„Ein lautloser Skandal“

Thema Migration und Bildung: Ein Kommentar von  Miltiadias Oulios  zur Berichterstattung über einen gesellschaftlichen Misstand.

Miltiadis Oulios
Miltiadis Oulios

Im Zuge der Sarrazin-Debatte wurde in den meinungsbildenden Formaten der deutschen Massenmedien Einwanderung zum wiederholten Mal als Bedrohung thematisiert – und zwar breit und lang. Eine Breite und Länge, die einem anderen Thema in denselben Formaten nicht zuteil wurde: die institutionelle Diskriminierung im deutschen Schulwesen. Sie ist ein lautloser, alltäglicher Skandal, der bislang in unserer öffentlichen Debatte auffällig unterbelichtet bleibt. Ein gesellschaftlicher Missstand, der höchstens zu einem Beitrag taugt, aber nicht zum Top-Thema, das in gebührender Ausführlichkeit behandelt und überhaupt erst einmal beim Namen genannt wird. Wenn es ein „Versagen der Medien“ gibt, dann liegt es eben nicht darin, sich dem Thema „Deutschland schafft sich ab“ zu widmen, sondern sich dem Thema „Rassismus im Schulsystem“ nicht in derselben Weise zu widmen.

Chancengleichheit – eine Utopie

Kinder aus Einwanderer- und Arbeiterfamilien werden in Deutschland nämlich trotz guter Leistungen oft auf Haupt- und Sonderschulen geschickt, die ihre Chancen auf ein erfolgreiches Leben deutlich mindern. Die Pisa-Studie 2010 belegt erneut, dass Einwandererkinder bei vergleichbarer Leistung eine fünfmal (!) geringere Chance haben, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten, als Kinder aus deutschen Familien. Ein Beispiel, das ich für einen Radio-Bericht recherchiert habe: Sara Pias aus Wuppertal ist heute 20 Jahre alt und studiert in Bonn. Sie ist Tochter einer italienischen Arbeiterfamilie aus Wuppertal. Nach der Grundschule wurde ihr die Hauptschule empfohlen. Es brauchte drei Schulwechsel, bis Sara schließlich doch das Abitur machte. Diese Hartnäckigkeit besitzen nicht alle Schüler und auch nicht alle Eltern. Saras Fall ist einer von ganz vielen – sie kommen auch heute regelmäßig vor und sie gehören als Schwerpunkt-Thema in die Prime-Time.

Denn schließlich kritisieren selbst die Vereinten Nationen Deutschland seit einigen Jahren für die systematische Benachteiligung aufgrund der frühen Selektion. Hier werde ein Menschenrecht verletzt – das Recht auf Bildung. Dabei handelt es sich auch nicht um ein Minderheitenthema. Erstens besitzt fast jeder dritte Jugendliche in Deutschland heutzutage einen Migrationshintergrund. Und zweitens geht die Leistungsgerechtigkeit des Schulsystems die ganze Gesellschaft etwas an. Umso unverständlicher ist es, dass darüber in Deutschland nicht angemessener berichtet wird. Auch nach den Ergebnissen des jüngsten PISA-Tests ging es in der Berichterstattung eher um das Aufholen in einzelnen Kompetenzen und nicht um die strukturelle Benachteiligung.

Diskriminierungs-Debatte hat in Deutschland keine Tradition

Die Fakten dazu gibt es ja schon lange: Bildungsforscher wie Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke haben vielfach nachgewiesen, dass die Diskriminierung Teil des derzeitigen Schulsystems ist. Lehrkräfte, die sich dem entgegen stellen, bekommen Probleme. So wurde zum Beispiel die bayerische Grundschullehrerin Sabine Czerny strafversetzt, weil ihre Schüler zu gut in Mathematik waren und zu wenige an die Hauptschule empfohlen werden konnten.

Viele tun sich tatsächlich schwer, den Begriff der Diskriminierung im Zusammenhang mit dem Schulsystem zu verwenden, was verständlich ist, da es dafür in Deutschland keine Tradition gibt. Allerdings müssen wir zu Kenntnis nehmen, „dass eine wichtige Tendenz der jüngeren Menschenrechtsdebatte in der Erweiterung der Perspektive von formaler Gleichberechtigung zu materieller de-facto-Gleichberechtigung liegt“, so Mechtild Gomolla. Schließlich ahnden auch die Antidiskriminierungsrichtlinien der Europäischen Union und das 2006 verabschiedete deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz neben der direkten Diskriminierung auch Formen der indirekten Diskriminierung, das heißt „wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer ethnischen Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können“.

Im Jahr 2010 hat demgegenüber kein einziges der politischen Talk-TV-Magazine die beschriebene Diskriminierung im Schulsystem zum Thema gemacht. Wie ist das zu erklären? Gleichwohl stand das Thema „Integrationsverweigerer“ mehrfach im Fokus, ebenso wie Sendungen zur Frage, wie viele Einwanderer respektive „Islam“ Deutschland vertrage. War Bildung das Thema, wurde gefragt, ob die Jugend „dumm“ (Maybrit Illner) oder „zu doof“ (Anne Will) sei. Gerade bei den meinungsbildenden Leitsendungen ist diese Einseitigkeit bei der Themensetzung schwer hinzunehmen. Hier ist schlicht mehr journalistische Ausgewogenheit gefragt.

Text: Miltiadis Oulios, 37, arbeitet als freier Journalist für den WDR Hörfunk und diverse Printmedein (stadtrevue, Zeit, taz) und ist Mitglied der Neuen Deutschen Medienmacher (siehe dazu auch mediummagazin 3-2011, Seite 26f)