Lehrreiche Reportagen
Wir haben die Leiter der Journalistenschulen gefragt, welche Reportagen sie jungen Journalisten als Lektüre empfehlen. Die meisten sind im Folgenden verlinkt:
Ulrich Brenner, Deutsche Journalistenschule
Ich empfehle keine einzelnen Geschichten, sondern Reportage-Sammlungen: die Henri Nannen Preis-Bände der vergangenen Jahre (die einzelnen Geschichten finden sind frei zugänglich), die Hansel-Mieth-Preis-Bände der vergangenen Jahre, die Sammlung der „großen Reportagen eines legendären Journalisten“: „Hans Ulrich Kempski berichtet“, erschienen in der SZ-Edition. Oder P. J. O’Rourkys „Reisen in die Hölle“ (Eichborn Verlag).
Es gibt kein allgemein gültiges Man-nehme-Rezept für eine gute Reportage. Jeder Autor (und jede Autorin) muss herausfinden, was für ihn persönlich die optimale Rezeptur ist. Das gelingt am besten, wenn man viele Reportagen liest, die Machart vergleicht und schließlich zu dem Schluss kommt: Das passt zu mir, so will ich das auch versuchen.
Annette Hillebrand, Akademie für Publizistik:
- Des Themas wegen: „Hoffmanns Blick auf die Welt“ , die Geschichte eines Flaschensammlers. Henning Sußebach (im Interview mit medium magazin) zeigt an einem ganz unspektakulären Thema viele Reportertugenden: genauer Blick, Sorgfalt, Hartnäckigkeit, Taktgefühl, Menschenkenntnis. (ZEIT, November 2006).
- Zur Debatte um das „Reporter-Ich“: „Herr Hronowski und ich“. Katharina Bader zeigt, dass ein Text viel „Ich“ verträgt. Beispielhaft zu studieren an der Geschichte, die sie über ihre Freundschaft mit dem Auschwitz-Überlebenden Jurek erzählt.(SZ, Januar 2007).
- Zur Debatte um Porträt vs. Reportage: immer wieder Texte von Holger Gertz und Evelyn Roll. Weil beide so menschenkluge und meisterhaft komponierte Personenreportagen schreiben. Und weil beide beispielhaft Haltung und Rolle des Reporters in ihren Texten reflektieren – zum großen Gewinn für die LeserInnen.
Philipp Maußhardt, Zeitenspiegel Reportageschule
Reportage 1: „Und hatten den Tod an Bord“, (auch nachzulesen im Zeitenspiegel-Magazin 2011, s.124) Reportage in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 10. April 2011, von Holger Fröhlich. Fröhlich rekonstruiert die tragisch endende Schiffsreise eine Gruppe junger Idealisten, die mit einem untauglichen Segelschiff nach Südamerika aufbrachen und dabei ertranken. Spannend geschrieben, gut recherchiert. Der Autor gibt allerdings nicht zu erkennen, dass er für diesen Text kiloweise Akten der Ermittlungs- und Schifffahrtsbehörden studierte und die einzige Überlebende interviewte.
Reportage 2: „Die Hundegrenze“, Reportage im „Spiegel“ Heft 6/1994, Autorin Marie-Luise Scherer. Scherer beschreibt die Beschaffung und Haltung von Wachhunden in der DDR für die innerdeutsche Grenze. Auszug: „Nach dem scharfen Milchgeruch des Vorraumes, wo die Arbeitskleider des Melkers hingen, empfing ihn hier das Duftgemisch eines ungleichen Feierabends. Die Frau hängte Windeln auf, während die Waschmaschine mit einer weiteren Ladung im Schleudergang hüpfte. Auf dem Tisch stand noch das Abendbrot; das Gurkenglas, die herzhaften Würste im Papier, der Kaffeebecher der Frau und die Bierflaschen des Mannes, darüber lagen die Schwaden seiner Karo-Zigaretten.“ Diese Szene spielte neun Jahre vor Erscheinen der Reportage. Obwohl die Autorin nicht dabei war, schildert sie detailgenau die Situation in einem Bauernhaus. Die Glaubwürdigkeit der Autorin lässt keinen Zweifel zu, dass es genau so gerochen und ausgesehen hat. Selbst dass es der Schleudergang und nicht der Vorwaschgang war, der damals, also fast zehn Jahre vor Befragung der Protagonisten an jenem Tag zu besagter Zeit die Waschmaschine zum Hüpfen brachte, muss Marie-Luise Scherer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit geglaubt werden.
