„Ich mache im Umgang mit AfD-Politikern keine formellen Unterschiede“

Anne Hähnig im Gespräch mit dem "medium magazin"
Foto: Iona Dutz

Anne Hähnig hat als Leiterin der „Zeit im Osten“ Debatten geprägt. Ein Gespräch über Demos, die AfD und Ostkompetenz in Redaktionen.

Interview: Frederik von Castell Fotos: Iona Dutz

Dieses Interview ist im „medium magazin“ erschienen. Das gesamte Gespräch mit Anne Hähnig können Sie in der Ausgabe 01/24 lesen.

 

 
 
Frau Hähnig, wann waren Sie das letzte Mal privat auf einer Demonstration?

Anne Hähnig: Ich war ewig nicht mehr privat auf einer Demo. Ich weiß es gar nicht mehr.

Würden Sie denn an einer Demo gegen Rechtsex­tremismus teilnehmen?

Solange ich Politikjournalistin bin, gehe ich grundsätzlich nicht auf politische Demonstrationen. Schon weil die Wahrscheinlichkeit nicht sehr gering ist, dass ich über diese Demos beziehungsweise über die Leute auf der Straße berichten werde. Ich unterschreibe auch keine politischen Petitionen. Ich glaube, Journalisten haben einfach andere Mittel zur Hand.

Halten Sie es da wie Ihr Kollege Martin Machowecz, der mal bei Twitter sinngemäß schrieb, als Medienleute mitzurufen und Plakate hochzuhalten sei „unjournalistisch“, das werfe ja die Frage auf, ob am nächsten Tag noch glaubwürdig über die AfD berichtet werden könne?

Nicht zu Demos zu gehen und keine Petitionen zu unterschreiben sind meine persönlichen Entscheidungen. Ich handhabe das also so wie er. Ich will weder befangen sein noch diesen Eindruck vermitteln. Und gleichzeitig sehe ich mich hier nicht in der Rolle, anderen Journalisten Empfehlungen zu geben. Diejenigen, die gerade demonstrieren, tun das ja nicht wegen banaler politischer Streitfragen, sondern weil sie das Gefühl haben, dass das System als Ganzes infrage gestellt wird. Sie demonstrieren für den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Das ist eine so selbstverständliche Forderung, dass es mir nicht einfiele, das zu kritisieren.

Anne Hähnig im Gespräch mit dem "medium magazin"
Foto: Iona Dutz
Anne Hähnig wurde 1988 in Freiberg (Sachsen) geboren. Nach dem Studium der Politikwissenschaften in Leipzig und dem Besuch der Deutschen Journalistenschule in München arbeitete Hähnig ab 2021 für die „Zeit im Osten“, ab Sommer 2021 als Leiterin des Büros und Ressorts. Seit 1. März 2024 ist sie Redaktionsleiterin bei „Zeit Online“. Bei der „medium magazin“-Wahl zu den „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2023“ landete Hähnig auf Platz 1 in der Kategorie Politik.

Ich möchte nicht aus meiner Rolle fallen, und ich habe den Eindruck, ein relevanter Teil des Publikums – insbesondere in Ostdeutschland – möchte auch nicht, dass wir Journalisten das tun. Dennoch müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Rechtspopulisten häufig Vorwürfe an „Eliten“ formulieren, zu denen Medien mitgezählt werden. Wie geht man nun damit um, selbst Bestandteil einer solchen Debatte zu sein? Die Frage ist wichtig. Und wie gehen wir damit um, dass die AfD allem Anschein nach nicht einfach nur Politik verändern will wie jede Partei, sondern dass sie die Grundfesten unserer Demokratie infrage zu stellen bereit ist? Ich bin da ehrlich gesagt auch noch nicht am Ende meines Nachdenkens, und ich glaube, vielen Medienhäusern geht es genauso.

Das ist an sich ja nicht wirklich neu: Das Wesen der AfD ist schon oft vorher beschrieben und analysiert worden. Wie erklären Sie sich, dass nun aber der Correctiv-Bericht zu Jahresanfang so außergewöhnlich viel ausgelöst hat?

Tatsächlich haben viele Berichte, auch in der „Zeit“, immer wieder die Radikalisierung der AfD gezeigt. Dennoch hat die Correctiv-Recherche besonders eingeschlagen. Das liegt sicher daran, dass sie offenbart hat, wie weit Leute in der AfD und deren Vordenker bereit sind zu gehen, wenn es um die Abschiebung von Menschen geht. Das war erschreckend und in seiner Drastik bisher nicht bekannt, vor allem einer breiten Öffentlichkeit.

