„Aktivismus ist nur ein Code für unbequeme Leute“

Melina Borčak ist freie Journalistin und Filmemacherin, u.a. für CNN, rbb, Deutsche Welle. Seit fünf Jahren lebt sie in Deutschland und arbeitet u.a. zu den Schwerpunkten antirassistische Medienkritik, (antimuslimischer) Rassismus, Genozid, Flucht. Mehr zu ihrer Arbeit: http://melinaborcak.com/de

Die freie Journalistin Melina Borčak ist es leid, von Redaktionen Betroffenheit unterstellt zu bekommen, wenn sie über ihre Heimat Bosnien berichtet. Ein Gespräch über Expertise, Emotionen und deutschen Fallschirmjournalismus.

Dieses Interview ist bereits am 07. Juli 2022 in medium magazin #03/22 erschien. 

Interview: Niklas Münch und Tobias Hausdorf

 

Melina, du arbeitest journalistisch zu vielen Themen mit gesellschaftlichem Spannungspotenzial: antimuslimischer Rassismus, fehlende Diversität in den Medien aber auch der Völkermord an Bosniaken und Bosniakinnen in den 90ern. Wie oft wird dir dabei Aktivismus vorgeworfen?

Sehr oft. Ich glaube, es liegt an meinen Themen, die bei den Leuten moralische Abwehrgefühle auslösen. Wenn ich Sportjournalistin wäre, würde mir niemand Aktivismus vorwerfen. Es kann schließlich kaum politisch sein, wenn man darüber berichtet, dass Hertha BSC ein Spiel verloren hat. Wenn ich aber darüber berichte, dass es mitten in Europa, in den Neunzigern einen Genozid an europäischen Muslimen gab, und man sie vier Jahre lang sterben ließ durch Waffenembargo und Blockaden, dann sind das genau wie beim Hertha-Spiel belegte Fakten. Daran ist erstmal nichts kontrovers oder hinterfragbar. Doch solche Fakten wecken Abwehremotionen.

Wie sehen solche Vorwürfe aus?

Meistens wird mir das nicht direkt ins Gesicht gesagt. Aber wenn ich bestimmte Jobs nicht bekommen habe, obwohl ich dafür qualifiziert war, habe ich oft später von Bekannten in der Redaktion erfahren, dass ich für zu aktivistisch gehalten wurde. Einmal wurde ich sogar zu einem Podcast nicht eingeladen, weil die Redaktion meinte, dass ich zu aktivistisch sei. Aber die Person, die sie statt mir eingeladen haben, war eine wirkliche Aktivistin, die sogar eine eigene NGO gegründet hat. Das zeigt auch, dass dieses Label „aktivistisch“ einfach ein Code für unbequeme Leute ist, mit denen die Redaktionen nicht umgehen können.

Wie sehr hat das deiner Meinung nach etwa im Fall deiner Arbeit über den Völkermord an Bosniakinnen und Bosniaken auch damit zu tun, dass du mit deiner Familie aus Bosnien geflüchtet bist und somit als „Betroffene“ giltst? Gehen wir mal von einem Kollegen aus, männlich, weiß und als deutsch gelesen: Bekäme der das gleiche ab?

Nein, der bekommt nicht das gleiche ab wie ich. Das liegt daran, dass die dominanten Teile der Gesellschaft gerne so tun, als seien ihre Merkmale – hetero, weiß, christlich – unsichtbar und hätten anders als bei Muslimen, Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte keine Bedeutung für ihren Blick auf die Welt. Als seien ihnen Neutralität und Seriosität in die Wiege gelegt worden. Das ist ein riesiges Problem, vor allem im Auslandsjournalismus. Hier wird oft davon ausgegangen, dass Menschen, die über das Land berichten, aus dem sie auch kommen, subjektiv und betroffen sind. Statt zu sehen, dass diese Menschen oft Experten sind, die sich dort gut auskennen und die Sprache können. Aber ihre Expertise wird nicht anerkannt. Stattdessen werden Deutsche zwei Wochen lang in irgendein Land geschickt, von dem sie keine Ahnung haben und sollen von dort irgendwas zusammenschreiben. Das ist absurd. Nach dieser Logik dürfte kein deutscher Journalist über Deutschland berichten – sie sind von den Themen hier ja auch direkt betroffen.

