Todesumstände bleiben bis heute ungeklärt. Auch Hommerichs Recherchen – gestützt auf zahlreiche Whatsapp-Nachrichten zwischen Nele und Shakarami, Gespräche mit Freunden der Verstorbenen sowie Osint-Recherchen – liefern kein eindeutiges Ergebnis. Allerdings deuten die letzten Chatnachrichten der Mädchen auf einen anderen Todeszeitpunkt hin als den, der in oppositionellen Kreisen bereits kursiert. Der „Triggerpunkt“, wie Hommerich sagt.


 

Luisa Hommerich ist Investigativ-Redakteurin, „Zeit“
Luisa Hommerich, Investigativ-Redakteurin, „Zeit“

„Wir Journalisten sind daran gewöhnt und werden dafür bezahlt, das auszuhalten. Aber dass der Hass eine Teenagerin trifft, die gerade die Liebe ihres Lebens verloren hat, hat mich tief getroffen.“

 


Nach der Veröffentlichung wird nicht nur Hommerich heftig als Regime-Propagandistin angefeindet – auch Nele erhält über ihren öffentlichen Insta­gram-Account zahlreiche hasserfüllte Nachrichten, viele davon homofeindlich. Auch Shakaramis Tante, bei der sie bis zu ihrem Tod gelebt hatte, kritisiert den „Zeit“-Text scharf.

„Wir Journalisten sind daran gewöhnt, Kritik und Anfeindungen auszuhalten“, sagt Hommerich. „Aber dass der Hass auch eine Teenagerin trifft, die gerade die Liebe ihres Lebens verloren hat, das hat mich tief getroffen.“ Im Rückblick sagt sie, sie habe unterschätzt, wie verbreitet Homofeindlichkeit selbst unter Regimegegnern sei, von denen sich viele als progressiv verstehen.

Andernfalls hätte Hommerichs Risikoanalyse, eine gängige Vorbereitung investigativer Recherchen vor Veröffentlichung, anders ausgesehen und sie hätte dem Mädchen etwa empfohlen, ihre Social-Media-Accounts auf privat zu stellen und vorsichtshalber eine Auskunftssperre nach Paragraf 51 BMG zu beantragen.

Was tun, wenn Anfeindungenauftauchen?

Doch wie damit umgehen, wenn sich unerwartet online Anfeindungen Bahn brechen? Hommerichs Redaktion habe viel Zeit zur Verfügung gestellt, im Nachgang der Veröffentlichung mit Nele zu telefonieren und die Protagonistin auf Wunsch nochmals persönlich zu treffen. „Nele wurde von ihrem Umfeld gut aufgefangen“, sagt die Journalistin. Bei Bedarf hätte die „Zeit“ bei der Vermittlung professioneller psychologischer Hilfe geholfen. Generell, so Hommerich, habe ihr der Fall nochmals verdeutlicht, wie wichtig der enge und ehrliche Austausch mit Protagonisten ist – vor, während und nach der Recherche. Und wie sorgfältig über Anonymisierungsformen nachgedacht werden muss, vor allem – aber nicht nur – bei jungen Menschen, die auch dem Pressekodex nach als besonders schutzbedürftig gelten.


 

Pascale Müller ist freie Investigativjournalistin, Foto: Felie Zernack, Helena Manhartsberger
Pascale Müller, freie Investigativjournalistin,
Foto: Zernack Manhartsberger

„Ohne enge Sicherheitsberatung hätten wir diese Recherche nicht machen können. Aber trotzdem wurden wir dieser Person nicht gerecht.“

 

 


Was aber, wenn Protagonisten trotz hoher Risiken darauf bestehen, ohne Anonymisierung aufzutreten? Immerhin, so die gängige Faustregel, muss man Menschen manchmal „vor sich selbst schützen“. ­Pascale Müller, heute freie Investigativjournalistin, erinnert sich an eine Recherche aus dem Jahr 2020. Damals arbeitete Müller als festangestellte Reporterin für „Buzzfeed“ und recherchierte gemeinsam mit Kollegen zu Arbeitsausbeutung von Ukrainern in Polen und Deutschland. Was sich zunächst nach unfairer Bezahlung und dubiosen Beschäftigungsverhältnissen anhörte, führte das Team in ein gewaltbereites, kriminelles Milieu.

Ein Artikel der insgesamt als dreiteilige Serie veröffentlichten Recherche wird eng an dem Protagonisten Ali Saledinov erzählt, der von einer ukrainischen Arbeitsagentur an einen norddeutschen Getränkemarkt vermittelt wurde. Er schildert massive Missstände – von Gewalt über Bedrohung bis zur unterlassenen medizinischen Hilfe. Doch Saledinov will kein anonymes Opfer bleiben: Er besteht auf Klarnamen und Foto. […]

[…] Den vollständigen Beitrag mit Tipps zum Prota-Schutz und einem Pressekodex-Quickcheck lesen Sie im „medium magazin“ 04/2025

 


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