Bettina Steinke: „Wir waren damals wie im Rausch“

Die Reichweitenportale der Funke Mediengruppe stehen für viele vor allem für schamloses Clickbaiting. Die neue Chefredakteurin Bettina Steinke stellt sich gegenüber „medium magazin“ erstmals der Kritik, räumt Fehler ein – und kündigt einen spürbaren Strategiewechsel an. 

Dieser Text ist erstmals in „medium magazin“ 05/22 erschienen.

Interview: Alexander Graf Fotos: Maria Sturm

„Es ging einfach immer weiter nach oben, wir wurden nie gebremst. Und das bringt natürlich auch Gefahren mit sich.“

Man wird kaum Kolleginnen und Kollegen finden, die mit dem journalistischen Angebot von Funkes Reichweitenportalen wie derwesten.de viel anfangen können. Der häufigste Vorwurf: Hemmungsloses Clickbaiting – also die absolute Zuspitzung von Schlagzeilen, um möglichst viele Klicks zu erzielen. Umso mehr, da die Überschriften – ähnlich wie bei der Yellow Press – oft eindeutig die Leser in die Irre führten. Besonders das Magazin Übermedien hat diese Praxis immer wieder angeprangert und eindrückliche Beispiele gesammelt. Etwa jene Zeile aus dem Jahr 2020, die mit den Emotionen vieler Fans des verunglückten Michael Schumacher spielte: „Michael Schumacher: Endlich! Jetzt spricht Sohn Mick: ‚Die Gesundheit …‘“. Die zynische Auflösung im Text: Aufgrund der Coronakrise hatte Mick ein Benefiz-Fußballspiel verschieben müssen („Die Gesundheit aller geht vor“). Es gibt unzählige ähnliche Beispiele. 

Wer aktuell auf derwesten.de geht, findet dort immer noch viel Clickbait. Aber es scheint, als habe sich die Tonalität verändert, sei moderater und vor allem weniger zynisch geworden. Das mag an Bettina Steinke liegen. Die 34-Jährige war zwar in verschiedenen Positionen für die bisherige publizistische Linie mitverantwortlich, will jetzt als neue Chefredakteurin aber vieles anders machen. Was steckt wirklich dahinter? Im Gespräch mit „medium magazin“ stellt sich mit Steinke erstmals ein Mitglied der redaktionellen Führungsriege der Kritik und gibt Einblick in die strategischen Überlegungen hinter den Klickfabriken.

Frau Steinke, die sogenannten Reichweitenportale von Funke werden immer wieder scharf kritisiert. Hans Hoff von DWDL bezeichnete etwa die Angebote als „Mistschleuder“. Gehen Sie als verantwortliche Chefredakteurin abends mit einem reinen journalistischen Gewissen nach Hause?

Bettina Steinke: Ich stehe zu hundert Prozent hinter diesen Portalen. Schließlich habe ich sie auch maßgeblich mit aufgebaut, seit ich 2018 das erste Mal zu Funke gekommen bin und ab 2019 auch stellvertretende Chefredakteurin war. Es stimmt aber, dass wir in der Vergangenheit Fehler gemacht haben – und dafür wurden wir in der Tat immer wieder kritisiert.

Sie können die Kritik also nachvollziehen?

Es ging dabei ja um einen Zeitraum in den Jahren 2019 und 2020 – und dabei häufig um die Bericht­erstattung zum gesundheitlichen Zustand von Michael Schumacher. Und es stimmt, dass wir hier in einem überschaubaren Zeitrahmen Zeilen und Überschriften zu sehr überdreht haben. Das würden wir aber heute so nicht mehr tun. Ich glaube, wo gearbeitet wird, da fallen Späne – das heißt, dort passieren auch einmal Fehler. Wichtig ist, auch rückwirkend zu hinterfragen, was genau man falsch gemacht hat, und sich anschließend selbst zu hinterfragen. 

Was haben Sie denn dabei konkret festgestellt?

Man muss dabei auch den zeitlichen Kontext berücksichtigen. Im November 2018, kurz nach meinem Start bei Funke, wurde „Der Westen“ neu aufgestellt und eine eigenständige Einheit, zu der dann noch News38 und Thüringen24 kamen. Ab diesem Zeitpunkt lag die Verantwortung für alle überregionalen Inhalte, die wir ausgespielt haben, nur noch bei uns. Wir mussten also eine komplett neue inhaltliche Strategie entwickeln und gleichzeitig viele sehr junge Journalisten an das Thema Boulevardjournalismus heranführen. Denn wir haben damals das redaktionelle Team fast komplett neu aufgebaut – und zwar hauptsächlich mit sehr jungen Leuten. Dass da Fehler passieren können, war von vornherein klar. Und ja, es sind Fehler wie jene bei der Schumacher-Bericht­erstattung passiert. Entscheidend ist aber, wie man damit umgeht und sicherstellt, dass die gleichen Fehler nicht noch einmal passieren. 

Aber überzogene Clickbait-Überschriften sind doch elementarer Bestandteil der publizistischen Strategie Ihrer Portale. Was waren denn dann diese tatsächlichen Fehler, von denen Sie sprechen?

Zum einen, dass wir sehr starkes Clickbaiting auch bei Themen gemacht haben, die sich dafür einfach nicht eignen. Es macht nun mal einen Unterschied, ob man eine Geschichte zum neuen Kassensystem bei Aldi so aufmacht oder ob das bei einer tragischen Geschichte wie dem Unfall von Michael Schumacher geschieht. Ich muss aber gleichzeitig Ihren Vorwurf zurückweisen, dass diese Fehler quasi in der Natur der Sache liegen. Man kann durchaus Boulevardjournalismus sinnvoll mit Clickbaiting verbinden, wenn man sich darüber im Klaren ist, was man verantworten kann und was nicht. Bei uns hat die starke Kritik dazu geführt, dass wir nach der internen Aufbereitung klare Regeln dazu aufgesetzt haben, wo Clickbaiting eingesetzt werden darf.

 

Es stimmt, dass wir hier in einem überschaubaren Zeitrahmen Zeilen und Überschriften zu sehr überdreht haben. Das würden wir aber heute so nicht mehr tun.

 

Und wie lauten die?

Unter allen Umständen tabu ist der Tod von Menschen. Ebenso schwere Krankheiten – darunter würde auch der Schumacher-Unfall zählen. Das Gleiche gilt natürlich für Dinge wie Missbrauch.

Es ist für Journalisten doch selbstverständlich, dass sich solche Dinge nicht für Clickbait eignen. 

Ja, das sollte selbstverständlich sein. Und dennoch: Das ist eben der Prozess, den wir durchlaufen haben. Hätten wir diese Fehler nicht gemacht, hätten wir vielleicht auch nicht aus ihnen lernen können. Wir sind immer noch eine sehr junge Redaktion. Wir haben viele Volontäre, die direkt nach ihrem Abitur bei uns anfangen und davor vielleicht noch gar keine journalistische Erfahrung gesammelt haben. Ich lebe hier deshalb meinem Team eine sehr tolerante Fehlerkultur vor und möchte eine Chefin sein, zu der alle kommen können, wenn beispielsweise ein Fehler passiert ist. Dann schaue ich mir das an und sage auch ganz offen, wenn das Problem auf unserer Seite liegt. Ich möchte auf keinen Fall, dass meine Redaktion den Eindruck erhält, man dürfe über Fehler nicht sprechen – natürlich nehme ich die meinen davon nicht aus. Letztlich sind sie eine Chance für alle. Und diese Chance ergreifen wir. Mein Team ist hochmotiviert und lernt gerne und sehr schnell. Klar ist das ein bisschen Training on the Job, aber das macht den Job auch so spannend. Ich bin meinen Kolleginnen und Kollegen sehr dankbar dafür, dass sie das alles so mittragen und mitmachen. Das ist wirklich mal eine lernende Organisation.

Bettina Steinke (34) ist seit 1. Januar 2022 Chefredakteurin der Funke-Reichweitenportale ­derwesten.de, thueringen24.de, news38.de und moin.de. Die gebürtige Münchnerin war dort von August 2019 bis April 2021 bereits stellvertretende Chefredakteurin. Zuvor hatte sie als stellvertretende Redaktionsleiterin an der Neuaufstellung der Portale mitgearbeitet. Im Mai 2021 wechselte sie zu Springer und war dort bis Ende desselben Jahres stellvertretende Nachrichtenchefin von „Bild“.