Salwa Houmsi schrieb dazu mal auf Twitter: „BPoC Journalist:innen müssen sich von Kolleginnen zum Vorwurf machen, dass sie privat bei einer Hanau Gedenkfeier oder Pride-Demo waren: Unjournalistisch. Aktivistisch. Geht gar nicht. Das ist eben auch geprägt von einer Branche, die bis heute noch zum großen Teil weiß ist: Wer keine Angst haben muss, wegen Herkunft oder Hautfarbe auf die Fresse zu bekommen, kann auf die Demos easy scheißen.“ Was denkst du dazu?

Das ist wirklich auf den Punkt gebracht. Denn es wirft die Frage auf, was eigentlich politisiert wird. Wenn man als Person, die Rassismus erfährt, auf eine Hanau-Demo geht, dann ist das einfach ein Teil Selbstverteidigung, das ist für viele Leute nicht politisch. Auch wenn ich als Bosniakin über den Genozid schreibe, ist das für mich null politisch. Ich habe einmal im Leben gewählt und dabei Lisa Simpson auf den Wahlzettel gemalt, weil ich nicht wusste, welche Partei ich in Bosnien wählen soll. Und in Deutschland habe ich eh kein Wahlrecht. Politik hat mit mir nicht viel zu tun. Das ist für mich einfach eine Überlebenssache. Ich bin mit meiner Familie vor Genozid geflohen, die Mörder sind zwei Stunden, nachdem wir damals geflohen sind, in unsere Wohnung gekommen. Das ist kein Thema, dass mich interessiert, weil ich eine bestimmte Partei wähle. Oder wenn queere Menschen über bestimmte Themen reden: Das ist ihr Leben. Und das wird politisiert und als aktivistisch gewertet, eben weil es nicht Teil der dominanten Gruppe ist.

Aber gerade das implizieren die Vorwürfe ja oft: Dass nämlich die emotionale Bindung zu einem Thema sehr viel größer ist, weil man eben existenziell betroffen und sogar bedroht war. Das sei im Sinne einer vermeintlichen Objektivität eben gravierender als die Tatsache, dass man über den Ausbau der Autobahnen schreibt und selbst Autofahrer ist.

Solche Kritik basiert auf drei Prämissen, die alle falsch sind: Dass Emotionalität etwas Schlechtes ist, dass Betroffene automatisch emotional oder emotionaler als Unbetroffene sind, dass Emotionen und Professionalität unvereinbar sind. Der Reihe nach: Diese Abwürdigung von Emotionen und das Feiern von Kälte und Empathielosigkeit als „sachlich” und toll, habe ich zum ersten Mal erlebt, als ich nach Deutschland zog. In vielen anderen Ländern ist das glücklicherweise nicht so. Deshalb müssten Deutsche mal über den Tellerrand schauen und hinterfragen, ob das überhaupt eine gute Grundannahme ist. Emotionen sind oft Teil der Information und ergänzen die inhaltliche Ebene. Zweitens ist es falsch, dass Betroffene automatisch emotionaler sind als Unbetroffene. Im Gegenteil: Wenn ich über mein Leben rede, heulen Deutsche oft los, aber ich selbst bin schon an gewisse traumatische Erlebnisse „gewöhnt” oder kann zumindest damit umgehen. Drittens heißt Emotionalität nicht automatisch, dass man schlechte Arbeit macht. Es gibt Themen, die für die meisten Journalisten emotional sind: Holocaust-Gedenktage, Naturkatastrophen, Amokläufe… Da geht man ja auch nicht hin und lügt die Opferzahlen höher, oder denkt sich dramatische Zeugenaussagen aus. Im Gegenteil: Emotionalität hilft gegen Sensationalismus, weil man die Ernsthaftigkeit des Themas bereits erkennt und nichts aufhypen muss.