Glauben Sie, dass von dem Inhalt abgesehen auch das Setting dieser Geschichte eine Rolle gespielt hat? Ein geheimes Treffen, prominente Teilnehmer. Recherchemethoden, die an Agentenfilme erinnern: mit einem Fotografen auf einem Hausboot, versteckten Kameras, angeblich sogar in der Armbanduhr eines Undercover-Reporters.

Natürlich ist die Geschichte so erzählt worden, dass sie eine möglichst große Aufmerksamkeit generiert. Wenn Sie mich persönlich fragen: Wahrscheinlich hätte ich nicht das Wort „Geheimtreffen“ benutzt. Es war faktisch ein nicht öffentliches Treffen. Ich bemühe mich in investigativen Geschichten um einen möglichst nüchternen Ton. Aber das heißt ja nicht, dass die Wertungen von Correctiv nicht legitim wären.

Wie stehen Sie zu Undercover-Recherchen?

Darüber muss man im Einzelfall nachdenken. Meiner Erfahrung nach kommen sie selten vor. Vor einem im Internet angekündigten Treffen von Linksextremisten hier in Leipzig 2023 haben wir uns auch Gedanken gemacht, ob wir dahin gehen, und wenn ja: ob wir uns als Journalisten outen sollen, auch auf die Gefahr hin, dann rausgeschmissen zu werden. Wir haben uns gegen undercover entschieden. Aber es gibt natürlich Recherchen, die solche Einsätze notwendig machen.

Correctiv hat diese Recherche auch auf ungewöhnliche Weise inszeniert – mit einem Theaterstück im Berliner Ensemble. Was halten Sie von diesem Format?

Also, ein Theaterstück als journalistische Form ist mir bisher nicht in den Sinn gekommen. Aber es gibt zweifellos ein Publikumsinteresse daran, Journalisten auf der Bühne zu erleben. Wir laden bei der „Zeit“ auch regelmäßig Leser ein und erzählen ihnen von unseren Recherchen. Das ist spannend, denn viele im Publikum sind Abonnenten, die vor allem wissen wollen, wie wir vorgegangen sind, wie diese Recherche zustande kam, warum man etwas wie aufschreibt. Kurzum: Sie sind am Zustandekommen von Journalismus interessiert. Formate wie Reporter-Slams bedienen dieses Interesse ja auch. Das ist nicht fiktional, da geht es um etwas, was wirklich passiert ist. Gleichzeitig sind solche Veranstaltungen nicht dafür da, Geheimnisse oder Informanten preiszugeben. Wer mit einer solchen Erwartung dahin geht, wird eher enttäuscht.

Was steckt hinter diesem Interesse?
Ich glaube, es ist vor allem der Wunsch, einen Blick in die Arbeitsweise von Journalisten zu bekommen. Deswegen haben wir in der „Zeit“ auch einen „Hinter der Geschichte“-Kasten eingeführt. Dort erklären wir, wie wir zu einem Thema gekommen sind, was nach einem Termin geschah oder wie eine Autorisierung verlaufen ist.

Foto: Iona Dutz

Zurück zu den aktuellen Ereignissen: Für wie nachhaltig halten Sie diese Proteste?
Diese Demonstrationen sind von der Größe her überwältigend. Nicht nur in den Großstädten, auch in kleinen Gemeinden. Ich bin gespannt, ob sie weitergehen und welche Folgen sie haben werden. Schwächen sie die AfD nachhaltig? Ich bin mir da nicht sicher. Bei den zurückliegenden Wahlkämpfen in Ostdeutschland war es jeweils so, dass die AfD sehr stark blieb. Um dennoch gegen sie zu gewinnen, greifen die anderen Parteien zu dem Mittel der Mobilisierung. Dafür können die Demos nützlich sein.

Sie haben das Prinzip kürzlich mal „übertrumpfen statt schrumpfen“ genannt.
Genau. Man kennt das auch aus den USA: Donald Trump hat im Jahr 2020 nicht verloren, weil ihn weniger Menschen als vier Jahre zuvor gewählt haben, sondern weil Joe Biden einfach noch mehr Wählerinnen und Wähler mobilisieren konnte. In diesem Jahr wird es bei den Kommunal-, bei den Landtags- und auch bei den Europawahlen für die anderen Parteien darum gehen, zum Beispiel bisherige Nichtwähler zu mobilisieren oder solche, die normalerweise für kleine, sogenannte sonstige Parteien stimmen.