Aber wenn maximale Reichweite das primäre pu­blizistische Ziel ist: Steckt man da nicht zwangsläufig in einer Dynamik, die einen dazu verleitet, im Klickrausch immer weiter zu überdrehen?

Also wenn man auf die Anfangszeit zurückblickt, kann man definitiv sagen, dass wir damals wie im Rausch waren. Es ging einfach immer weiter nach oben, wir wurden nie gebremst. Und das bringt natürlich auch Gefahren mit sich. Das ist so eine Art Erfolgsrausch, in dem man sich befindet. Denn dass „Der Westen“ eine absolute Erfolgsgeschichte geschrieben hat, ist nun mal unbestritten. Als ich im April 2018 anfing, hatten wir rund 15 Millionen Visits im Monat. Im Mai ging es dann auf die 20 Millionen zu und im Frühjahr 2020, kurz vor der Coronapandemie, waren wir schon bei 75 Millionen. Also: Was wir damals als Team auf die Beine gestellt haben, war groß. Das kann man gar nicht anders bezeichnen. Solche Erfolgsgeschichten finden Sie in der Breite in der Medienbranche nicht so häufig.

Das klingt ein wenig, als würden Sie sich von der Branche missverstanden fühlen.

Nein, das natürlich nicht. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass man auf „Der Westen“ und unsere Entwicklung etwas differenzierter schaut: Boulevard ist eben eine andere Gattung von Journalismus. Ich würde mir aber auch wünschen, dass man anerkennt, dass wir dazugelernt haben und vieles so nicht mehr machen. Es gibt mittlerweile etwa auch viele umfangreiche Schulungen für das Team, in denen wir unsere neuen Kriterien vermitteln. Zudem sprechen und reflektieren wir viel mehr über Zeilen und Formulierungen. 

Sie scheinen für so etwas wie „gesundes Clickbait“ zu plädieren. Ich würde dagegen sagen, der Journalismus braucht dieses Genre überhaupt nicht. 

Ich weiß, dass viele der Meinung sind, Clickbaiting sei grundsätzlich ein No-Go und schändlich. Für mich aber gehört dieses „gesunde Clickbait“ tatsächlich zum Boulevardjournalismus dazu. Boulevard darf laut sein, darf Spannung erzeugen mit einer Zeile. Ich finde daran nichts verwerflich. Und natürlich geht es hierbei letztlich auch um ein journalistisches Geschäftsmodell. Jedes Medium in Deutschland hat da seine eigene Strategie – und wir haben uns mit diesen Portalen für eine reichweitenbasierte entschieden. Für uns war ganz klar, dass wir uns abgrenzen wollen, auch von den anderen Markenportalen im Funke-Portfolio. Funke verfolgt diese Strategie unterschiedlicher journalistischer Ansätze in einem Unternehmen ganz bewusst – das ist natürlich auch wichtig für unsere Absicherung als erfolgreiches Medienhaus. Und ich denke, dass dieses Hand-in-Hand journalistisch sehr gut funktioniert. Aber nochmal: Entscheidend für eine ethische Bewertung von Clickbaiting ist aus meiner Sicht das Wie. Und darüber reflektieren wir mittlerweile ständig. 

Der Vorwurf lautet ja auch, dass Menschen so zum Klick auf Inhalte verleitet werden, die sie eigentlich nicht interessieren. Wie sieht denn im Gegensatz dazu eine Person aus, die bewusst auf „Der Westen“ geht und dort Inhalte gezielt konsumiert? 

Wir haben für „Der Westen“ mehrere Personas definiert, weil wir eine sehr breite Zielgruppe ansprechen. Dabei stehen vor allem zwei im Vordergrund: Die eine haben wir Pia Promi genannt. Sie ist relativ jung, Anfang 20, wohnt eventuell noch bei ihren Eltern oder hat gerade die erste Wohnung bezogen. Sie hat ein höheres Bildungsniveau, interessiert sich aber gleichzeitig für Promi-Themen, Trash-TV und tauscht sich mit ihren Freundinnen an der Uni gerne mal über das Dschungelcamp aus. Dieses Phänomen kennen wir ja mittlerweile. Gleichzeitig interessiert sie sich aber durchaus für gesellschaftliche Themen wie Umwelt und Klima. Pia Promi ist ein News-Junkie, nutzt dazu aber kein feststehendes Medium, sondern googelt die Sachen, die sie interessieren, einfach. Und daraus folgt natürlich unser Anspruch, bei solchen Suchen ganz weit oben zu stehen. Tatsächlich generiert „Der Westen“ einen großen Teil seiner Reichweite über Google. 