Reportage 3: „Jimmy‘ s World“, Reportage in der „Washington Post“ vom 29. September 1980 von Janet Cooke. Die junge, ehrgeizige Reporterin hat darin eindrucksvoll szenisch rekonstruiert, wie der 8-jährige Jimmy in einem verwahrlosten Vorort Washington aufwuchs und in jungen Jahren schon zum Heroin-Dealer wurde. Die Reportage war frei erfunden.
Klaus Methfessel, Georg von Holtzbrinck-Schule:
Folgende Reportagen aus der eigenen Fabrik (zur Motivation, dass auch Wirtschaftsblättern Reportagen gut anstehen): Andreas Große Halbuer über Mumbais Elendsviertel Dharavi, den größten Slum Asiens: „Im grauen Meer“, Wirtschaftswoche Global „Indien“ (17.11.2008): ein kenntnisreicher Blick auf einen indischen Slum aus einer besonderen Perspektive, und das lange vor „Slumdog Millionaire“ – mal nicht unser Mitgefühlt mit den Armen dieser Welt, sondern umgekehrt welche wirtschaftliche Dynamik in der Schattenwirtschaft besteht.
Dieter Schnaas über das Geschäft mit dem Wunschkind: „Komfort-Kids“,Wirtschafswoche 28 vom 9.7.2007: Ebenfalls ein neuer Blickwinkel – wie der Wunsch kinderloser Paare von einer medizinischen Wachstumsbranche ausgebeutet wird, am Beispiel von drei Paaren.
Sönke Iwersen über Fall und Aufstieg des Wirtschafts-Wunderkindes
Lars Windhorst: „Der Extremist“, Handelsblatt vom 24.2.2010 (nachzulesen in der shortlist zum Henri-Nannen-Preis 2011, S.123): das wohl intimste Bild des gefallenen Wunderkindes – das Ergebnis hartnäckiger Recherche über einen Zeitraum von mehr als einem halben JahrDazu natürlich weitere von den bekannten Edelfedern bei Spiegel, Stern, SZ…
Karsten Huhn, Axel Springer Akademie: Marcus Jauer, Mitten in der Schlacht (Süddeutsche Zeitung, 24./25. März 2007).
Eine klassische Sinneszeugenschaft: Reporter Jauer schildert eine Schweineschlachtung in Brandenburg und verwebt dabei mustergültig Szenen und Dialoge mit Reflexionen über das Leben auf dem Land.
Oscar Tiefenthal, Evangelische Journalistenschule:
Es gibt in jedem Jahr gute Reportagen, die sich für den Unterricht eignen. Zwei Reportagen sind mir in den letzten Monaten besonders im Gedächtnis geblieben:
1. „Der Überfall“ von Susanne Leinemann (Zeit Magazin 49/2010), weil ihr die schwierige Gradwanderung zwischen persönlicher Betroffenheit als Opfer und journalistischer Distanz gelungen ist ohne abzustürzen. In der Geschichte geht es um einen Überfall durch Jugendliche, bei dem die Reporterin selbst schwer verletzt wurde.
2. „Müllers verdammtes Leben“ von Matthias Geyer (Der Spiegel, 49/2010), weil der Autor es schafft, in bewegender Weise das Schicksal seines Protagonisten zu schildern, ohne dessen Würde zu verletzen. Es handelt sich um die Geschichte eines Strafgefangenen, der vor der Wende noch von der DDR-Justiz wegen Mordes verurteilt wurde und seither nicht einen Tag in Freiheit gewesen ist.
Andreas Wolfers, Henri Nannen Schule:
Die Kolleginnen und Kollegen, die bei uns das Reportage-Schreiben lehren, kommen aus unterschiedlichen Print-Redaktionen – und sie alle empfehlen höchst unterschiedliche Texte. Ich selber nutze jedesmal andere, aktuelle Reportagen. Es gibt nur einen Text, den ich durchgängig empfehle: Es ist ein Essay über den Wandel der Reportage-Form, geschrieben von Hans Leyendecker anlässlich der Henri-Nannen-Preise 2010.