„Das wird ein brutaler Sprung!“

Lukas Kircher

Mediendesigner Lukas Kircher über Anforderungen des iPads an Redakteure und Konzeptioner – und seine Lieblings-Apps: Die Langfassung des Interview von Ulrike Langer (siehe Special „iPad medium magazin 7-8/2010)

Sie haben das iPad eine „gut gemachte Schachtel für Inhalte“ genannt. Was kann Nutzer verlocken, die Schachtel zu öffnen und sich mit den Inhalten zu beschäftigen?

Lukas Kircher: Da müssen Sie erst einmal einen Schritt zurück gehen. Es gibt keine iPad-spezifische Umsetzung von Inhalten, sondern eher die grundlegende Frage, mit welchen Inhalten Medien den Menschen das täglichen Leben erleichtern, sie fesseln, sie inspirieren oder unterhalten, etc. Wenn ich mir darüber im klaren bin, kann ich anfangen Inhalte zu erzeugen und Apps zu konzipieren, die diese Probleme lösen oder diese Art von Inspiration geben.

Bedeutet das, Zeitungen und Magazine sollen sich überlegen, was ihr Markenkern ist?

Nein, sie sollen sich überlegen, was ihre Nutzer brauchen. Der Markenkern ist natürlich wichtig, aber sehr marketingtechnisch gedacht. Die Anbieter sollten vom Leser her denken: Welche Rolle kann dieses Device im täglichen Leben eines Lesers spielen? Ich lese zum Beispiel den „Spiegel“ auf dem iPad. Das ist eine ganz einfache 1:1 Übersetzung des gedruckten „Spiegel“. Die App erspart mir aber den Weg zum Kiosk, also erfüllt sie eine ganze einfache Aufgabe: Das Bestehende übertragen.

Finden Sie die „Spiegel“-App gut?

Oh ja, durchaus. Gerade, weil sie eigentlich nicht gut ist. Sie übersetzt einfach nur den „Spiegel“, so wie er ist, auf das iPad. Da ich inzwischen ein echter iPad-Nutzer geworden bin, ersetzt das für mich den gedruckten „Spiegel“. Das wird für andere Anbieter aber ganz anders sein. Eine Regionalzeitung könnte sich überlegen, wie sie auf dem iPad das sehr regionale Thema Wetter gestalten will. Oder sie könnte Couponing anbieten, Vorteilsangebote für Leser in der Region. Das ist natürlich eher ein Vertriebs- und Marketingthema. Wieder andere Verlage überlegen, in das Buchgeschäft einzusteigen. Das macht durchaus Sinn, weil die Grenze zwischen einem Buch und einer Zeitschrift oder Zeitung auf einem iPad durchlässiger ist, als im klassischen Druckgeschäft. Ein mobiles E-Learning-Portal kann sinnvoll sein, ein virtueller Museumsführer oder ein Kulturprogrammplaner für das Wochenende. Das hängt ganz stark ab von der Nutzungssituation und von der Frage: Was kann mein Leser von seiner vertrauten Zeitung zusätzlich erwarten? Wie kann man ihm im täglichen Leben helfen?

Welche Möglichkeiten bietet das iPad für das journalistische Storytelling?

Das ist ein brutaler Sprung für die Zeitungsverlage, weil wir hier ein extrem visuelles, fast haptisches Erlebnis für Inhalte bereitstellen können, wenn wir anfangen über Text und Bild hinauszudenken. Die Magazinverlage liegen schon durch ihre Taktung näher am visuellen Erzählen, aber da müssen die Zeitungsverlage langfristig auch hin: Wir brauchen die Einbindung von Video, von animierten Infografiken, von verschiedenen Arten von Bilddarstellungen. Der Journalist wird dadurch zum optischen Dramaturgen, der versucht, mit seinem inhaltlichen Know-How eine Geschichte anders zu erzählen. Da entstehen viele neue Formen des Storytellings, die wir heute zwar in Print haben, aber nicht mit dieser Opulenz wie auf dem neuen Device.

Was macht denn das journalistische Wesen des iPads aus? Ist es vor allem die Opulenz in der Darstellung oder auch die Endlichkeit? Das vermittelte Gefühl, dass man wie in Print – und anders als im Internet – eine Applikation „leerlesen“ kann?

Jeder weiß, dass man sich im Internet schnell verliert. Bei manchen Konzepten für das iPad können wir nun wieder ein abgeschlossenes Leseerlebnis schaffen, wobei man das nicht übertreiben darf. Es bringt nichts, wenn man inaktuelle Ausgaben hat, nur weil man sich entschieden hat, dass es eine Ausgabe der Zeitung gibt und dann keine Updates mehr. Da muss man eine schlaue Mischung finden. Es macht keinen Sinn, nach dem Rücktritt von Köhler einen Text über die Karriere und die Fehler des Bundespräsidenten zu haben, der aber nicht erwähnt, das er inzwischen zurückgetreten ist.

Sollten Medienmacher Anleihen nehmen bei Computerspiele-Entwicklern? Die besten von ihnen schaffen es, nicht-lineare Erzählstränge mit vielfältigen multimedialen Elementen so fesselnd zu kombinieren, dass die Nutzer die Anwendung stundenlang nicht verlassen.

Ja, zum Beispiel beim nicht-linearen Storytelling. Ich habe dabei die Möglichkeit, mich in andere Bestandteile einer Story zu vertiefen als ursprünglich vom Autor vorgesehen. Das ist ein typisches Stilmittel des Computerspiels und mit Sicherheit auch ein Stilmitttel des hybriden Storyttellings auf dem iPad.

Was bedeutet das?

Wir können mit verschiedenen Medienformaten arbeiten und verschiedene Storylines entwickeln. Eine andere Überlegung wäre, Schüler wieder einzubinden. Wir können zum Beispiel nach Geschichten einen Multiple Choice Test einbauen, wo abgefragt wird, was sie davon verstanden haben. Die Antworten kann man dann nochmal konzentriert in einem Ranking der besten Schülerleistungen abbilden.

Was halten Sie vom Projekt „The Cartoonist“, das im Juni bei der Knight News Challenge ausgezeichnet wurde? Eine Software, die Redakteuren hilft, politische Karikaturen in interaktive politische Computerspiele zu verwandeln?

Das ist ein lustiges Beispiel, weil es zeigt, dass wir in den Verlagen bei der Strategie, wer in Zukunft helfen wird, Geschichten spannender zu erzählen, nochmal neu nachdenken müssen. Wir haben in den Verlagen alle Blattmacher rausgekegelt, da gibt es nicht mehr so viele. Diese Menschen, die spielerischer mit Themen umgehen und sich überlegen, was denn ein anderer Weg wäre etwas zu erzählen, die müssen jetzt verstärkt wieder hinein in die Verlage. Wie übrigens auch Designer. Es gibt ja kaum mehr Designer im deutschen Zeitungsgewerbe.

Wie sollten Verlage, die mit Applikationen Geld verdienen wollen, mit dem Umstand umgehen, dass frei verfügbare Inhalte im Internet – auch ihre eigenen Angebote – auf dem iPad immer nur einen Fingerdruck entfernt sind?

Das ist eine Frage der Paid-Content-Strategie des Verlags. Gelingt es ihm, bestimmte Inhalte wieder kostenpflichtig zu machen auf diesem Device? Dann ist das natürlich eine Strategie, die auch Auswirkungen auf das Webangebot hat. Ich muss dann bestimmte Inhalte hinter eine Paywall stellen und mit einem Freemium-Ansatz zeigen, dass sich dahinter noch sehr viel mehr interessante Inhalte verbergen. Die bekommt man aber erst im Abo, egal ob in Print oder digital. Das Zusammenspiel zwischen der gedruckten Zeitung, der iPad-App und dem Web wird auch ganz stark davon diktiert, wie überhaupt die Strategie des Verlags aussieht. Kosten die Inhalte künftig wieder Geld oder nicht? Wenn man jetzt die ersten Apps sieht, die auf klassischen Newsfeeds basieren, die es bereits im Internet gibt, dann macht das oft überhaupt keinen Sinn. Sinnvoll wird es erst, wenn ich als Nutzer das Gefühl habe, mit dieser App bekomme ich Dinge, die ich sonst gar nicht bekomme.

Welche Anwendungen von Medienhäusern nutzen die Möglichkeiten, die das iPad bietet, schon heute gut aus oder weisen zumindest in die richtige Richtung?

Ich finde sehr sauber, was das „Wall Street Journal“ macht, es hat von Anfang an geschafft, klarzumachen, dass seine Inhalte Geld kosten. Es ist auch aus Sicht des Marketing und der Positionierung gut gemacht. Man hat sofort das Gefühl im „Wall Street Journal“ zu sein. Den „Spiegel“ wiederum muss man gelesen haben. Der macht es richtig und sagt von Anfang an, es gibt es keinen Apetizer, das Ding kostet soviel wie das Heft.