Kannst du verstehen, wenn die Redaktionen und Medien sagen: Wir müssen auf unsere Außenwirkung achten?
Wenn sie auf ihre Außenwirkung achten möchten, können sie an ganz anderen Punkten ansetzen, beispielsweise beim grauenvoll schlechten Auslandsjournalismus. Es gibt so viel Fallschirm- und Schreibtischjournalismus in Deutschland. Ich habe mich vor ein paar Wochen mit dem „Sack Reis“-Podcast des SWR beschäftigt, weil sie eine Folge über Bosnien-Herzegowina veröffentlicht hatten, die viele Fehler enthielt. Ich habe ihnen eine Anfrage für einen Artikel gestellt und sie haben mir ihren Rechercheweg geschickt. Das ist Grundschulreferatsniveau. Sie haben nicht vor Ort recherchiert, keine Primärquellen genutzt, niemand von ihnen spricht die Sprache oder hat die Expertise. Sie haben einfach aufgezählt, welche Artikel aus deutschen Medien sie zu dem Thema gelesen haben, bevor sie daraus ihre Folge zusammengeschustert haben – offenbar auch ohne Faktencheck. Es fehlt da aus meiner Sicht an ganz grundlegenden Qualitätsansprüchen.

Die Redaktion hat den Beitrag öffentlich korrigiert – du hast ihren Umgang mit den Fehlern dennoch kritisiert. Was hat dich gestört, und handelt es sich dabei um ein grundlegendes Problem der Branche?

Sie haben ja nur einen kleinen Teil korrigiert, und zwar nach tagelangem, massivem Druck. Wenn man schon schlechte Arbeit macht und andere so nett sind, kostenlos den Faktencheck zu machen, dann soll man das annehmen, statt in Schnappatmung defensiv zu werden. Außerdem sind Redaktionen verpflichtet, Fehler zu korrigieren – das sollte selbstverständlich statt Kampf sein. Das größte Problem bei „Sack Reis“ sind ja die Genozidleugnung und somit die Verbreitung strafbarer und rassistischer Inhalte. Und das ist noch immer online, zwei Monate später. Fehlende Fehlerkultur und Fake – kommen leider oft vor im Journalismus. Aber das, was „Sack Reis” tat und noch tut, das ist schon einzigartig im negativen Sinne. (Anm. d. Red.: Nach der Veröffentlichung dieses Interviews gab es u.a. eine Podcast-Sonderfolge mit Melina Borčak und Vertreterinnen des SWR. Diese wurde letztlich wieder aus dem Netz genommen, nachdem es scharfe Kritik an der herablassenden Gesprächsführung der Redakteurinnen gegeben hatte. Eine Person aus den oberen SWR-Etagen sagt im aktuellen medium magazin 04/22, „die gesamte Krisenkommunikation“ in Sachen „Sack Reis“ sei „völlig schiefgelaufen“.)

Reden wir noch einmal das Thema Betroffenheit und Neutralität. Gibt es dazu Gesprächsbereitschaft oder wird eher abgeblockt?

Es wird lieber abgeblockt. Ich schreibe mittlerweile fast keine Texte mehr für Redaktionen, weil es sich wegen des Arbeitsaufwands nicht lohnt. Ich muss so viele Quellenangaben mitschicken, die oft länger sind als die Texte selbst. Das wäre für sich genommen natürlich okay, aber ich weiß ganz genau, dass das nicht alle Kollegen machen müssen. Sonst wären ja all die faktischen Fehler in Texten unmöglich. Bei mir scheint es in den Redaktionen einfach ein grundlegendes Misstrauen zu geben, ich könnte „als Betroffene“ irgendetwas in den Text schmuggeln. Ein ähnliches Thema ist das Redigat. Wenn einer Redaktion etwas nicht passt, wird oft erst gesagt, dass gekürzt werden müsse oder dass es nicht so verständlich sei. Es wird von Ausrede zu Ausrede gesprungen. Dann denke ich mir oft: Wenn du nicht möchtest, dass diese Person über bestimmte Probleme redet, dann sag es mir direkt. Ich habe jetzt fast 15 Jahre Erfahrung als Journalistin – ich merke es, wenn mir jemand etwas aus dem Text oder TV-Beitrag rausnimmt, weil es von der Struktur oder dem Stil nicht passt – oder weil es der Person nicht ins eigene Weltbild passt.

