Boulevard: Warum BILD-Mitarbeitende sich schämen

Keine Medium polarisiert so stark wie BILD. Der Journalismusforscher Volker Lilienthal erhielt erstmals Zugang zur Redaktion. Im neuen „medium magazin“ verrät er, was ihn dort am meisten überraschte – und warum er mit einem berühmten Max-Goldt-Zitat nichts anfangen kann. 

Interview: Alexander Graf

Herr Lilienthal, wie kam es, dass Sie erstmals eine ­regelrechte Feldforschung in der „Bild“-Redaktion durchführen konnten?

Ich bin 2019 zweimal dem damaligen Chefredakteur Julian Reichelt auf Podiumsdiskussionen begegnet. Wir haben uns dort zwar immer auftragsgemäß gestritten, aber hinterher hat er sich jovial verabschiedet und sinngemäß gesagt, „Bild“ stünde mir jederzeit offen. Ich habe ihn dann per Brief gefragt, ob ich das so verstehen dürfte, dass er seine Redaktion der Forschung öffnet. Bei einem anschließenden persönlichen Treffen musste ich kaum noch Überzeugungsarbeit leisten. Er hielt sich ja eine „Open House Policy“ zugute.

Volker Lilienthal ist Inhaber der Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus an der Universität Hamburg. Zuvor war er verantwortlicher Redakteur von „epd Medien“. Zuletzt ist sein Aufsatz „Medienethik bei Bild“ erschienen (edoc.ku.de/id/eprint/31813/).

Gab es keine Bedingungen?

Voraussetzung war natürlich, dass die Redaktionsmitglieder freiwillig mit mir sprechen würden. Sie durften die Interviews zudem autorisieren, was forschungsethisch in Ordnung ist. Klar war auch, dass die Chefredaktion nicht darüber informiert wird, mit wem ich sprechen würde. Eigentlich gibt es bei solchen Vorhaben Forschungsverträge, aber Reichelt hielt das nicht für nötig. Mir war das recht: Wenn so ein Vertrag auf dem Tisch von Springer-Juristen gelandet wäre, hätten die Bedenkenträger womöglich überwogen. 

Wie offen stand Ihnen die Redaktion schließlich?

Ich konnte im Jahr 2020 mit 43 Mitarbeitenden sprechen, die ich aus allen ­Hierarchieebenen ausgewählt habe. Zudem war ich an neun Beobachtungstagen vor Ort in der Redaktion – die Coronapandemie brachte dabei leider Einschränkungen mit sich. Dennoch: Bisher gab es in der Forschung eigentlich nur Inhaltsanalysen aus sicherer Entfernung, „Bild“-Mitarbeitende wurden in der Kommunikationswissenschaft so gut wie nie befragt.

Allerdings saßen Sie Medienprofis gegenüber, die ganz genau wissen, was erwünschte Antworten sind. Wie geht man in der Forschung damit um?

Absolut. Das müssen wir gerade bei dieser „Bild“-Befragung in Rechnung stellen. Aber ich habe natürlich entsprechend nachgefragt und auch hinterher die Antworten mit der Realität abgeglichen. Tatsächlich gab es das Phänomen, dass etwa ein Ressortleiter beteuerte, Kinder in der Berichterstattung würden komplett unkenntlich gemacht, ein Standard, der aber nachweislich nicht immer eingehalten wurde.

 Gab es nach der Veröffentlichung Ihres Aufsatzes schon Reaktionen von Gesprächspartnern?

Erstaunlicherweise nicht. Die einzige Rückmeldung kam von Herrn Reichelt. Inhaltlich möchte ich darauf nicht weiter eingehen – sie war allerdings eindeutig negativ. 

Welche Erkenntnis hat Sie überrascht? 

Überrascht hat mich, dass die Redaktionskultur bei „Bild“ wirklich sehr verschiedenartig ist. Da gibt es einerseits diesen scharfen Ton, den man schon aus der Amazon-Doku kannte. Dazu das starke Chefredakteursprinzip, das viele Vorurteile bestätigt. Aber andererseits gibt es sehr zugängliche, nachdenkliche, kluge Kolleginnen und Kollegen, die manchmal mit dem hadern, was sie so hervorbringen – oder was die jeweilige Chefredaktion ihnen hervorzubringen vorgibt. Die fremdeln durchaus, verspüren eine innere Distanz zu „Bild“. Ich habe mehrfach gehört: Ich nehme „Bild“ schon lange nicht mehr zur Hand. Und: Ich fühle mich bei tagesschau.de besser informiert als auf bild.de. 

Es gibt ja dieses Max-Goldt-Zitat, in dem es sinngemäß heißt, „Bild“-Mitarbeitende seien schlechte Menschen und gesellschaftlich inakzeptabel. Dem würden Sie also nicht zustimmen?

Richtig. Dieses übliche „Bild“-Bashing möchte ich mir nicht zu eigen machen. Tatsächlich habe ich mich als Forscher dazu ermahnt, mich von kursierenden Vorurteilen freizumachen. Sonst findet man nichts Neues heraus. 

Aber ist es moralisch nicht sogar irritierender, wenn diese „klugen und nachdenklichen“ Menschen trotz ihrer inneren Distanz zu „Bild“ weiter für so eine polarisierende Marke arbeiten?

Etliche Befragte schämen sich, weil sie auf Partys und Familienfeiern immer wieder damit konfrontiert werden: Was, du arbeitest bei „Bild“, wie kannst du das vertreten? Sie fragen dann oft zurück, wann die andere Person das letzte Mal eine „Bild“-Zeitung in der Hand hatte. Und weil das oft ewig zurückliegt, glauben sie dann, sie hätten einen weiteren Beleg dafür gefunden, dass die Kritik an „Bild“ oft gar nicht auf echten Erfahrungswerten beruhe. Das beruhigt dann ein wenig das Gewissen. 

(…)

Im kompletten Interview lesen Sie unter anderem, wie Julian Reichelts Führungsstil BILD geprägt hat und welche Themen sich viele Redaktionsmitglieder eigentlich in ihrem Blatt wünschen würden. 

Jetzt das vollständige Interview mit Volker Lilienthal lesen

 

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