Sie sind in Freiberg geboren. Vor gar nicht langer Zeit war die Stadt fast ein Synonym für „Spaziergänge“ gegen die Corona-Politik dominiert von Rechtsextremen. Jetzt gilt Freiberg oft als exponiertes Beispiel für jene kleineren Städte, die sich mit Demonstrationen gegen Rechtsextremismus erheben. Ist das eine realistische Kehrtwende?
Das Framing von Freiberg als „rechte Stadt“ wäre zu simpel. Das würde ich auch nie schreiben. Dafür kenne ich Freiberg zu gut. Ich weiß aber, dass die AfD es dort leicht hat. Im Erzgebirge gibt es lauter Dörfer, in denen die Partei Ergebnisse von 40 bis 47 Prozent erzielt. Ich weiß, dort gibt es Menschen, die diese Umsturzfantasien teilen, die die AfD ja manchmal verbreitet. Die finden es gut, wenn Björn Höcke vom „vollständigen Sieg“ der AfD träumt. Solche Formulierungen gefallen offenbar auch vielen in Freiberg. Daneben gibt es aber eine ganze Menge Leute, denen es angst und bange wird angesichts solcher Visionen und die sich nun fragen, was man dagegen tun kann. Und die dafür nun auch laut werden, auf die Straße gehen.

Warum hat es dafür aber erst diese deutschlandweite Welle gebraucht?
Ist das nicht normal? Dass es manchmal erst ein bestimmtes Momentum braucht, bis man die Idee oder Kraft aufbringt, sich zu organisieren? So hoch die Anziehung ist, die die AfD auf manche Teile der Bevölkerung ausübt, so hoch ist die Ablehnung in anderen Teilen. Das sollten wir Journalisten immer zur Kenntnis nehmen. Und das gilt selbst in Orten wie Dorfchemnitz in Sachsen, wo die AfD bei der Bundestagswahl 47,9 Prozent erzielte, eine krasse Zahl. Da ist schon halb Journalismus-Deutschland mal durchgereist, um darüber zu schreiben. Dennoch wäre es falsch, Dorfchemnitz einfach als rechtes Nest darzustellen. Man muss sich schon die Mühe machen, zu erkennen, dass selbst hier die Hälfte der Wähler für eine andere Partei gestimmt hat.

Die AfD nutzt gerne die Erzählung von der schweigenden Mehrheit, die hinter ihr stünde. Ändert sich das jetzt?
Die AfD hat immer gedacht, dass es ihr nichts ausmache, wenn über die radikalen Tendenzen in dieser Partei berichtet wird. Sie dachte, dass ihr das im Zweifel sogar noch nützt. Das scheint sich gerade zu ändern.

Auch in Ostdeutschland?
Ein Teil des Publikums hier konsumiert nicht ständig Medien. Informationen kommen an diese Leute anders heran als an ein FAZ-lesendes Lehrerehepaar in Köln. Das zeigen auch die geringeren Auflagenzahlen der etablierten Medien in Ostdeutschland. Dieses Publikum erfährt jetzt etwas über die AfD, was es vorher vielleicht nicht erfahren hat. Dafür braucht es die Bilder von Menschenmassen auf der Straße, um zu zeigen: nicht nur zahlreiche Journalisten und Politiker fürchten die AfD, sondern auch eine riesige Menge von sehr gewöhnlichen Bürgern. Sollte all das die AfD langfristig schwächen und sollte sie bei den Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen in diesem Jahr weniger gut abschneiden als gedacht, dann wird diese Partei ja vielleicht auch eine Diskussion darüber führen, ob ihr Kurs der Radikalisierung der richtige ist.

[…]


 

Cover des "medium magazins" 01 / 2024 mit Anne Hähnig auf dem Titel und der Frage: "Wo ist unser Blick getrübt, Frau Hähnig?". Anne Hähnig ist eine prägende Stimme des Journalismus im Osten. Dort steht im Superwahljahr viel auf der Kippe. Welche Defizite die „Politikjournalistin des Jahres“ in der Ost-West-Debatte und im Umgang mit der AfD sieht. Außerdem: KÜNSTLICHE STIMMEN: Wo KI im Podcasting schon zum Einsatz kommt. SPEZIAL: Wie Humor dem Journalismus gerade jetzt guttut. NEU: Debatten mit Mehrwert – „einerseits ... andererseits“.Das gesamte Interview über Demos, AfD und Ostkompetenz in Redaktionen mit Anne Hähnig können Sie im „medium magazin“ 01/24 lesen. Außerdem in dieser Ausgabe: das „medium magazin“-Spezial zum Humor im Journalismus, einer Datenauswertung zu prominenten Todesfällen und stereotypisierender Bebilderungen, Tipps zum Einsatz von Stimm-Klons in der Podcastproduktion und ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis. Das neue „medium magazin“ ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk.