„Chinas Tage als Propagandagesellschaft sind gezählt“

2009 reisten die deutschen Journalisten Sonja Broy, Falk Hartig und Markus Wanzeck als erste deutsche Stipendiaten des Journalisten-Austauschprogramms „Medienbotschafter China – Deutschland“ (s.a. mediummagazin 1-2010, S.44f – „Im Land der Morgenröte“) nach Peking.
Dort interviewten sie drei chinesische Kollegen zu den medialen Bedingungen und Sichtweisen vor Ort, die sich in bemerkenswerter Offenheit äußerten:

1) Michael Anti: (bürgerlicher Name: Jing Zhao), 34, kam über Umwege zum Journalismus. Er arbeitet zunächst als Informatiker. Als er 2001 bei einem Jobwechsel einen Monat zu überbrücken hatte, bot ihm ein Freund an, während dieser Zeit einige Kommentare für eine chinesische Tageszeitung zu verfassen. Anti fand daran so viel Gefallen, dass er nicht nur den Job, sondern gleich die Branche wechselte. Seitdem arbeitete er für verschiedene chinesische und amerikanische Zeitungen als Kommentator und Reporter, zudem begann er zu bloggen. 2005 wurde er weltweit bekannt, als Microsoft seinen Blog auf Bestreben der chinesischen Regierung aus dem Netz nahm – Anti hatte darin über die Entlassung eines zu kritischen Chefredakteurs und einen daran anschließenden Journalistenstreik geschrieben. 2007 und 2008 verbrachte er mithilfe von Stipendien an den Universitäten Cambridge und Harvard.

2) Yan Huang (38), studierte zunächst Englisch in Yantai und anschließend Internationalen Journalismus in Peking. Ab 1994 arbeitete sie bei der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua, zunächst als Inlandsredakteurin im englischsprachigen Service. 2001 kam sie für zwei Monate nach Deutschland, um als IJP-Stipendiatin bei der dpa zu arbeiten. 2007 absolvierte Huang, finanziert durch ein Chevening-Stipendium, ein Masterstudium in Kommunikationswissenschaften an der University of Westminster in London. Seit Januar 2009 ist sie leitende Redakteurin bei China Features, einer englischsprachigen Reportage-Redaktion der Nachrichtenagentur Xinhua, die mit chinesischen und internationalen Medien zusammenarbeitet.

3) Fangfang Li (30), studierte unter anderem Internationalen Handel in China und den Niederlanden. Seit 2004 arbeitet sie für „China Daily“, die auflagenstärkste englischsprachige Tageszeitung des Landes. Zunächst war sie Reporterin für „China Business Weekly“, die wöchentliche Beilage der Zeitung. Derzeit ist sie Redakteurin und Reporterin im Wirtschaftsressort. Für ihre Reportagen reist sie regelmäßig durch China und nach Europa.

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Das komplette Interview:

Wir sitzen heute zusammen, um über Journalismus in China und die westliche Medienberichterstattung über China zu sprechen. Wie ist es um den Journalismus bestellt in einem Land, in dem der staatliche Zensurapparat über die Medien wacht und jederzeit missliebige Journalisten entlassen kann?
Michael Anti: Nicht nur das. Es kommt auch vor, dass ganze Zeitungen dichtgemacht werden. Den „21st Century World Herald“, für den ich tätig war, erwischte es 2003 wegen eines Artikels, der sich kritisch mit der Amtszeit des scheidenden Staatspräsidenten Jiang Zemin auseinandersetzte. Der Herald hatte mich gerade als Kriegsreporter in den Irak geschickt. Drei Tage, nachdem ich in Bagdad gelandet war, gab es meine Zeitung nicht mehr. Ich fühlte mich wie der Soldat eines Landes, das plötzlich von der Erdoberfläche verschwunden ist. Es wird seine Zeit dauern, bis sich professioneller, unabhängiger Journalismus in China etablieren kann. Denn es war jahrzehntelang völlig selbstverständlich, dass Medien als Sprachrohr der Kommunistischen Partei fungierten. Sie sollten die Menschen erziehen und dazu beitragen, in dem Riesenreich eine nationale Identität zu stiften. Doch die Zeichen des Wandels sind unverkennbar. Chinas Tage als Propagandagesellschaft sind gezählt.