Kannst du dafür ein Beispiel geben? Schließlich gibt es im Redigat ja oft Unstimmigkeiten zwischen Redaktion und Autoren.

Ich habe mindestens fünfmal versucht, in Texten oder TV-Beiträgen den Hinweis einzubringen, dass Karadzic und Mladic nicht „nur” wegen Genozid, sondern auch explizit wegen Terror mit mindestens 11.500 Toten verurteilt wurden. Also sind die bei weitem größten, tödlichsten Terroristen Europas keine muslimischen Flüchtlinge, sondern weiße, europäische Christen, die Muslime ermordeten. Interessanterweise wollen Redaktionen immer genau an dem Teil kürzen. Und wenn ich vorschlage, was anderes zu kürzen, oder sage, dass mir dieser Teil wichtig ist, dann „übersehen” sie diesen Teil der Mail oder veröffentlichen es ohne den Terrorismus-Hinweis „aus Zeitgründen”, die ich logisch nicht nachvollziehen kann.

Wie sieht denn aus deiner Sicht eine gute Zusammenarbeit aus?

Was mir hilft ist, wenn den Redaktionen diese Probleme bewusst sind. Ich freue mich immer, wenn mir eine Redaktion sagt: Wir haben keine Ahnung vom Genozid an den Bosniaken, aber dafür haben wir ja dich. Statt Redaktionen, die meine Expertise kennen, aber trotzdem so tun, als wüssten sie es besser. Ich würde mir ein stärkeres Bewusstsein dafür wünschen, dass alle Menschen bestimmte Denkstrukturen im Kopf haben und dass man diese durchbrechen muss. Das betrifft uns alle. Ich bin mir sicher, dass Menschen mit Behinderung auch etwas bei mir kritisieren könnten. Oder trans Menschen oder andere Gruppen, bei denen ich Teil der Mehrheitsgesellschaft bin. Wir alle müssen einfach versuchen, uns zu verbessern und nicht immer gleich defensiv zu werden.

Was rätst du Leuten, die besonders oft von Aktivismusvorwürfen betroffen sind?

Ich denke da immer an ein Zitat der portugiesischen Autorin Grada Kilomba: „Wir sind subjektiv, die Mehrheitsgesellschaft, die anderen, sind objektiv. Unsere Erfahrungen sind spezifisch, ihre sind universell. Wir sind emotional, sie sind sachlich.“ Das sollte man wirklich auswendig lernen. Außerdem vorher offen sein mit den Redaktionen. Ich schreibe gerade an meinen Geschäftsbedingungen, die dann in meiner E-Mail-Signatur stehen werden, damit jede Redaktion, die mich anfragt, diese erst einmal lesen muss. Punkt 1: Keine Verharmlosung des Genozids wird geduldet. Punkt 2: Melina ist die Expertin, wenn sie mit Quellen Fakten belegt, dann kann man das nicht bestreiten. Solche Geschäftsbedingungen sind eine gute Idee, wenn man in seiner Karriere so weit ist, sich das auch leisten zu können. Dann werden schon vor der Zusammenarbeit die Spielregeln klar gemacht. Denn neben unserer professionellen Arbeit sind wir auch alle Menschen. Es ist für mich als Überlebende sehr retraumatisierend und beleidigend, wenn ich immer darum kämpfen muss, dass Redaktionen bestimmte Begriffe wie „Genozid“ und „Konzentrationslager“ in den Text packen, obwohl diese Tatsachen von internationalen Gerichten belegt sind. Ich bin es leid, ständig unter Generalverdacht zu stehen, weil mein Gegenüber keine Expertise hat, aber gleichzeitig meine nicht anerkennt.