Juliane Schiemenz: Heilige Zeilen

Jeder Mensch trägt eine Reportage in sich, sagt Juliane Schiemenz, Redakteurin bei „Reportagen“. Über eine Reporterin, die ihren sozialen Aufstieg der Sprache verdankt. Aus unserer Serie „Mein Beat“. 

Text: Ariel Hauptmeier

Nein, kommt nicht oft vor: dass man eine Journalistin interviewt und diese plötzlich Gedichtzeilen zitiert. Ist jetzt aber vorgekommen, beim Interview mit Juliane Schiemenz, als es darum ging, wie sie, Tochter eines Lkw-Fahrers aus Hoyerswerda, also gleich dreifach unterprivilegiert – Frau, Ostdeutsche, Arbeiterkind –, es auf die höchsten Grate des Reportageschreibens geschafft hat. Preise hat sie gewonnen, veröffentlicht Essays in der „Zeit“ und ist Redakteurin bei „Reportagen“, schreibt über Bäume, Friedhöfe, Menschen, leise, präzise, nachdenklich. 

Schon als Kind, sagt die 1981 geborene Schiemenz also, habe sie gelesen, gelesen und gelesen. „Mit 14 bin ich auf einen Gedichtband von Peter Rühmkorf gestoßen, habe ihn wie eine Bibel mit mir herumgetragen und konnte ihn recht schnell auswendig.“ Und zitiert: 

„Eh sich die Welt zur Nachwelt verdüstert,
sieh sie dir an! 

Sieh sie dir an, aus wieviel Kriställchen 

Sich im Jahrtausend ein Gletscher erbaut.“

„Ich will eine Sprache entwickeln, die alle erreichen kann, die allen Spaß macht“, sagt Juliane Schiemenz. (Foto: Amac Garbe)

Unglaubliche Zeilen, fand sie damals, findet sie bis heute, ein unglaublicher Vorgang: dass sich jemand die Welt so präzise anschaut und dann Sätze schreibt, die Bilder erzeugen, ein Gefühl, einen Geschmack. Sprache wie Nahrungsaufnahme, „in mir entsteht dieses Bild, eine Welt fließt in mich hinein und verschmilzt mit meiner“. Und zitiert jene Zeilen von Peter Rühmkorf, die sie bis heute im Ohr hat, heilige Zeilen, wie sie wohl jeder Autor im Kopf und im Körper trägt, die den eigenen Sätzen Rhythmus und Richtung geben: 

„Hör auf dein Herz und an ihm vertraue 

Unwiderrufliches, eh es entfällt: 

Diese vorüberrauschende blaue 

einzige Welt.“

Hoyerswerda also. Nein, nicht im Plattenbau, sondern in der Altstadt wuchs sie auf und ganz wichtig war ihr Vater. Der Buchstabengirlanden aufhängte, damit sie früh lesen lernte, das Lexikon rausholte, wenn eine Frage aufkam, mit ihr über Politik diskutierte, auch wenn er „Bild“ las, der sie ermutigte, Journalistin zu werden. Ein Vater, der Jahre später vom Tisch aufsprang, als sie ihm einen Text über ihren Lieblingsplatz hinlegte, die Gartenlaube, weil er nicht wollte, dass sie seine Tränen sah. Ein Vater, der später dement wurde und über den sie 2014 einen berührenden Text schrieb, „Alzheimer on the Road“, der Preise gewann und viele bewegte.

„Mein Knoten als Journalistin ist mit diesem Text geplatzt“, sagt Schiemenz. Es war ein Text, den sie einfach machen musste und ihren Kollegen erst zeigte, als er fertig war. Der, welch bittere Ironie, um jenen Menschen kreiste, der sie zum Schreiben gebracht hatte und nun nicht mehr miterleben konnte, wie gut sie schrieb. 

Direkt, fast brutal der Einstieg: ein Affront gegen Honig-im-Kopf-Kuscheligkeit. Nein, der Alltag ist hart und hässlich und ein Schmerz, und so begann sie: „Ach Vati, warum musstest du auch in den Flur pissen.“ 

Das ist immer so: Zuerst ist da ein Satz, ein Eindruck, eine Beobachtung, ein Bild, sie umkreist und ergründet es, ein Samenkorn, aus dem die Geschichte wächst. „Auf der Warschauer Straße, im Strom von Pennern und Dealern, Hipstern und Touristen steht er, der härteste Baum von Berlin“, beginnt ihr Stück über einen Kirschbaum in Friedrichshain. 


Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 01/23. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk

 

 

 


„Mich fasziniert das Große im Kleinen“, sagt Schiemenz, „ein großes Politikerporträt interessiert mich nicht so sehr wie das Porträt über einen Hausmeister oder den Menschen, der bei Aldi an der Kasse sitzt. Jeder hat spannende Geschichten zu erzählen, ist Held seines eigenen Lebens.“ Und schiebt, fast schon programmatisch, hinterher: „Jeder Mensch trägt eine Reportage in sich.“ 

Hoyerswerda – erstaunlich, sagt Schiemenz, welch stereotype Bilder dieses Wort hervorrufe: Plattenbau, rechtsradikal, vollgepisste Jogginghose, „du ahnst nicht, was man da zu hören bekommt“. Natürlich hält sie dann dagegen, will andererseits aber auch nicht wie die PR-Tante der Stadt klingen und sagt darum lieber, wenn sie keinen Bock hat auf die immer gleiche Diskussion: Ich komme aus Dresden. 