Und die zweite Nutzer-Persona?

Der heißt Stefan Sportler und ist sehr großer Schalke-Fan, interessiert sich aber natürlich auch für den BVB. Im Gegensatz zu Pia Promi würde er unsere Seite gezielt ansteuern, um die Sportberichterstattung zu lesen. Das wäre dann ein loyaler Nutzer. Diese Gruppe an loyalen Nutzern aufzubauen, steht bei uns in den nächsten Monaten tatsächlich auch im Vordergrund.

 

Boulevard darf laut sein, darf Spannung erzeugen mit einer Zeile. Ich finde daran nichts verwerflich.

 

Ist das jetzt etwa die heimliche Abkehr vom Reichweitengeschäft? 

Das nicht. Aber es ist doch offensichtlich, dass das Reichweitengeschäft kein einfaches ist. Mal geht es nach oben, mal nach unten, die Schwankungen können enorm sein. Um also diese redaktionelle Unit langfristig abzusichern, ist es mir sehr wichtig, dass wir mehr auf loyale Nutzer setzen.

Bei Ihrem Antritt hatten Sie ja Änderungen angekündigt. Was wird derzeit noch umgekrempelt?

Es hat sich bisher sehr viel verändert. Es geht dabei um Themen wie mehr Nutzerfreundlichkeit und die Bindung von loyalen Nutzern, aber auch den Ausbau neuer Newsletter und der Social-Kanäle. Vor allem hat sich definitiv unser Fokus auf Reichweite verändert. Als ich zurückgekommen bin, habe ich im Gegensatz zum jahrelang gelebten Standard in unserer Redaktion überhaupt keine Reichweitenziele vorgegeben. Denn ich wollte, dass wir uns erst einmal in anderen Bereichen entwickeln, dass wir auch an Inhalte herangehen und diese noch einmal neu denken können – und zwar ohne dass der Druck der Zahlen über allem steht. Man kann von seinem Team nicht erwarten, immer größere Reichweiten zu erzielen und gleichzeitig einen stärkeren Fokus auf Inhalte und deren Reflexion zu legen. Aber es geht diesen Weg mit und bringt immer wieder tolle Ideen ein.

„Ich fahre ganz klar eine andere Linie: Es wird hier nicht mehr passieren, dass Ausfälle von Newsroom-Kollegen zulasten der Reporter-Dienste gehen.“

Sie haben auch angekündigt, die Reporterkapazitäten auszubauen. Gab es denn interne Vorgaben, das Clickbait-Modell komplett zu überdenken?

Nein, es gab intern nie eine solche Vorgabe. Das ist einfach meine persönliche journalistische Überzeugung: Mir geht es um Inhalte – und ich bin überzeugt, dass man diese auch mit Reichweite kombinieren kann. Gerade in meiner Zeit als stellvertretende Nachrichtenchefin bei „Bild“ habe ich dazu noch viel mitgenommen. Für mich ist deshalb klar, dass wir vieles neu denken müssen. Zum Beispiel liegt die DNA von „Der Westen“ meiner Meinung nach immer noch im Ruhrgebiet. Deshalb müssen wir etwa unsere Regionalberichterstattung ausbauen. Ebenso bin ich der Meinung, dass wir unsere Distributionskanäle besser aufstellen müssen, beispielsweise mit Newslettern. Aber ein guter Newsletter braucht einzigartige und eigene Inhalte. Allein schon für diese beiden inhaltlichen Neuerungen braucht es also mehr Reporterkapazitäten. 

Es ist sicher nicht einfach, diesen Ansatz in einer Redaktion zu etablieren, die auf ganz andere Sachen getrimmt war.

