„Öfter sagen: Ich weiß es nicht“

Und acht andere gute Vorsätze für den Journalismus des 21. Jahrhunderts. Von Jochen Wegner

„Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

ich freue mich wirklich sehr über die Wahl zum ‚Chefredakteur des Jahres‘ – vielen Dank!

Der Job eines Chefredakteurs besteht im Wesentlichen darin, möglichst viele grandiose Kolleginnen und Kollegen zu gewinnen und ihnen bei der Arbeit dann nicht im Weg herumzustehen. Deshalb bedanke ich mich bei einfach allen, die für ‚Zeit Online‘ arbeiten – es ist ihre Auszeichnung.

Von Online-Journalisten wird bei feierlichen Gelegenheiten meist erwartet, dass sie noch etwas Schwerwiegendes zur Zukunft der Medien sagen. Mir ist leider inzwischen aufgefallen, dass meine Prognosen selten zutreffen.

Ich habe deshalb für das Jahr 2017 den guten Vorsatz gefasst, das anders zu machen. Sowie eine Reihe weiterer guter Vorsätze.

In den verbleibenden viereinhalb Minuten würde ich gerne meine neun guten Vorsätze für den Journalismus des 21. Jahrhunderts mit Ihnen teilen.

Jochen Wegner, Chefredakteur des Jahres 2016 (Foto: Wolfgang Borrs)

 

1. Öfter sagen: Ich weiß es nicht.

Es wird uns in Zukunft gut tun, laut zu sagen, was wir nicht wissen – wie unsicher Wahlprognosen sind, wie unscharf noch so kluge politische Analysen zwangsläufig sein müssen, wo die Grenzen unserer Recherchen liegen, wie wir selbst täglich zweifeln.
Ich jedenfalls will jetzt jeden Morgen Sätze wie diese üben: ‚Ich weiß nicht, wie die Bundestagswahl ausfallen wird.‘ – ‚Ich kenne die Zukunft Europas nicht.‘ – ‚Ich bin mir nicht sicher, was Trump vorhat.‘ – ‚Ich bin mir nicht sicher, ob Trump weiß, was er vorhat.‘

2. Unsere Nichtleser ernst nehmen

Wenn uns Brexit und Trump noch etwas gelehrt haben, dann, dass Medien das Gefühl für die Hälfte eines ganzen Landes verlieren können.
Wir müssen uns zu jenen begeben, die wir selten wahrnehmen und die uns deshalb nicht wahrnehmen.
Wir müssen zu den Leuten außerhalb Berlins oder Münchens gehen, außerhalb der Studenten-WGs und Ortsvereine, außerhalb der Milieus, die klassische Medien konsumieren.
Wenn Sie das schon immer konsequent getan haben, arbeiten Sie wahrscheinlich im Lokaljournalismus.
Ich nehme mir vor, guten Lokaljournalismus auszubauen. Deswegen beginnen wir bei ‚Zeit Online‘ morgen mit #D17.

3. Unsere Leser ernst nehmen

Es ist traurig, dass man das im 21. Jahrhundert noch betonen muss: Unsere Leser ernst zu nehmen heißt auch, ihnen die Möglichkeit einzuräumen, uns direkt Feedback zu geben.
Das funktioniert ganz sicher nicht, indem wir die Leserkommentare abschalten, so wie einige Leitmedien, die ich verehre.
Ich nehme mir vor, unsere Community weiter auszubauen und den digitalen Diskurs nicht an Facebook zu delegieren.

4. Echten Dialog ermöglichen

Wenn wir gerade etwas gelernt haben, dann, dass es nicht reicht, immer nur über die Welt zu berichten und sich im Internet auszutauschen.
Wir müssen eine Gesellschaft, die nicht mehr miteinander spricht, wieder ins Gespräch bringen. Niemand ist dafür besser geeignet als Medien.
Mein Vorsatz für 2017 ist es, direkten Dialog zu ermöglichen: von realen Menschen, die sonst nicht miteinander sprechen, an echten Orten, nicht nur im Netz. (Mit unserem Festival Z2X haben wir schon einen solchen Ort geschaffen, einige weitere Initiativen werden folgen.)