Schon immer hatte sie ein feines Ohr für die Herabsetzungen, Respektlosigkeiten und Beleidigungen, die sie im westdeutsch geprägten Journalismus zu hören bekam. Als ihr ein FAZ-Redakteur mal sagte, als Frau aus Ostdeutschland werde sie es bei dem Blatt schwer haben. Als sie einen Text über die Rallye Dresden-Banjul anbot und hörte, wenn die doch nur in Frankfurt, Hamburg oder München starte. Als jemand bemerkte, sich unter Westdeutschen wähnend: Man wisse ja, wie die Ostdeutschen arbeiten. 

„Ab und an, wenn ich neben einem westdeutschen Kollegen aus einem Akademikerhaushalt saß, dachte ich über meinen Weg an diesen Tisch nach, der so viel länger und beschwerlicher war als seiner“, sagt Schiemenz. „Und frage mich, ob er das verstehen und wertschätzen könnte.“ 

In dieser Serie stellt Autor Ariel Hauptmeier Reporterinnen und Rechercheure vor, die uns inspirieren. Die nicht ständig auf Podien sitzen, aber mit Akribie und Leidenschaft ihr Ding machen. Weil sie sich mit Energie und Handwerk ihren Weg bahnen, um ihrem Herzensprojekt nachzugehen – ihrem ganz eigenen „Beat“.

Wobei, witzig dann auch wieder die erboste Leserinnen-Mail, als sie in der „Zeit“ über die Jugendweihe geschrieben hatte und nun zu hören bekam: typisch westdeutsche Journalistin, keine Ahnung und dann einfach mal so ostdeutsche Traditionen diskreditieren. 

Nach dem Abitur: Ein Germanistik-Studium in Dresden, der Besuch der Deutschen Journalistenschule in München, freie Mitarbeit bei der „Zeit für Sachsen“, wo sie auf Stefan Schirmer traf, damals Büroleiter. Komplett rot kamen ihre Texte zurück, einmal rief er an, er habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Ihr Text habe keinen Anfang, keine Mitte, kein Ende. Die gute: Wir kriegen das hin. „Was ich dem verdanke“, sagt Juliane Schiemenz, „was der sich immer wieder Zeit genommen hat. Das sind die Leute, die man treffen muss.“ 

Bald darauf ihr Traumjob bei „Reportagen“, jenem Magazin, das sechs Mal im Jahr die ganz feinen Longreads über die Welt da draußen bringt, wieder förderte sie ihr Chef, Daniel Puntas-Bernet, Freigeist und kreativer Anstachler nicht nur für sie. Unter den Autoren: ein gewisser Claas Relotius. Und dann geschah etwas Außerordentliches, mit dem sich Schiemenz bis heute aber niemals brüsten würde: Sie glaubte Relotius nicht. Wenn das alles wahr sei, was der erlebt zu haben vorgab, wenn jemand beharrlich solches Reporterglück habe, müsse er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben.

Daniel Puntas-Bernet erinnert sich gut daran. „Bei einer Reportage aus der Ukra-ine von Claas Relotius, die bei uns 2016 erschienen ist, meinte Juliane, etwas mache sie stutzig“, sagt er. „Die Geschichte, der Stil erschien ihr zu perfekt. Heute sind wir alle schlauer.“ 

Und lobt, wie beharrlich sie um jeden Satz ringt. „Sie will stets das Beste für den Text, verschönert ihn mit ihrer Arbeit und stellt sich in den Dienst der Autorin oder des Autors.“ 

„Mein Weg war nur durch Sprache möglich“, sagt Juliane Schiemenz. „Sprache war für mich der Hebel aus der Arbeiterklasse ins Bildungsbürgertum. Mein Ziel war immer, Artikel in der ,Zeit‘, SZ oder FAZ zu veröffentlichen, jenen Publikationen, zu denen ich damals aufblickte und die in meinem Elternhaus nicht gelesen wurden. Ich wollte genau in diesen Medien Artikel veröffentlichen, die dann sowohl mein Vater, ein Lkw-Fahrer, gerne gelesen, verstanden und genossen hätte als auch jemand, der Abitur hat und studiert hat. Eine Sprache zu entwickeln, die alle erreichen kann, die allen Spaß macht, die Geschichten zu allen Menschen transportieren kann, das fand ich eine tolle Herausforderung. Finde ich noch immer.“

Sätze, die auch vom sächsischen Dramatiker Heiner Müller inspiriert sind, ihrem Säulenheiligen während des Studiums. Einer, der alles Unnötige weglässt und in einem Satz vom antiken Mythos zum Mercedesstern springen kann, Sätze schreibt, „die in mich hinein explodieren“. Wie diese: 

„Nachts beim Schwimmen über 

den See der Augenblick /

Der dich in Frage stellt. 

Es gibt keinen anderen mehr /

Endlich die Wahrheit. 

Daß du nur ein Zitat bist /

Aus einem Buch das du 

nicht geschrieben hast /

Dagegen kannst du lange 

anschreiben auf dein /

Ausbleichendes Farbband. 

Der Text schlägt durch.“