Also finden Sie die Preisgestaltung korrekt?

Erstmal ja, weil runter geht’s immer. Der Preis hat auf dieser Plattform am Anfang eher etwas mit Marketing zu tun: Was können sich die Leute leisten? Zur Zeit besitzen die Early Adoptors iPads, die sind nicht arm. 1,99 Euro von Anfang an für die App wäre gerade für eine Premiummarke wie den „Spiegel“ schädlich. Man muss überlegen, wo platziere ich die „Spiegel“ App? Ist sie ein Nebenprodukt des gedruckten „Spiegel“ und kostet deswegen viel weniger oder sagt man, sie ist mindestens soviel wert wie der gedruckte „Spiegel“?.

Wie finden Sie die „Wired“ App und den „Iconist“?

Den „Iconist“ finde ich hübsch gemacht, ich frage mich nur, ob etwas, was vorher eine Werbebeilage war, plötzlich eine publizistische Marke wird. Das wird sich herausstellen. „Wired“ ist toll gemacht. Ist natürlich totale Printdenke, aber es macht Spass, das Ding zu lesen und der Erfolg ist ein guter Gradmesser dafür, welche Dinge funktionieren und welche nicht. Und wenn die „Wired“ App in ihrer Erstauflage die Kioskauflage überflügelt, dann haben die Jungs zumindest einiges richtig gemacht. Wir sind ja noch in der Pionierphase. Jeder probiert etwas. Die einen werfen für 5000 Euro bloß umgebaute RSS-Reader aus dem Internet auf den App-Markt und schauen, was damit passiert, und „Wired“ ist technologisch weit vorne. Man muss einfach experimentieren: Nicht mal die Frage, ob das iPad künftig eher im Querformat oder im Hochformat benutzt wird, konnten wir bisher beantworten. Es gibt niemanden, der einen roten Faden zeigen kann: So sieht eine saubere iPad Strategie aus. Es gibt ihn einfach noch nicht.

Dann macht es also Springer genau richtig mit seiner Strategie, möglichst früh dabei zu sein und möglichst viel auszuprobieren?

Springer macht das richtig, ja. Springer macht auch folgendes richtig: Wir dürfen nicht wieder den Fehler machen, den wir wie beim Internet gemacht haben, zu sagen: Wir brauchen vor allem Eyeballs, Leute die uns lesen, und das mit der Refinanzierung wird sich schon irgendwie ergeben. Das iPad ist die perfekte Kommerzmaschine. Es ist unverantwortlich einfach, Geld auf dem Ding auszugeben. Das unterscheidet es radikal vom Internet.

Aber gekauft werden kann nur über iTunes. Am liebsten wäre den Verlagen ja ein weiteres System, bei dem sie selbst die Hoheit über die Inhalte und die Kundenbeziehungen haben…

Na klar, aber in Deutschland wird immer gerne erst über die Infrastruktur und dann über die Produkte gesprochen. Zur Zeit sind wir aber noch in der Produktphase. Was wird denn überhaupt gelesen, was ist interessant? Wofür würden Leser Zeit und/oder Geld ausgeben? Die Infrastrukturfrage ist extrem wichtig, weil sonst Kundenbeziehungen flöten gehen, aber ich gehe fest davon aus, dass das ein lösbares Problem ist. Das viel größere Problem ist, dass viele Verlage denken, wir haben schon Content, den knallen wir einfach rein und machen noch ein bisschen Video dazu. Das wird auf Dauer aus unserer Sicht nicht reichen.

Also müssten die Verlage einen Stapel iPads kaufen, an die Redakteure verteilen und ihnen sagen, beschäftigt Euch damit?

Einige machen das. Und das ist sicher der beste Weg. So ein Verlag ist ja kein unkreatives Gebilde. Viele Produkte entstehen eben nicht in der Strategieberatung, sondern durch Journalisten.

Zur Person:
Lukas Kircher ist Mitgründer und Co-Chef der Berliner Medienagentur KircherBurkhardt,
spezialisiert auf Medien-Design, Corporate Publishing, Infografi k und Marketing-
Kommunikation. Er ist zudem Vorstand für Digitale Medien beim Forum Corporate Publishing,
Mitglied des ADC Deutschland sowie der Jury der „Lead Awards“.

Foto: KircherBurkhard