5. Kein Aktivismus

Es ist übrigens nicht unser Job, Donald Trump zu verhindern, die AfD oder das Zerbrechen Europas. Unser Job ist seit jeher:

6. Aufklären

Also, Menschen so gut zu informieren, dass sie die Folgen ihres Handels verstehen. Soweit wir diese Folgen selbst verstehen können, siehe oben.
Es ist auch unser Job, alles dafür zu tun, dass sie diese Informationen erreichen. Ich nehme mir vor, die filter bubble immer wieder anzupiksen.

7. Die Wahrheit sagen

Wenn wir gerade etwas gelernt haben, dann, dass wir gelegentlich laut und vernehmlich schweigen sollten, bis wir etwas wissen.
Es reicht nicht aus, die Twitterstürme eines US-Präsidenten abzubilden. Wir sollten ihren Wahrheitsgehalt geprüft haben, bevor wir sie vermelden, eingebettet in Kontext.
Wenn wir uns nur auf Faktenhuberei konzentrieren, greifen wir dennoch zu kurz. So wird es auch nicht reichen, Fake News zu korrigieren oder herauszufiltern, auch, wenn ich die vielen Initiativen dazu gut finde, bei einigen davon sind wir dabei.
Denn es geht bei Propaganda letztlich nicht darum, Lügen zu verbreiten, sondern Gefühle.
Es geht nicht darum, am Ende Recht zu haben, sondern die gefühlte Wahrheit, das Sentiment, die Stimmung in einer Gesellschaft zu beeinflussen.

8. Selbsterklärend werden

Die wachsende Kritik an der Arbeit von Journalisten hat etwas Gutes – zum ersten Mal interessieren sich viele Menschen aufrichtig dafür, wie wir arbeiten.
Wir können unserem Journalismus deshalb eine Art Anleitung mitgeben, die erläutert, wie er funktioniert.  (Bei ‚Zeit Online‘ etwa haben wir ein neues Transparenzblog namens Glashaus – und machen damit sehr gute Erfahrungen.)
Uns zu erklären, reicht aber nicht. Wir müssen unseren Journalismus noch viel einfacher zugänglich machen und damit selbsterklärend, sodass keine Anleitung mehr nötig ist. Denken Sie daran, wie einfach es ist, zu googlen.

Für 2017 habe ich den Vorsatz, die erste Version eines einfachen, selbsterklärenden Journalismus zu entwickeln.

9. Uns wichtig nehmen

So schlimm die Zeiten auch sind, in denen eine große Lage auf die nächste folgt, ein Brexit auf den nächsten Anschlag, ein Tweet von Donald Trump auf – den nächsten Tweet von Donald Trump: Diese Zeiten sind gut für den Journalismus.
Es gibt nicht nur Verunsicherung in der Welt, sondern bei vielen von uns auch eine neue Sicherheit, dass wir einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten können.
Mir ist klar, dass einige von uns das Gefühl der eigenen Wichtigkeit nie verlassen hat. Viele andere aber haben an ihrem Beruf gezweifelt, so auch ich. Es ist wieder eine große Freude, Journalist zu sein.
Besonders dann, wenn man das Privileg hat, in einem Verlag zu arbeiten, der nicht Stellen abbaut und in Selbstfindungskrisen gefangen ist, sondern der verrückterweise immer wieder in Journalismus investiert und in Experimente mit ungewissem Ausgang.

Deshalb danke ich als Journalist am Schluss ganz ausnahmsweise den verrückten Leuten, die uns das ermöglichen: unseren Geschäftsführern und Verlegern. Danke.“

 

Diese Dankesrede hielt „Zeit Online“-Chefredakteur Jochen Wegner bei der Preisverleihung für die „Journalisten des Jahres 2016“ am 7.2.2017 in Berlin.