Von Pressefreiheit ist China aber noch ein Stück weit entfernt.
Anti: Die heutige Situation kann man nicht mehr mit der vor zwanzig Jahren vergleichen. Am Rande der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens zeigten sich 1989 auch einige Mitarbeiter einer staatlichen Zeitung. Sie trugen Transparente: „Glaubt uns nicht!“. Chinesische Medien hatten früher keinerlei Glaubwürdigkeit.
Und heute?
Yan Huang: Es gibt ein Sprichwort in China: Es ist leichter, einen Tempel zu zerstören als einen Tempel zu errichten. Ist die Glaubwürdigkeit erst einmal dahin, ist es sehr schwer, sie wieder herzustellen. Viele Chinesen – und natürlich die westlichen Medien und Beobachter – bringen chinesischen Medien generell Misstrauen entgegen.
Anti: Die meistverbreitete Zeitung Chinas ist mit einer Auflage von rund drei Millionen „Cankao Xiaoxi“ – eine Zeitung ausschließlich mit chinesischen Übersetzungen ausländischer Artikel. Das muss man sich mal vorstellen! Bizarr, oder?
Huang: Aber in ihrem eingeschliffenen Generalverdacht übersehen die Menschen im Westen die vielen kleinen Fortschritte, die es in China in den letzten Jahren gegeben hat. Und sie tun oft den chinesischen Journalisten Unrecht, die unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Huang: Wir müssen nicht nur journalistisch denken und arbeiten, sondern auch ein Gefühl dafür haben, wie das Propaganda-Ministerium tickt.

Um sich in vorauseilendem Gehorsam selbst zu zensieren?
Huang: So meine ich das nicht. Manche Themen sind natürlich tabu. Aber es tun sich immer wieder Spielräume auf. Als sich das verheerende Sichuan-Erdbeben zum ersten Mal jährte, erfuhr ich von dem Selbstmord eines Staatsbediensteten in dieser Region. Er war von der Regierung eingesetzt worden, um den Geschädigten der Katastrophe zu helfen. Ihm selbst half niemand – dabei hatte er seinen Sohn durch das Erdbeben verloren. Er kam darüber nicht hinweg. Mir war klar, dass das ein ziemlich heikles Thema ist. Also gab ich meinen Kollegen vor Ort Anweisung, mir so schnell wie möglich einen Text über diese Geschichte zu liefern. Der Artikel erschien am nächsten Tag. Gerade noch rechtzeitig. Tags darauf tauchte das Thema auf dem Index der Propagandabehörde auf. Bei heiklen Themen muss man eben schneller sein als der Zensor.

Welche heiklen Themen stehen auf dieser Tabuliste?
Anti: Diese Liste ist lang und in ändert sich ständig. Aber feste Bestandteile sind sicherlich Falun Gong und die blutige Niederschlagung der Studentenproteste am 4. Juni 1989. Und direkte Kritik an den KP-Oberen.
Fangfang Li: Aber die Liste ist in den letzten Jahren kürzer geworden. Im vergangenen Jahr haben wir bei „China Daily“ zum ersten Mal einen Artikel über das Leben homosexueller Chinesen veröffentlicht. Das wäre fünf Jahre zuvor noch undenkbar gewesen. Und zu anderen Themen, über die wir vor fünf Jahren nur in den rosigsten Farben berichtet haben, können wir nun ausgewogenere Artikel schreiben, die auch kritische Aspekte enthalten.
Anti: Stimmt, „China Daily“ ist stellenweise fast schon wie eine richtige Zeitung.
Li: Man muss manchmal eben ein gewisses Fingerspitzengefühl haben, wie man einen Artikel beginnt oder welche Überschrift man wählt. So kann man sich mehr Freiheiten für den Rest des Artikels erarbeiten. Im Wirtschaftsressort, wo ich arbeite, gibt es wenige Themen, die völlig tabu sind.
Anti: Wobei man auch sagen muss, dass „China Daily“, als größte englischsprachige Zeitung, die sich vor allem an ausländische Leser richtet, sich vergleichsweise viel Liberalität leisten kann.
Chinesisch- und englischsprachige Medien sind unterschiedlich frei?
Anti: Sicherlich. Englischsprachige chinesische Medien können oft freier berichten. Die Regierung misstraut ihren Bürgern. Und die allermeisten von ihnen verstehen kein Englisch. Das Propagandaministerium ist da nicht ganz so streng, weil sie denken, das versteht doch ohnehin kaum jemand. Das ist auch der Grund, warum als heikel erachtete chinesischsprachige Internetseiten radikal zensiert werden, wohingegen fremdsprachige oft auch innerhalb Chinas zugänglich bleiben.