Natürlich nicht. Wir wissen alle, dass Reporter die teuersten Kräfte sind, die man in Redaktionen haben kann. Ein Reporter schreibt nicht zehn Stücke am Tag runter, sondern höchstens vielleicht zwei. Somit ist das immer auch eine Kostenfrage. Zudem fahren wir hier im Newsroom ein extrem eng getaktetes Schichtsystem. Wenn früher ein Redakteur ausgefallen ist, war es üblich, einfach einen Reporter dort hinzusetzen. Hauptsache, man hatte jemanden, der schnelle Nachrichten produzieren konnte, um bei Google zu punkten. Das kann man alles durchaus sinnvoll begründen – ich fahre aber ganz klar eine andere Linie: Es wird hier nicht mehr passieren, dass Ausfälle von Newsroom-Kollegen zulasten der Reporter-Dienste gehen. Wir haben zudem einen erfahrenen Kollegen zum Chefreporter gemacht, der die jüngeren Kollegen coacht und so oft wie möglich mit ihnen zusammen für eine Story rausgeht. Das sind dann sogar zwei Leute für eine einzige Geschichte. Aber hinter dieser Entscheidung stehe ich zu hundert Prozent. Das hat auch noch einen weiteren Hintergrund: Gute junge Leute zu finden und vor allem im eigenen Unternehmen zu halten, ist in unserer Branche heute bekanntlich nicht einfach. Ich möchte deshalb den jungen Menschen, die hier bei uns ihr Volontariat machen oder in den Job einsteigen, eine optimale Ausbildung ermöglichen und einen attraktiven Arbeitsplatz bieten. 

Wie setzen Sie diesen neuen Anspruch in der aktuellen Berichterstattung konkret um? 

An unserer Arbeit zum Krieg in der Ukraine kann man das gut zeigen. Beispiel Nutzerbindung: Wir haben etwa direkt nach dem Start des russischen Angriffskrieges eine Hilfsplattform auf Facebook gegründet, auf die es eine extrem große und positive Resonanz gab. Leute konnten dort schreiben, wenn sie eine Wohnung frei hatten oder Geflüchtete aus der Ukraine anderweitig unterbringen konnten. Oder ein Beispiel aus der rein journalistischen Arbeit: Wir haben einen Reporter an die Grenze zur Ukraine geschickt, der ganz großartige Geschichten und Schicksale erzählt hat. Etwa als ihm die Menschen berichteten, was sie in ihren Koffern dabeihatten und warum. Da kommt man emotional ganz nah an die Menschen ran, weil es letztlich um eine ernste Frage geht: Was ist dir wichtig, wenn es um alles geht? Boulevardjournalismus at its best. Ich finde, das sind Geschichten, die eine absolute Berechtigung haben.

Einverstanden. Ich würde aber schätzen, dass über 90 Prozent der Texte auf Ihrer Startseite noch nicht auf eigenen Recherchen beruhen. 

Der Anteil ist definitiv noch zu gering. Ich möchte aber, dass wir mehr dieser Geschichten machen, das ist mein klarer Anspruch. Denn für solche Storys, die Menschen erreichen und berühren, bin ich Journalistin geworden. Und davon werden wir schrittweise auch immer mehr veröffentlichen. Wie gesagt, wir waren bisher sehr auf Naht gestrickt. Aber dass wir solche Projekte überhaupt jetzt machen können, dass wir einen Reporter in die Ukraine oder auch eine Reporterin zur Beerdigung der Queen nach London geschickt haben, das wäre vor zwei Jahren noch undenkbar gewesen. Und darauf bin ich stolz. 

Wie wird die neue Ausrichtung im Team aufgenommen?

Ich merke, auch das Team findet es unglaublich toll zu sehen, dass wir hier plötzlich neue Dinge machen können. Diese Dinge können wir aber auch nur machen, weil wir in den vergangenen Jahren diese unglaubliche Erfolgsgeschichte geschrieben haben und dadurch beispielsweise auch neue Stellen bekommen haben. Denn das muss man natürlich auch einmal ganz klar sagen: Es ist ja nicht so, als hätten wir bisher alles falsch gemacht – das absolute Gegenteil ist der Fall. Meine Vorgängerin hat einen großartigen Job gemacht. Aber es war vielleicht einfach an der Zeit, den nächsten Schritt in der Erfolgsgeschichte von „Der Westen“ zu gehen. Ich glaube, diese Entwicklung tut auch dem Team gut. Denn es ist wichtig, mit neuen Aufgaben die Motivation in einer Redaktion hochzuhalten und gleichzeitig etwas Druck rauszunehmen. Es ist wahnsinnig anstrengend, ausschließlich Reichweiten-Storys zu produzieren und immer wieder diesen Traffic-Schwankungen ausgesetzt zu sein. 