Lässt sich dieser Unterschied auch aufseiten der Journalisten feststellen? Arbeiten die liberaleren Journalisten bei den fremdsprachigen Medien und die parteinahen bei den chinesischsprachigen?
Anti: Ich würde sagen, die meisten Journalisten in China sind freiheitlich gesinnt. Selbst wer am Anfang seiner Journalistenkarriere der Partei noch sehr nahesteht, ist nach ein paar Jahren von den Zensurgelüsten des Propagandaapparates ordentlich angefressen. Die Absurditäten des Arbeitsalltages verdeutlichen den meisten Journalisten den Wert der Pressefreiheit.
Huang: Ich bezweifle aber, dass Menschen, die im chinesischen Denken verharren und außer China nichts gesehen haben, gute Journalisten werden können. Die chinesische Mentalität und kritischer Journalismus passen nur schlecht zusammen. Meiner Meinung nach müssen Chinesen eine Fremdsprache lernen und damit auch eine andere Sicht auf die Welt. Und wer nie aus dem Dorf China herausgekommen ist, dem fehlt überdies eine Vergleichsperspektive; ein Gesamtbild, in das er die Dinge, über die er schreibt, besser einordnen kann.

Sie drei haben eine Vergleichsperspektive: Sie lebten eine Zeit lang in Europa bzw. den USA und haben Erfahrungen mit Medien aus diesen Ländern gemacht. Wie beurteilen Sie die Arbeit westlicher Medien?
Huang: Moderner Journalismus war ein Kind der westlichen Welt. Inzwischen ist es erwachsen. Der chinesische Journalismus kommt sozusagen gerade erst in die Pubertät, und insofern gibt es für ihn noch einiges zu lernen. Auf der anderen Seite beobachte ich, dass westliche Medien bisweilen auch ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen: Sie sind oft auf der Suche nach reißerischen Geschichten, und manchmal werden sie dabei das Opfer ihrer Sensationsgier. Gerade auch in ihrer China-Berichterstattung.
Li: Das stimmt. Vor ein paar Tagen erst haben wir in der Redaktion über dieses Thema diskutiert. Amerikanische Medien hatten berichtet, die chinesische Regierung würde Menschen mit Schweinegrippe-Verdacht in dunkle, dreckige Räume wegsperren. Vielleicht ist das an ein, zwei Orten vorgekommen. Aber es war keinesfalls repräsentativ für die allgemeinen Verhältnisse. Das wurde natürlich nicht erwähnt.
Huang: Ich habe schon einige ähnliche Erfahrungen gemacht. In einer Fernsehdokumentation der BBC beispielsweise wurde ein banaler Streit zwischen einem tibetischen Hotelbesitzer und einem Han-chinesischen Taxifahrer zu einem Paradebeispiel für den ethnischen Konflikt zwischen diesen beiden Volksgruppen aufgebauscht. Das fand ich einfach lächerlich.

Führen also die vermeintlich ehrenwerten westlichen Medien ihrerseits eine Propagandaschlacht gegen die chinesische Regierung?
Anti: Viele westliche Medienberichte über China sind tendenziös. Ich würde aber nicht sagen, dass propagandistische Absichten dahinter stecken. Den meisten Medien in Europa und den USA nehme ich ihre Unabhängigkeit von der Politik ab. Die Probleme liegen woanders: Unwissenheit, interkulturelle Missverständnisse, hoher Zeitdruck. Einmal habe ich mit dem Korrespondenten eines sehr renommierten amerikanischen Mediums zu tun gehabt. Er hatte keinen blassen Schimmer von der chinesischen Politik – aber er musste ja irgendetwas schreiben. Also schrieb er über China wie über Afrika. Er fabrizierte Abenteuergeschichten.
Huang: Ich glaube, man kann nicht alle voreingenommenen Berichte über China mit interkulturellen Missverständnissen oder Inkompetenz erklären. Manche westlichen Medien führen ihr Publikum bewusst in die Irre. Sie nehmen das in Kauf für eine gute Geschichte, für eine spektakuläre Schlagzeile.
Anti: Man muss aber auch sehen, wie riesig und unübersichtlich China ist, wie vielschichtig und oft widersprüchlich die gesellschaftlichen Phänomene sind. Das Land hat sich in den letzten dreißig Jahren unglaublich rasant gewandelt. Wie soll da ein westlicher Journalist in der Lage sein, alle Dinge richtig einzuordnen? Im Grunde können doch nicht einmal die Chinesen selbst so richtig verstehen, wie ihnen geschieht.