Interessant, dass Reichweitenjournalismus offenbar nicht nur für viele Nutzer, sondern auch für die Menschen in den Redaktionen anstrengend ist. 

Ich glaube, dass Reichweitenjournalismus extrem anstrengend für Redakteure ist. Denn es bedeutet, nie Recherchen im eigenen Tempo und auf eigene Initiative machen zu können, sondern immer reagieren zu müssen. Man muss sich immer unter Zeitdruck darüber Gedanken machen, wie man eine Geschichte am besten verkauft, um sie für die Leute spannend zu machen. Und es kann dann sehr zermürbend sein, wenn die Reichweite ausbleibt, weil Google sich dafür entschieden hat, dass das Thema heute mal nicht so relevant ist. Wir haben in den vergangenen Jahren sehr viele gute Kolleginnen und Kollegen verloren und ich glaube, dass ein Grund eben auch diese Belastung im Reichweitengeschäft ist. Ich bin optimistisch, dass wir durch unsere neue Ausrichtung diese Entwicklung stoppen können.

Ich bezog das allerdings eher auf das Hochjazzen von Geschichten, die eigentlich keine sind. Etwa über den Post eines Users, der sich über eine zu kleine Tiefkühlpizza beschwert. Das kann doch keine journalistische Zufriedenheit verschaffen. 

Wie hätten Sie sich denn gefühlt, wenn Ihre Pizza nach dem Auspacken viel kleiner als erwartet gewesen wäre?

Ich hätte zumindest nicht erwartet, dass irgendein Medium über meine Gefühle schreibt.

Im Ernst: Ich würde „Hochjazzen“ zunächst einmal in große Anführungszeichen setzen. Natürlich ist auch dieser Teil der Arbeit herausfordernd und anstrengend. Ich mache keinen Hehl daraus, dass wir sicherlich auch deshalb schon gute Leute verloren haben. Aber all diese Erfahrungen haben mich eben dazu veranlasst, ein Stück weit umzudenken und Dinge anders machen zu wollen. Und weil Sie die Pizza-­Story angesprochen haben, die ja ebenfalls schon rund vier Jahre zurückliegt: Wir haben mittlerweile ganz klare Richtlinien, was eine Story für uns ist und was nicht. Und da wäre die Einzelmeinung eines Aldi-Kunden bei Facebook definitiv kein Relevanzkriterium. Wir haben solche Geschichten früher tatsächlich oft gemacht, aber auch das ist nicht mehr so. 

Was macht denn heute eine gute Geschichte aus?

Das kann man gut anhand von Verbraucherthemen erklären. Eine gute Geschichte ist für mich eine, mit der mehrere Leser konfrontiert werden und deren Auswirkung mehrere Leser beeinflusst. Wenn Aldi jetzt beispielsweise das Kassensystem ändert und es keine Kassiererinnen und Kassierer mehr gibt, dann ist das sehr wohl eine Geschichte für uns. Aber wenn bei Aldi irgendwo im Gang eine Milchtüte zerplatzt ist und sich jemand im Netz darüber aufregt, dass das noch nicht weggewischt wurde, dann ist das eben keine Geschichte. 

Frau Steinke, eine letzte Frage: Warum braucht es überhaupt Angebote wie „Der Westen“? 

Weil wir unabhängigen Boulevardjournalismus machen. Wir sind keine Hofberichterstatter, weder für Sportvereine, Politiker oder Promis. Wir brauchen in Deutschland zudem Boulevardportale, die ehrlich und offen über die Dinge berichten, wie sie sind. Wir brauchen Portale, die nah am Leser dran sind, diese ernst nehmen und sie nicht verurteilen, weil sie etwas Bestimmtes lesen oder wählen. Ich glaube, dass in der Vergangenheit viele Medien den Fehler gemacht haben, zu sehr aus der Vogelperspektive zu berichten, und dabei zum Beispiel auf Menschen, die AfD gewählt hatten, herabgeschaut haben. Boulevardjournalismus kann das besser, weil wir sehr nah an den Menschen dran sind. Fehler gehören auch bei uns dazu, und wir nehmen diese Kritik sehr ernst. Aber wir werden uns ganz sicher auch weiterhin erlauben, auch mal laut und unbequem zu sein. 

Dieser Text stammt aus Ausgabe 05/22 von „medium magazin“. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk